Noch nicht ganz angekommen

Barry Millingtons Beschwörung des „Magiers von Bayreuth“

Von Ulrich DrünerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Drüner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel ist für ‚Lieschen Müller‘ richtig, verdeckt jedoch, dass Millington ein sehr ernsthafter und bemerkenswerter Wissenschaftler ist. Allerdings ist sein Buch nicht wirklich neu; zu vieles hat man bereits in seinen früheren Texten gelesen – ein „Update“ derselben kann man nicht wirklich erkennen. Schade, denn das Zeug zu einer neuen Rundum-Sicht Wagners hätte dieser Autor ganz gewiss, was an vielen Stellen seiner Werk-Interpretationen erkennbar ist.

Die biografischen Teile des Buches sind äußerst konventionell; eine eigene Recherche des Autors ist nicht erkennbar, und die selteneren Neuigkeiten betreffen Informationen über die Abstammung von Wagners Mutter, über Arthur Schopenhauers homosexuelle Neigung und inzestuöse Tendenzen in der Familie Wesendonck, Judith Gautiers Bisexualität und dergleichen. Doch diese Novitäten haben erstens selten die nötigen Nachweise, und zweitens gehören sie nicht zu den Botschaften, für die man das Buch kauft. Das dafür verdruckte Papier fehlt an anderer Stelle: Die drei zentralen Züricher Kunstschriften „Die Kunst und die Revolution“, „Das Kunstwerk der Zukunft“ und „Oper und Drama“ werden in zusammen nur 17 Zeilen abgehandelt – gar nichts wäre fast mehr gewesen! Es gibt falsche Zahlen; Wagner hat in der Schweiz nie eine Rente von 3.000 Franken bezogen, sonst wäre er sich wie im Schlaraffenland vorgekommen. Ferner gibt es Flüchtigkeitsfehler (Verwechselung Siegfried / Wotan, falsche Aufführungsdauer für den „Ring“, falsche Entstehungsreinfolge der Teile des „Rings“). Das mag reichen – wegen des biografischen Teils lohnt sich der Kauf des Buches nicht.

Dennoch sollte der Wagner-Forscher und der fortgeschrittene Wagnerianer es im Regal stehen haben. Millingtons Werkanalysen sind durchweg lesenswert und zeichnen sich durch einen freien Umgang mit dem Material aus, der nicht mit den historisch-politischen Komplexen oder der zwanghaften Beschönigungsneigung vieler deutscher Autoren befrachtet ist.

Hier nur einige Stichpunkte. Millington hat die Weitsicht, beispielsweise den „Ring“ in unterschiedliche, sich gegebenenfalls auch widersprechende Bedeutungsebenen aufzuteilen, ohne der Versuchung zu verfallen, dies zu nivellieren oder gar für eine General-Ansicht passend zu machen. So hat er kein Problem damit, in „Siegfried“ den Helden als „imperialistisch im Habitus“ zu bezeichnen sowie auf „eine Vielzahl rassistischer Klischees“ aufmerksam zu machen, die er genauer auch als „Kampf der ‚arischen Rasse‘ gegen die Juden“ liest. Das hindert Millington nicht, eine davon unabhängige philosophische Schiene auszumachen und auf „das Ende einer von Gott oder Göttern regierten Weltordnung und ihre Transformation in eine neue, humanistische Ordnung“ hinzuweisen, „in der Individuen, Männer und Frauen gleichermaßen die Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen“.

Das berühmt „offene Ende“ des „Rings“ sieht Millington demnach nicht als Final-Kataklysmus, sondern als einen Vorgang, der auch zukunftsträchtig sein könnte: Die „Männer und Frauen“, so Wagners Regieanweisung, „schauen in sprachloser Erschütterung“ die „röthliche Gluth“ des brennenden Walhalls – aber sie machen sich nach Millingtons Meinung dabei doch die rechten Gedanken, wie man das zukünftig besser machen könnte. Er hat recht: Wagner hat nie das Gegenteil behauptet und eine solche Option ausgeschlossen. Er hat auch nirgends gesagt, dass es bei einem Neuanfang alles wieder genauso schlimm wie zuvor würde.

Zu Recht weist Millington darauf hin, dass Wagner etwas weniger strenggläubig schopenhauerianisch war, als es seine Jünger sich denken. – Eine vergleichbare Doppelheit von philosophischer Meditation und gesellschaftlich fragwürdiger Bebilderung sieht Millington auch in den Meistersingern, wobei er die semantische Doppelheit der Beckmesser-Figur sehr treffend beschreibt.

Obwohl Millington den Einbruch des Antisemitismus in das Musikdrama als gegeben betrachtet und dies auch gut zu belegen weiß, verwahrt er sich gegen jede Verteufelung und Annahme, dass dies zur irreparablen Beschädigung von Wagners Kunst führe. Dazu schreibt er ein eigenes Kapitel „Missklänge im Gesamtkunstwerk?“, indem er die ganze Problematik auf die nicht erfolgte psychologische Aufarbeitung des „Meyerbeer-Komplexes“ seitens Wagners zurückführt. Ferner verweist Millington auf die metaphysische Dimension der Vorgänge: Das „Judentum“ sei für Wagner „ein notwendiges Übel“ gewesen, ohne das er die Frage „Was ist deutsch?“ nicht beantworten konnte. Dieser Hinweis auf die identitätsstiftende Rolle des Antisemitismus ist relativ neu und scheint für das Verständnis Wagners außerordentlich wichtig zu sein. Denn ohne die Darstellung der dem Judentum nachgesagten „Lieblosigkeit“ würde den Musikdramen die antithetische Untermauerung fehlen, um das Metaphysicum der „Liebe“ als ein die Welt rettendes Heilmittel darstellen zu können. Die alte Leier der früh-bundesrepublikanischen Autoren, die Wagners Werke vor jeglichem antisemitischen Verdacht reinzuwaschen suchten, erweise sich demnach, so Millington, als kontraproduktiv, wenn es darum geht, die zentrale Botschaft des Musikdramas, die Forderung nach zwischenmenschlicher Liebe, dramaturgisch zu verankern. „Man könnte behaupten“, folgert er, „dass Wagners Werke ihre sie auszeichnenden Eigenschaften ohne seinen Antisemitismus nicht erlangt hätten“. Diese Schlussfolgerung wird man sich merken müssen.

