Wagner ganz von Innen

Trotz des lapidaren Titels „Wagner. Biographie“ ergeben Martin Gecks glänzende Essays in der Summe noch keine Biografie

Von Eva RiegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Rieger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Obwohl der Autor Martin Geck in der Studie „Wagner. Biographie“ kein in Archiven erforschtes, unbekanntes Material verwendet, sein Wissen daher nichts Unentdecktes enthält, legt er eine Untersuchung mit interessanten Einsichten und Urteilen vor. Das liegt auch daran, dass er aus einer Fülle von Literatur zu zitieren weiß und auf der Folie der Rezeptionsgeschichte eigene Thesen entwickelt.

Wohltuend hebt sich Geck von identifikatorischen Biografien wie der von Martin Gregor-Dellin ab, er ist aber auch nicht am anderen Bewertungsende zu finden, beispielsweise bei Autoren, die kaum mehr als Verachtung für ihren Protagonisten übrig haben. Mit Schilderungen zu den Lebensumständen Richard Wagners hält er sich auffällig zurück. Er begründet dies damit, dass das Wissen über Wagner nicht gesichert ist, von Wagner selbst inszeniert oder von Cosima gar verfälscht worden sei. Daher konzentriert er sich auf die Werke beziehungsweise auf das, was im Diskurs darüber zu erfahren ist. Das Wort „Biographie“ im Titel der Untersuchung ist daher mit einem Fragezeichen zu versehen, da Wagners Leben allenfalls in Verbindung mit der Entstehung der Musikwerke erwähnt wird. Gecks Stärke besteht darin, deren Handlung zu analysieren und dann zu zeigen, wie diese von Wagner in Musik umgesetzt wird, wobei er seine souveräne Übersicht über die Sekundärliteratur ausspielt. Wer aber wie Wagner lebenslang zur Selbstdarstellung strebte, konnte gar nicht anders, als aufgrund seines „sinnlich erregten Empfindungsvermögens“ die „Wirkung der empfangenen Lebenseindrücke“ auf das Werk zu projizieren, wie er in seiner „Mittheilung an meine Freunde“ ausdrücklich betont.

Der Verfasser hebt in seinem chronologischen Durchgang durch die Werke zu Recht hervor, dass Wagner in fast all seinen Äußerungen stets zuerst an die eigene Kunst denkt. 1848 erfasste ihn zwar eine Welle der Politisierung, aber die Politik war nicht sein durchgängiges Leitbild. Eher kann man von „theatralischen Urszenen“ sprechen, von immer wiederkehrenden Motiven. Aber welche sind das? Martin Geck spricht von der durchgehenden Erlösungsthematik und behauptet, dass das Motiv vom erlösenden Weib im Lauf der Jahre „immer mehr an Kraft verliert“. Es stimmt, dass im „Fliegenden Holländer“ die beiden Protagonisten nie direkt von Liebe sprechen, aber Wagner betont doch in der „Mitteilung an meine Freunde“, dass sich Senta „aus Liebe opfert“.

Dieser wichtige Hinweis fehlt hier. Überhaupt gerät die wichtige Rolle der Frau an Wagners Seite (als Partnerin, als Wunschbild, als Sujet seines Werks) ins Hintertreffen. Die verzweifelten Briefe an Minna aus der Frühzeit ihrer Beziehung, seine jahrelang anhaltende Trauer um Mathilde und sein existenzgefährdender Kummer um Cosima, als sie vor der Eheschließung verreisen musste (im Braunen Buch nachzulesen) – das alles zeigt eine tief greifende, ja obsessive Abhängigkeit von Frauen. Der erste Akt der „Walküre“ mit den an Mathilde gerichteten Abkürzungen in der Kompositionsskizze (zum Beispiel „D.b.m.a!!“ = „Du bist mir alles!!“) wäre kaum denkbar gewesen ohne sein Leben neben der Züricher Villa „auf dem grünen Hügel“, wo er bei den abendlichen Treffen der Ehepaare Wesendonck – Wagner sehnsüchtige Blicke mit ihr wechselte. Es hat daher seinen Sinn, dass er die Kürzel nur im 1. Akt anbringt und meistens dann, wenn Siegmund und Sieglinde sich anschauen. Geck interpretiert dies jedoch als Zeichen dafür, dass sein Interesse an Mathilde im Lauf der Komposition nachließ.

