„Im Westen nichts Neues“

Die ältere Generation der Richard Wagner-Biografen bringt zum Jubiläumsjahr 2013 nichts Neues

Von Ulrich DrünerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Drüner

Im Verhältnis zum Mozart-Jahr 2006, das alleine im deutschsprachigen Raum mit annähernd 200 Publikationen zu Buche schlug, sieht das Wagner-Jahr 2013 bescheidener aus. Zwar gibt es eine ganze Reihe von Büchern, die sich um Teilaspekte des Phänomens Wagner bemühen und die darin auch Wichtiges versprechen; es gibt auch ein neues „Richard Wagner-Handbuch“, dem in Kürze ein englisches, die „Cambridge Wagner Encyclopedia“, folgen wird – doch von diesen Handbüchern gab es schon etliche, die heutige Bedürfnisse noch erfüllen. Dringender wäre eine grundlegende Biografie gewesen, denn die letzte durchschlagende, die von Martin Gregor-Dellin, liegt nun 33 Jahre zurück. Sie ist bisher die einzige von literarischem Format, entspricht aber weder in Forschung noch im Geiste dem heutigen Stand der Dinge. Als Konsekration ihres Ranges ist sie die einzige Biografie, welche, neben dem kolossalen sechsbändigen, grauenerregenden Jubel-Verschnitt von Carl Friedrich Glasenapp aus den Jahren 1905-1911, einen Ehrenplatz auf der CD-Rom „Digitale Bibliothek Band 107: Richard Wagner, Werke, Schriften und Briefe“ erhalten hat. Alle seit 1980 unternommenen Versuche, Gregor-Dellin den Rang abzulaufen, sind gescheitert, und vielleicht war es ein Akt der Verzweiflung, dass der Europäische Hochschulverlag 2010 die Notwendigkeit sah, Houston Steward Chamberlains Angst einflößende Wagner-Biografie von 1895 als Reprint für viel Geld (€ 69,90) auf den Markt zu werfen – ausgerechnet das (auch negativ) einflussreichste Wagner-Buch jenes Autors, der mit seinen Bestsellern von 1899 und 1905, „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ und „Arische Weltanschauung“, die ideologische Wiege Adolph Hitlers ausstattete. Wenn der Wieder-Verleger meint, er müsse statt nach Neuem in der Wundertüte vergangener Jahrhunderte suchen, so wäre er besser beraten gewesen, Ernest Newmans „The Life of Richard Wagner“ (London/New York 1937-1946) zu bringen – es wäre ein verdienstvolles Unternehmen gewesen. Doch ermangelt diesem Werk die Unterwürfigkeit gegenüber dem Bayreuther Kult, weshalb ihm die Gnade der späten Übersetzung ins Deutsche selbst in den fettesten Nachkriegsjahren versagt ward. Die Tatsache, dass Newman überhaupt die einzige Wagner-Fundamentalbiografie schrieb, die wissenschaftlichen Kriterien fast in ihrer Totalität standhält, konnte am Verdikt des bis auf den heutigen Tag so anbetungssüchtigen deutschen Wagner-Marktes nichts ändern.

Diese Marktsituation einerseits und andererseits die bereits evozierte Verbindung zwischen Wagner und Hitler, der jenen Komponisten als seinen wichtigsten kulturellen Stichwortgeber bezeichnet hat, lasten auch auf jedem, der sich mit dem Erfinder des Musikdramas und Autor des Pamphlets „Das Judentum in der Musik“ (1869) zu beschäftigen hat; dies sind die Hypotheken und gleichzeitig zwei der Parameter, welche auf das Konzept einer Wagner-Biografie einwirken (selbst in der Kurzbiografie von Egon Voss in der C. H. Beck-Reihe „Wissen“ besetzt die Antisemitismus-Frage über 10 % des Büchleins). Derlei Probleme haben wohl viele davon abgehalten, sich für das Festjahr 2013 in das keineswegs minenfreie Feld jenes Komponisten zu begeben. So sind seitens namhafter Autoren für 2013 auch nur drei neue Gesamtansichten Wagners erschienen, welche Objekt dieser Sammelrezension werden sollen. Sie stammen von Martin Geck, Udo Bermbach und Barry Millington, die zahlreiche auf Wagner bezogene und meist einflussreiche Bücher und Aufsätze publiziert haben.

Martin Geck ist Musikwissenschaftler und war 1966 Gründungsredakteur der Richard-Wagner-Gesamtausgabe und später Mitautor des Wagner-Werk-Verzeichnisses (WWV). Daher ist ihm sowohl die Entstehungsgeschichte der einzelnen Werke des Komponisten ebenso geläufig wie das Notenbild, was ihn als einen ausgewiesenen Kenner auch der Musik ausweist. Er gilt zu Recht als einer der Nestoren der historisch-kritischen Wagnerforschung.