Einen ebenso interessanten Exkurs macht Millington ins Reich der Kreativität; in dem Kapitel „Der schöpferische Funke: Quellen der Inspiration“ holt er manch bedeutende Verhaltensweise und wichtige Arbeitsvorgänge ans Tageslicht. Auch über Wagners Umgang mit seinen musikalischen Stichwortgebern wie Bülow und Liszt werden wichtige Details bekannt gemacht. Ferner ist ein ganzes Kapitel der Psychologie Cosima Wagners gewidmet, was angenehm absticht von den Klischees, sie sei nichts als eine herrschsüchtige Platzhalterin gewesen.

Ganz im Gegensatz zu Bermbachs abwegigem Versuch, „Parsifal“ ganz konkret für Demokratie und Christentum in Beschlag zu nehmen, ihn so zu säubern und zu retten[1], sieht Millington dort eine viel allgemeinere „religiöse Bilderwelt“, welche „universelle spirituelle Wahrheiten beleuchten“ soll. Diese Sicht ist zu begrüßen, weil sie mit den Vorstellungen ethnologisch ausgerichteter Religionsforschung harmoniert (etwa mit Mircea Eliade). Einen der Zentralbegriffe Wagners, das „Mitleid“, lässt Millington allerdings undefiniert, obwohl Wagner selbst Mathilde Wesendonck gegenüber eine sowohl von Schopenhauer als auch von heutigen christlichen und philosophischen Vorstellungen stark divergierende Auffassung vertritt. Trotzdem kommt Millington zu einer ziemlich genauen Darstellung des „Ideengebräus“, das „Parsifal“ zugrunde liegt, in dem „Begriffe rassischer Reinheit und Erneuerung“ eine große Rolle spielen. Doch im Sinne eines „universalisierten Idealismus“ sieht er das, was dramaturgisch als „Hass“ oder gar „Rassenhass“ erscheint, im künstlerischen Ausdruck der „Liebe“ als die „zwei Seiten ein und derselben Medaille“ aufgehoben, was jedoch erst durch die Musik zustande komme. Stellen wie der Karfreitagszauber rühren, so Millington, „an das Erhabene“ und bewirken, dass „im Parsifal das Licht des Mitleids hell leuchtet“. Das ändere jedoch nichts an dem verwirrenden Problem der „Verschmelzung des Transzendenten und Tugendhaften mit einer Ideologie, die schon zu Wagners Zeit fragwürdig war“.

Weniger gelungen sind Millingtons Schlusskapitel, in denen im Eilmarsch 120 Jahre Wagner-Rezeption und Bayreuther Lokal-Wagneriana mehr oder weniger gut vermischt durchgenommen werden. Das serviert Udo Bermbach in seinem Buch von 2011 ausführlicher und besser.[2] – Sprachlich ist Millingtons Buch unbefriedigend, was zumindest teilweise an der Übersetzung zu liegen scheint. Offensichtliche übersetzerische Fehlleistungen der Sonderklasse gibt es mehrfach zu bestaunen – so etwa „Siegfrieds Fahrt rheinabwärts“ statt „Siegfrieds Rheinfahrt“ oder „Erneuerungs-Schriften“ statt „Regenerationsschriften“ beziehungsweise „Karfreitagsmusik“ statt „Karfreitagszauber“: Vielleicht hätte schon ein Klick bei Wikipedia genügt, um derlei Peinlichkeiten zu vermeiden. Auch das Verlagslektorat kandidiert um den ersten Platz auf der Liste schrecklich-lustigster Fehler und schreibt die Bayreuther „Lohengrin“-Inszenierung von 2010 einem gewissen „Hans Neugarten“ zu (recte: Hans Neuenfels!). – Sehr positiv dagegen darf die Bebilderung des Buches erwähnt werden: dies ist eine Leistung hinsichtlich der Auswahl und auch hinsichtlich der Aussagekraft der Motive.

Aufs Ganze gesehen liegt hier ein Buch mit erheblichen, teils ärgerlichen Schwächen vor, das dennoch mit so erhellenden Blicken auf Wagners Werk und Denken aufwartet, dass weitere Beschäftigung mit dem Thema geradezu provoziert wird. Es würde sich lohnen, dass sich der Autor selbst der Sache nochmals annimmt, um zu einem wirklich großen Ergebnis zu gelangen.

[1] U. Bermbach, „Blühendes Leid“. Politik und Gesellschaft in Richard Wagners Musikdramen. Stuttgart 2003, S. 292 f.

[2] U. Bermbach, Richard Wagner in Deutschland. Rezeption – Verfälschungen. Stuttgart 2011.

Titelbild

Barry Millington: Der Magier von Bayreuth. Richard Wagner - sein Werk und seine Welt.
Aus dem Englischen von Michael Haupt.
Primus Verlag, Darmstadt 2012.
320 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783863120290

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