„Tristan und Isolde“ wird überwiegend aus dem Blickwinkel der Rezeptionsgeschichte betrachtet (es gibt 90 Fußnoten allein für dieses Kapitel), wobei die Belesenheit Gecks ein weiteres Mal zum Zuge kommt. Der Wechsel Wagners von der Verherrlichung der Liebe zur Beschreibung der Qual unerfüllten Begehrens wäre leicht zu erklären, wenn man die biografischen Bezüge hinzugezogen hätte. Der Komponist entwarf 1854 seine erste Fassung im Kopf, als er das Glück genoss, von Mathilde geliebt zu werden; zwei Jahre später war das Verhältnis eskaliert und er litt zunehmend unter der Frustration seines Begehrens. Für Geck ist die Beziehung jedoch nur eine „Schwärmerei“. Und wieso hat der „Liebestod“ nichts mit Geschlechtsliebe zu tun? Hier müsste doch der exzellente Musikkenner Geck ehrlicherweise zugeben, dass die Musik mit den aufsteigenden Wellen einen veritablen sexuellen Höhepunkt beschreibt (was denn sonst, bitteschön?) – allerdings geschickt versteckt, da Wagner von einem toten Protagonisten ausgeht. „The obsession with – yet also the recoiling from – ,voluptuous pleasures‘ is deeply embedded in Wagner’s character“, schreibt Laurence Dreyfus klarsichtig[1].

Bei den „Meistersingern“ findet Geck zwar „Chiffren des Totalitären“, die er aber nicht überbewertet wissen will. Gut nachvollziehbar ist die Nennung von zwei Ebenen, die des Lustspiels und die des Ideenkunstwerks, die Wagner sowohl den drastischen Ulk gestatteten als auch die Verwendung des kontrapunktischen Stils, um dem Werk einen überzeitlichen Charakter zu verleihen. Dass Wagners Erlebnis beim Anblick des Tizian-Gemäldes in Venedig eine „Legende, Selbststilisation des großen Theatralikers“ sein soll, leuchtet nicht ein, denn er kam zweimal später darauf zu sprechen[2]. Nimmt man Mathilde Wesendonck, die er in Venedig traf, als entschwebende Maria, wurde ihm bei der Betrachtung klar, dass er den Verzicht Hans Sachsens auf Eva dem Libretto einfügen musste, und er schreibt in „Mein Leben“: „Seit dieser Empfängnis (fühlte) ich in mir meine alte Kraft fast wie urplötzlich wieder belebt“[3]. Indem er sich mit Hans Sachs identifizierte, gelang es ihm, seine Frustration in Resignation zu verwandeln. Lässt man allerdings die biografischen Bezüge außen vor, gerinnt die Assunta-Geschichte zur reinen „Lesefrucht“.

In seiner Behandlung der „Götterdämmerung“ bezieht Geck sich hauptsächlich auf das Gespräch zwischen Hagen und Alberich. Die Interpretation des Schlusses der Tetralogie reiht sich in eine Vielzahl von Exegesen ein. Leider fehlt auch hier ein Genderblick. Indem Wagner Wotan mit den choralartigen Walhall-Posaunenmelodien musikalisch veredelt und Siegfried mit dem aufwärts steigenden Motiv der Stärke geadelt wird, bestätigt Wagner trotz des Untergangs der Götter die patriarchale Grundordnung, die für ihn als Mann des 19. Jahrhunderts außer Frage stand. Das eminent wichtige Erlösungsmotiv heftet sich an Brünnhildes Fixierung auf Siegfried (den sie rettete, indem sie Sieglinde zur Flucht verhalf) und hebt die Liebe hervor, die sie als Weib zu geben vermag. Damit ist Wagner wieder bei seinem allumfassenden Thema der Erlösung durch die Frau angekommen, zumal Wagner mehrfach aussagte, dass Brünnhilde am Schluss musikalisch verherrlicht wird. Dass ihr Kraft zufließt, wenn sie liebt, ist im 19. Jahrhundert allerdings kein Zeichen von Ichstärke, sondern im Gegenteil ein Beweis für das Aufgehen im Mann und für den Verzicht auf eine selbständige Identität. Gecks Interpretation des Schlusses ist fast nichts sagend: „Niemand kann Macht denken ohne ihr Gegenteil, hingebende Liebe, mitzudenken“.

