Liebe und Hass

Aus meinem Leben mit Richard Wagner

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

In meiner Jugend hat mich am nachhaltigsten gerade jener Kompo­nist beeindruckt, den man zu den schrecklichsten, den aggressivsten Antisemiten in der Geschichte der Kultur, nicht nur der deutschen, zählen muß.

Ich war ein Kind noch, erst dreizehn Jahre alt, als meine Schwester mich, nach gehöriger Vorbereitung am Klavier, in eine Aufführung der „Meistersinger von Nürnberg“ mitnahm. Der nationalsozialistischen Propaganda zum Trotz hat mich diese Oper sofort entzückt – vermutlich auch deshalb, weil es eine Oper über Musik und Literatur ist, über den Künstler und das Publikum, über die Kritik. Bis heute bereitet mir keine Oper mehr Freude, mehr Glück als die „Meistersinger“. Und keine trifft mich tiefer und erregt mich stärker als „Tristan und Isolde“.

Ein Fernseh-Reporter hat mich einmal – es war spät nachts in einem Hotelpark, in dem gerade eine Gardenparty zu Ende gegangen war – mit einer einfachen Frage überrascht. Er wollte wissen, wie ich mit einem so wütenden Judenhasser wie Richard Wagner denn eigentlich zurechtkomme. Ich habe ihm spontan geantwortet: „Es gab und gibt viele edle Menschen auf Erden, aber sie haben weder den ,Tristan‘ geschrieben noch die ,Meistersinger‘.“

Geht daraus hervor, daß man ihm seine Arbeit „Über das Judentum in der Musik“ vergeben könne? Nein, gewiß nicht. Indes: Unter den bedeutenden Wagner-Dirigenten war immer schon der Anteil der Juden erstaunlich groß – von Hermann Levy, der die „Parsifal“-Uraufführung leitete, über Bruno Walter und Otto Klemperer bis zu Leonard Bernstein und Georg Solti, Lorin Maazel, Daniel Barenboim und James Levine. Auch unter den Musikwissenschaftlern, denen wir die zentralen Arbeiten über Wagner verdanken, gibt es viele Juden. Spricht es nun gegen oder vielleicht doch für diese Dirigenten und Wissenschaftler, daß sie die Musik Wagners für wichtiger hielten und halten als seine Publizistik, zumal als jene seiner Arbeiten, die letztlich doch nur Haßausbrüche eines Wirrkopfs sind?

Im März 1958 habe ich in Warschau, kurz vor meiner Rückkehr nach Deutschland, ein längeres Gespräch mit dem Komponisten Hanns Eisler geführt. Er war aus Ostberlin nach Warschau gekommen, um seine Musik zu Brechts Stück „Schwejk im Zweiten Weltkrieg“ – ich hatte es zusammen mit meinem Freund Andrzej Wirth ins Polnische übersetzt, die Premiere stand bevor – zu Ende zu schreiben und für eine Bandaufzeichnung zu dirigieren. Einen Abend verbrachten wir zusammen. Eisler, ein leutseliger und beredter Mann, plauderte in bester Laune. Er erzählte uns allerlei Anekdoten, nicht schlechte übrigens, meist über Musiker.

So berichtete er über den Abschiedsbesuch bei seinem Lehrer Arnold Schönberg, Anfang 1948 in Los Angeles. Als Schönberg hörte, Eisler werde nach Deutschland zurückkehren, war er betrübt, als er erfuhr, sein von ihm sehr geschätzter Schüler wolle sich in Ostberlin niederlassen, war er beunruhigt. Eisler versuchte ihm zu erklären, er, seit Jahrzehnten Kommunist, gehöre dorthin, wo seine Genossen nun an der Macht seien. Das könne er schon verstehen, antwortete Schönberg, nur sei die Gefahr groß, daß die Russen ihn entführten. Warum denn gerade ihn? Der etwas weltfremde Meister antwortete allen Ernstes: Die haben doch in der Sowjetunion keinen einzigen Schönberg-Schüler.

Lange dauerte es nicht, und Eisler begann über Wagner zu reden, genauer gesagt: zu schimpfen. Es war ungeheuerlich: Er nannte ihn einen kompletten Scharlatan, einen Kitschier der schlimmsten Art, einen geschmacklosen Wichtigtuer. Ich dachte nicht daran, diese flammenden Beschimpfungen ernst zu nehmen. Sie amüsierten mich. Überdies war mir klar: Wer sich mit so viel Leidenschaft gegen einen Komponisten der Vergangenheit auflehnt, der verrät sich. Er verdankt ihm wohl viel, ihn verbindet mit dem Attackierten zumindest Haßliebe.

Ich ließ also Eisler reden, ich widersprach ihm überhaupt nicht. Wozu auch? Ohnehin war ich sicher, daß ich diesen heiteren Dialog leicht gewinnen würde. Denn ich hatte einen Namen in Reserve, der, meinte ich, wie ein Joker im Kartenspiel alles entscheiden würde. Ich brauchte von diesem Joker nur Gebrauch zu machen, und Eisler, ein glänzender Musiker, würde sofort kapitulieren.

Schließlich kam der Augenblick, wo mir seine Schimpftiraden reichten. Ich sagte: „Ja, ja, Herr Eisler, was Sie so erzählen, mag ja richtig sein. Ich bin schon einverstanden, aber dieser furchtbare Wagner, er hat doch“, jetzt kam ich mit meinem Joker, „er hat doch den ,Tristan‘ geschrieben.“

Eisler verstummte. Es wurde still im Zimmer, ganz still.

Dann sagte er sehr leise: „Das ist etwas ganz anderes. Das ist Musik.“ Vier Jahre später, 1962 – ich war längst in Deutschland –, las ich in den Zeitungen, Eisler sei gestorben. Und ich las, daß er, der große Musiker, der Jude Hanns Eisler, sich auf seinem Totenbett die Partitur von „Tristan und Isolde“ habe geben lassen.

In einem anderen Gespräch über Wagner war mein Spiel mit dem „Tristan“ als Joker weniger erfolgreich. Im Westdeutschen Rundfunk mußte ich auf eine Talkshow warten, an der auch der Komponist Karlheinz Stockhausen teilnahm. Da die Unterhaltung etwas mühselig war, griff ich auf das zuverlässigste Mittel zurück, das das Gespräch mit Musikern sofort zu beleben imstande ist. Ich fragte höflich: „Wie stehen Sie eigentlich, lieber Herr Stockhausen, zu Wagner?“ Er antwortete gelangweilt, er habe unlängst wieder einmal die „Walküre“ gehört und auch den „Lohengrin“. Das sei ganz und gar indiskutable Musik.

Das nahm ich hin und stellte leise und, ich gebe es zu, scheinheilig die schlichte Frage: „Und wie ist es mit dem ,Tristan‘?“ Stockhausen schwieg einen Augenblick und ließ sich dann zögernd vernehmen: „Die Ouvertüre (er sagte tatsächlich „Ouvertüre“ und nicht „Vorspiel“), die Ouvertüre ist gut, der Rest ist überflüssig.“ Das ist das originellste Urteil, das ich über Richard Wagners „Tristan und Isolde“ je zu hören bekommen habe.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist ein Auszug aus Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. München: Deutsche Verlags-Anstalt 1999. Hier in dem Kapitel „Die schönste Zuflucht: das Theater“ S. 127-130.

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Wir danken Marcel Reich-Ranicki und der Deutschen Verlags-Anstalt für die Publikationsgenehmigung.