Remigranten und Draußenbleiber

Ein Band mit Porträts jüdischer Intellektueller nach 1945 im Verhältnis zum Land der Mörder wurde von Monika Boll und Raphael Gross herausgegeben

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man wird in letzter Zeit häufiger an die Geschichte der Deutschen während der Katastrophe von Krieg und NS-Zeit und an ihre Lage und ihr Verhalten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren erinnert, etwa im Fernsehen durch Nico Hofmanns dreiteiliges Doku-Drama „Unsere Mütter, unsere Väter“ (in diesem März im ZDF) über die Kriegsgeneration, also die Generation der Großeltern der heute Dreißgjährigen, wie auch durch verschiedene neue Bücher über Krieg, „deutsche Schuld“ und Nachkriegszeit, von dem Historiker Götz Aly, um den Autor der ergiebigsten Beiträge zu nennen, und anderen.

Jedoch scheint der ungefähre Konsens über eine Art Nachkriegsperiodisierung, auf den man seit langem bei dieser Geschichte stößt, sich immer mehr aufzulösen: Demnach sei einer ersten Zeit der Betäubung und Apathie, die etwa Wolfgang Staudtes Film „Die Mörder sind unter uns“ (1946) dokumentiert, (zweitens) die Epoche von Währungsreform, Gründung der Bonner Republik, Wiederaufbau, außenpolitischer „Westbindung“, Kaltem Krieg und Wirtschaftswunder in den 1950er- und 1960er-Jahren, begleitet von „Wiedergutmachung“ und der ominösen „Vergangenheitsbewältigung“, und (drittens) die „Revolte von ’68“ gefolgt, die die (West)Deutschen aus dem geschichtsvergessenen Tiefschlaf aufgeweckt habe, wie eine eher konziliante Fraktion des damals angeblich aufgeschreckten Bürgertums, die daüber nicht ganz den Stab brechen möchte, immer noch einzuräumen pflegt.

Aber gilt das für das „Volk“ insgesamt, oder waren von diesen Veränderungen im Verhältnis zur eigenen Vergangenheit nicht im Gegenteil jeweils ganz verschiedene Gruppen und Mentalitäten auf unterschiedliche Weise betroffen? Und war es wirklich der Fall, dass jene Apathie der ersten Nachkriegsjahre, das Schweigen der Schuldigen und das Verstummen der Opfer, später verschwunden ist, oder sind die späteren Veränderungen an Teilen der Bevölkerung nicht vielmehr vorbeigegangen, so dass auf sie auch heute noch (auch wenn man sich nicht mehr „durch die Trümmer“ bewegt) Beobachtungen wie die von Theodor W. Adorno zutreffen, der, gerade zwei Monate zuvor aus Kalifornien nach Frankfurt zurückgekehrt, in einem Brief an Thomas Mann vom 28. Dezember 1949 festgehalten hat: „Ich habe, außer ein paar rührend marionettenhaften Schurken von altem Schrot und Korn, noch keinen Nazi gesehen, und das keineswegs bloß in dem ironischen Sinne, daß keiner es gewesen sein will, sondern in dem weit unheimlicheren, daß sie glauben, es nicht gewesen zu sein.“[1]

Oder von Hannah Arendt, die in ihrem Bericht über ihren Besuch in Deutschland 1949/50 schreibt: … „nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen als in Deutschland. Überall fällt einem auf, daß es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine irgendwie absichtliche Weigerung zu trauern oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtskarten von Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch die Trümmer bewegen, findet ihre Entsprechung darin, daß niemand um die Toten trauert, sie spiegelt sich in der Apathie wieder, mit der sie auf das Schicksal der Flüchtlinge in ihrer Mitte reagieren oder vielmehr nicht reagieren.“[2]

Die briefliche Äußerung Adornos aus einem langen Schreiben an Thomas Mann mit höchst scharfsinnigen Beobachtungen über die damaligen Deutschen, insbesondere Studenten, findet man in einem der Beiträge dieses neuen Bandes zitiert (von dem Berliner Historiker Michael Wildt über den 1951 nach Westberlin zurückgekehrten Politologen Ernst Fraenkel). Die Publizistin Monika Boll, die auch über die Rückkehr der „Frankfurter Schule“ gearbeitet hat,[3] und der in Frankfurt am Main und London tätige Historiker Raphael Gross, der mit Publikationen über Axel Springer sowie vor allem über Carl Schmitt und die Juden bekannt geworden ist,[4] haben ein Taschenbuch mit 13 Aufsätzen über jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945 herausgegeben, das die zahlreichen Bücher zu diesem Thema ergänzt.

Das Titelzitat entstammt einem Brief von Gershom Scholem an Hans-Joachim Schoeps, der bereits im Herbst 1946 (aus der Emigration in Schweden) nach Deutschland zurückkam, im folgenden Jahr in Marburg habilitiert und im gleichen Jahr 1947 als Professor für „Religions- und Geistesgeschichte“ nach Erlangen berufen wurde. Zurück also in das Land, „wo es rückwärts aufwärts geht“ (Enzensberger, „Landessprache“, 1960)? Ich gestehe, dass ich das Erstaunen Scholems und anderer auch nach Lektüre vieler Untersuchungen und Dokumente immer geteilt habe und bis heute teile. Auch dieser Band kann es eigentlich nicht ausräumen, er verstärkt aber den vorläufigen Befund, dass verallgemeinernde Feststellungen über jüdische Remigranten (und solche, die die Rückkehr bleiben ließen) schwer zu treffen sind, weil nahezu jeder einzelne Fall mit seinen individuellen Bedingungen und Motiven für sich zu betrachten ist.