Die Analyse des „Parsifal“ stellt eine Verbindung zwischen Wagners antisemitischen Schriften und dem Werk her, ohne letzteres zu verdammen. Geck kritisiert die Gleichsetzung von menschlicher Reinheit und sexueller Askese und spricht von der Künstlichkeit und Sterilität der Gralsrunde. Trotz der vertrackten Handlung sieht er in der Oper mit ihrer Mischung aus traditioneller und avancierter Tonsprache „ein Schwellenwerk, das unabhängig vom Autor Erfahrungen des modernen Menschen mitteilt“, und zwar aufgrund der Tatsache, dass es als eine Kunstreligion gedacht war, wobei man sich heute eher auf die Kunst stützt und weniger auf die religiösen Anteile – im 19. Jahrhundert war es umgekehrt. Geck trennt zwischen der Handlung und der Musik, der er trotz der steril-reinen Thematik Sinnlichkeit nachsagt, was allerdings bei der Handlung des 2. Akts auch geboten ist. Sein Plädoyer dafür, Kundry positiv zu sehen, wirft Fragen auf: daß sie im 1. Akt Stammellaute von sich gibt, die an vorsprachliche Äußerungen erinnern und „in tiefere Erlebnisschichten zurückreichen“, macht sie kaum zur sympathischen Gestalt.

Im abschließenden Kapitel widerspricht der Autor Carl Dahlhaus, der der absoluten Musik bescheinigte, keinen Inhalt zu haben. Für Geck geht sie jedoch „beständig mit bildlichen Vorstellungen und Gefühlen einher“, und sie schließt das Medium Oper ein. Eine unerhört wichtige Feststellung! Wenn aber Wagner das Erbe der absoluten Musik für sich beanspruchte und ihren emotionalen Gehalt übernahm, warum enthält die Studie nicht mehr semantische Deutungen der Musik, die gerade bei Wagner eigene dramatische Möglichkeiten hervorbringt? Trotz der Historizität des musikalischen Materials wird auf vieles zurückgegriffen, was nicht zuletzt die Filmmusik zeigt, die sich der emotionalen Anteile der Musiksprache bedient. Man hätte auch gern mehr zum Verwandlungspotential der Motive erfahren, die Wagner durch raffinierte Verschiebungen und Veränderungen der Handlung gemäß virtuos einsetzt, was mit der plumpen Etikettierung, die sie in der Forschung entwertet hat, nicht vergleichbar ist. Aber vielleicht ist das zu viel verlangt bei einer Studie, die alle Opern behandelt.

Kleine Fehler mindern den Gesamteindruck nicht: Cosima musste nicht „unter Eid offen legen“, während der Zeit der Empfängnis ihrer Tochter Isolde mit Wagner verkehrt zu haben, da sie bei dem Prozess gar nicht erschien (hätte sie das getan, wäre Franz W. Beidler der legitime Erbe geblieben)[4]; und „Wesendonk“ schreibt man mit „ck“.

Fazit: Das Buch liefert differenzierte musikwissenschaftliche und philosophische Erläuterungen zu Wagners Werk und bietet eine imponierende Übersicht über den Stand des Diskurses an. Damit reicht es weit über viele Arbeiten zu Wagner hinaus. Geck zeigt Wagners Schwächen. Etwa darin, wie er sich bei seiner Lektüre das herauspickte, was ihm zupass kam und alles rücksichtslos dem eigenen Schaffen unterordnete. Aber er zeigt auch seine Stärken. Nämlich darin, wie er seine Weltanschauung ästhetisierte und in ein Musiktheater überführte, das einzigartig dasteht. Lebensgeschichtliche Bezüge Wagners werden weitgehend ausgespart, obwohl dieser ein dichtes Beziehungsgeflecht zwischen sich und seinem Werk schuf. Damit gehört das Buch zur „harten“ Wissenschaft, die in der Tradition Guido Adlers das Biografische als unzuverlässige Hilfswissenschaft sieht. Dadurch wird im Subtext zwar keine Heroenbiografie perpetuiert, aber doch die Leistung derer ausgeblendet, die zum Entstehen des Werkes beitrugen. Die 16 Abbildungen Wagners, die als alleinige Illustrationen das Buch schmücken, bestätigen diesen Eindruck.

[1] Laurence Dreyfus:  Wagner and the Erotic Impulse. Cambridge/London 2010, S. 111.

[2] Cosima Wagner: Tagebücher. München 1976, Bd. II, 17.10. und 8.12.1880.

[3] Richard Wagner: Mein Leben, hg. von  Eike Middell. Bremen 1986,  Bd. II, S. 251.

[4] Auch Sven Friedrich, Barry Millington und Alan Walker behaupten dies fälschlicherweise.

Titelbild

Martin Geck: Wagner. Biographie.
Siedler Verlag, München 2012.
380 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783886809271

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