Udo Bermbach war lange Jahre Professor für Politische Ideengeschichte an der Universität Hamburg und veröffentlichte nach zahlreichen Vorarbeiten eine bedeutsame Trilogie zur Werkinterpretation, -theorie und -rezeption Wagners (Stuttgart 2003, 2004, 2011). Ferner ist er Gründer und Mitherausgeber der Zeitschrift „Wagner-Spectrum“.

Barry Millington ist Chef-Musikkritiker beim Londoner „Evening Standard“ und Herausgeber des „Wagner Journal“. Neben vielen Büchern und Artikeln zu Wagner gab er „The Wagner Compendium“ heraus (London 1992) und fungierte in Sachen Wagner als Berater vieler Opernhäuser und Musikfestivals.

Alle drei Autoren teilen die etwas betagte Ansicht, dass die Erschaffung von Kunst doch weitgehend unabhängig sei von den Lebensumständen. Für diesen Standpunkt, der in der Musikwissenschaft eine über 100-jährige Tradition hat, ist Wagner allerdings das denkbar schlechteste Beispiel; die geringfügigste biografische Begebenheit konnte für ihn einen Sprung in der Arbeit nach vorne oder umgekehrt auch eine Blockade herbeifügen.

Geck, Bermbach und Millington bieten immerhin originelle Gesamtansichten zu Wagner, auch wenn sie keine eigene biografische Recherche betreiben und außer ein paar Details zum Sexualleben um Wagner herum nichts Neues bringen. Nicht einmal das bietet Dieter Borchmeyer, der hier eigentlich eine große Rolle spielen müsste. Doch in seinem neuesten Opus („Richard Wagner. Werk – Leben – Zeit.“ Stuttgart 2013) findet er, dass das Leben „auch nicht erzählt zu werden“ braucht, denn „das wirklich Erlebte hat zu keiner Zeit einer epischen Erzählung als Stoff dienen können“. Letzteres stammt von Wagner, der dies über Cervantes schrieb. Streng wörtlich genommen trifft das auch auf ihn selbst zu, da hat Borchmeyer recht, aber der Kontext ist ein ganz anderer, was er tunlichst verschweigt.

Wagner schreibt: „Hätten wir das Leben, hätten wir keine Kunst nötig. Die Kunst fängt genau da an, wo das Leben aufhört.“

Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass Wagners Biografie genau darzustellen ist, um den Punkt zu finden, wo seine Kunst beginnt. Das heißt aber auch, dass man diesen Anfangspunkt der Kunst verfehlt, wenn man die Biografie nicht ernst nimmt. Der Biograf hat demnach darzustellen, in welcher Form die Kunst die metaphorische Fortschreibung des Lebens werden kann. In sofern liegt in der mehr oder weniger stark ausgeprägten Missachtung des Biografischen das Problem aller erwähnten neuen Biografien. Dabei geht Borchmeyer entschieden zu weit und kündigt den Kampf gegen diejenigen an, die „künstlerische Erscheinungen aus Lebenstatsachen ableiten“, wie das „naive Biographik“ und die „populäre unserer Zeit“ getan habe. Das hat sie aber nicht – solch oberflächliche Behauptungen wurden in den letzten 30 Jahren von niemandem vorgebracht. Borchmeyer vollführt eine Spiegelfechterei gegen angebliche „interpretatorische Kurzschlüsse zwischen Leben und Werk, die gerade die Wagner-Literatur bis in die jüngste Zeit hinein vorgenommen“ habe (wie das Buch-Cover verrät). Damit wird die gesamte Wagner-Literatur der letzten 30 Jahre mit dem Bannstrahl des „Kurzschlusses“ belegt und die Uhr auf 1982 zurückgestellt. Denn im Verhältnis zu seiner ersten Wagner-Publikation bietet seine jüngste definitiv nichts Neues – ein Grund, Borchmeyer hier nicht weiter zu behandeln.

Der Mangel an biografischer Neugier, der all diesen Autoren zu eigen ist, wirkt fatal, denn allein das Internet ist in der Lage, neue und bestens dokumentierte Informationen zu liefern zu Episoden in Wagners Leben, die aus der Sicht der „klassischen“ historischen Mittel im Dunklen bleiben: Viele der entlegenen Zeitschriften aus der Zeit von 1840 bis 1870, auf deren Berichte Wagner sich in Briefen beziehungsweise in seiner Autobiografie bezieht, sind jetzt online einsehbar, und schon ein schneller Blick darauf zeigt, dass Wagner sie in äußerst ungenauer oder sogar manipulativer Weise einsetzte. Und das ist nur ein Einzelpunkt von vielen anderen. Angesichts solch neuer, nicht genutzter Potentiale könnte es sein, dass das Jahr 2013 hinsichtlich der biografischen Forschung zu einem wenig nützlichen Jubiläum wird. Wichtiger sind die Ergebnisse in der Werkinterpretation und der allgemeineren Wagner-Betrachtung, in der es sowohl Vor- als auch Rückschritte gibt.