Verzweiflung und Sünde

Zu Sören Kierkegaards „Die Krankheit zum Tode“

Von Eckart LöhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eckart Löhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 5. Mai vor zweihundert Jahren wurde der dänische Philosoph Sören Kierkegaard geboren und das ist eine wunderbare Gelegenheit, an dieser Stelle noch einmal eines seiner faszinierendsten Bücher vorzustellen: „Die Krankheit zum Tode“.

Es gibt nicht viele philosophische Werke, von denen eine solche Faszination ausgeht, dass sie den Leser oftmals über Jahre oder auch Jahrzehnte begleiten, um ihn immer wieder aufs Neue herauszufordern und zwingen, Stellung zu beziehen.

Das 1849 erschienene Buch markiert zusammen mit seinen anderen Werken – allen voran „Entweder – Oder“ und „Der Begriff Angst“ – den Beginn einer philosophischen Richtung, die später unter der Bezeichnung Existenzphilosophie bekannt wird und deren wichtigsten Repräsentanten Jean Paul Sartre, Albert Camus, Martin Heidegger und Karl Jaspers heißen. Außer vielleicht Sartre hätten sich die Genannten allerdings vehement einer solchen Klassifizierung verweigert, völlig zu Recht. Doch ist keiner dieser Philosophen ohne die von Kierkegaard in die Philosophie eingebrachten Begriffe und Denkansätze vorstellbar.

Was aber macht den Reiz dieses Buches aus, das sich jedem eindimensionalen Zugriff verweigert und sich auch nach mehrmaliger Lektüre nicht erschöpft?

„Die anhaltende Faszination, die von K.s schwermütiger Philosophie ausgeht“, so Thomas Horst über den Philosophen, „verdankt sich der Einzigartigkeit des Versuchs, das Leiden an der eigenen melancholischen Befindlichkeit mit Einsichten in wesentliche Aspekte der menschlichen Existenz zu verbinden.“ Der Mensch als das einzig Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht (so hat es Heidegger formuliert), ist das Thema dieses großen dänischen Denkers, der aber im Gegensatz zu Heidegger keinen fundamentalontologischen Ansatz verfolgte. Lange vor Freud, dessen „Traumdeutung“ fünfundvierzig Jahre nach Kierkegaards Tod erschien, ist er wohl eher einer der ersten großen Tiefenpsychologen gewesen. Als Kierkegaard 1855 starb, war der wohl größte Psychologe innerhalb der europäischen Philosophie, Friedrich Nietzsche, gerade elf Jahre alt.

„Die Krankheit zum Tode“ ist auf den ersten Blick eine Analyse und, wenn man so will, eine Klassifikation der menschlichen Verzweiflung mit der ihr innewohnenden – durch die  Natur des analysierten „Objekts“ (der Mensch) begründeten – Dialektik und erst auf den zweiten Blick ein Versuch über die Sünde. Spätestens hier zeigt sich, dass Kierkegaard ein christlicher Denker gewesen ist und auch so verstanden werden wollte.

Für Kierkegaard ist der Mensch ein von Natur aus instabiles und damit gefährdetes Wesen. Seine Auffassung der dem Menschen eigenen Dichotomie seines Daseins zeigt sich schon in den berühmten Anfangssätzen des hier besprochenen Werkes:

„Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz, eine Synthese.“

Auf Grund dieser von Kierkegaard postulierten dichotomen bzw. – unter Hinzuziehung der Macht, die dieses Selbst nach Kierkegaard gesetzt hat (Gott) – trichotomen Struktur des menschlichen Daseins gelangt er zu drei grundsätzlichen Formen von Verzweiflung: verzweifelt man selbst sein wollen, verzweifelt nicht man selbst sein wollen, verzweifelt sich nicht bewusst zu sein, ein Selbst zu haben. Daneben gibt es nach Kierkegaard vier Formen der Verzweiflung, die nicht der Bestimmung Bewusstsein subsumiert werden können, sondern lediglich auf die Momente der Synthese reflektieren (die Verzweiflung der Unendlichkeit, die Verzweiflung der Endlichkeit, die Verzweiflung der Möglichkeit sowie die Verzweiflung der Notwendigkeit). Diese sind aber, wenn man so will, „Untergruppen“ der Verzweiflung und bilden nicht den eigentlichen Kern dieser philosophischen Untersuchung.

Diese trichotome Daseinskonzeption führt dann zur Verzweiflung, wenn die einzelnen Komponenten sich im Ungleichgewicht befinden, was grundsätzlich der Fall ist. Demnach ist Verzweiflung nicht die Ausnahme, sondern eine allgemeine Befindlichkeit der menschlichen Existenz.

Joachim Ringleben, dessen leider nur noch antiquarisch zu beziehender Kommentar zu „Die Krankheit zum Tode“ hier jedem empfohlen sei, der sich ausführlicher mit diesem Werk beschäftigen will, spricht in diesem Zusammenhang von Verzweiflung als einem „Mißlingen der Identitätsproblematik“.

Erst im letzten Teil seiner Abhandlung kommt Kierkegaard auf das zu sprechen, um was es ihm eigentlich geht: um den Begriff der Sünde. Sünde nach seiner Definition ist „vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen oder vor Gott verzweifelt man selbst sein wollen.“ Kurz: Sünde ist die Verzweiflung vor Gott. Bei Albert Camus wird das später heißen: „Das Absurde ist die Verzweiflung ohne Gott.“

Dieses Buch ist, wenn auch keine einfache Lektüre, nicht nur deshalb eine lohnende, weil es den Verstand schult, sondern auch und vor allem deshalb, da man sich während des Lesens fortwährend selbst in der Kierkegaardschen Konzeption der Verzweiflung zu verorten sucht. Somit ist die Beschäftigung mit diesem exzeptionellen Werk zugleich ein permanentes Reflektieren auf sich und führt die Leserin oder den Leser dorthin, wo es am spannendsten ist: zu sich selbst. Um das Ganze nicht zu düster enden zu lassen, zeigt uns dieser tief schürfende Autor einen Weg, der Verzweiflung zu entkommen. Welchen? Das müssen Sie selbst lesen.

Titelbild

Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. 4. Auflage.
Übersetzt und hg. von Liselotte Richter.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2002.
150 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3434460241
ISBN-13: 9783434460244

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