Freilich wäre dieser Befund auch bereits auf das Titelzitat zu beziehen. Dieses gibt sich bei näherem Hinsehen ebenfalls als eine Äußerung zu erkennen, die von einem ganz besonderen Autor in einer besonderen Situation formuliert wurde (ähnlich derjenigen Arendts nach einem, wenn auch viel kürzeren, Aufenthalt in Deutschland, das Scholem von Jerusalem aus besucht hatte) und zwar gegenüber einem Adressaten, der nur sehr schwer mit anderen Rückkehrern vergleichbar ist. Es taugt deshalb kaum zur Kennzeichnung des gesamten Zeitraums seit 1945, so wie es in diesem Buchtitel funktionieren soll, weil es aus einem sehr spezifischen Zusammenhang gerissen ist und sich an dieser Stelle fast zu einer Maxime verselbständigt. Man kennt das, so etwas unterläuft beim Zitieren öfter ungewollt, und manchmal ist es unvermeidlich. Hier aber scheint diese Verselbständigung fahrlässig herbeigeführt – man hätte ohne weiteres ein anderes Zitat wählen oder auf ein Zitat verzichten können –, und ist deshalb, wie leider manches andere an diesem Band, zu kritisieren.

Dazu gehört, dass, wiederum auch mit Hilfe des Scholem-Zitats, der Titel den Eindruck erweckt, als würden dezidiert nur remigrierte jüdische Intellektuelle behandelt. Von den 13 Beiträgen handeln jedoch nur 9 von Rückkehrern, die mehr oder weniger dauerhaft in der Bundesrepublik (im Falle von Arnold Zweig seit 1948 in der DDR) gelebt haben. Paul Celan, über den Joel Golb schreibt (über die Kontroverse um Celans kurzen Brief an Ernst Jünger von 1951), Hannah Arendt (von Elisabeth Gallas), Jean Améry (von Nicolas Berg) und Hans Kelsen (von Raphael Gross) haben sich ausdrücklich, wenn auch wiederum aus sehr verschiedenen Gründen, einer dauerhaften Rückkehr verweigert.[5]

Ein Versäumnis der Herausgeber wie auch der Autoren ist es auch, dass sie nicht systematischer auf den Pluralismus im Judentum und dessen Assimilationsgeschichte lange vor 1933 eingehen, die ja auch die unterschiedlichen Motive der Rückkehrer wie der Draußenbleiber sowie die unterschiedlichen Grade des Verständnisses dafür erklären helfen, und man hat es ebenso versäumt, weitere und weniger ‚prominente‘ Stimmen in den Band aufzunehmen. Stattdessen wählte man offenbar den sicheren Weg und hielt sich einfach an die aus heutiger Sicht üblichen Verdächtigen (Adorno, Horkheimer, Arendt, Bloch, Celan, Löwith), obwohl der interessierte Leser über sie doch zur Genüge unterrichtet ist. Von ihnen setzte man ein paar kleine Fotos auf den Einband – aber auch wieder nur die allerbekanntesten, während Porträts von den anderen sehr viel mehr interessiert hätten – und fertig ist die Porträtgalerie.

Umso erfreulicher deshalb die Beiträge über den Juristen Hans Kelsen, den Vertreter der positivistischen „Reinen Rechtslehre“, der in Berkeley geblieben war; über den bis heute einflussreichen Demokratielehrer am Berliner OSI Ernst Fraenkel und über Jacob Taubes, der ebenfalls bis zuletzt in Berlin lehrte. Einer der besten Beiträge ist von dem Kritiker Andreas Isenschmid und handelt von dem als jüdischem Gelehrten so schwer fassbaren Peter Szondi. Interessant auch die weniger geläufige Frage nach „Adorno – eine Geschichte von Mißverständnissen?“, die sich der durch seine große Adorno-Monografie bekannte Detlev Claussen in einem kleinen Essay stellt. Auf geringes Interesse der Herausgeber weist aber wiederum das fehlende Verzeichnis der übergreifenden Forschungsliteratur, die man sich aus den Anmerkungen zu den Einzeltexten zusammensuchen muss, und die schwache Einleitung, die selbst die wichtigsten Daten und Ereignisse dieser Geschichte zu nennen versäumt, etwa im Verhältnis zwischen den deutschen Staaten und Israel vom Luxemburger Abkommen von 1952 und den Gesetzen zur Wiedergutmachung bis hin zum deutsch-jüdischen Staatsvertrag vom Januar 2003. Auch hier ist das Buch von Guez die bessere Alternative. Und dass auf der Einbandrückseite nur von „12 Porträts“ (statt 13) die Rede ist, man also selbst nicht weiß, wieviele Beiträge man gedruckt hat, ist dann nicht mehr verwunderlich bei diesem Ausmaß an Sorgfalt.

Wie wenig Mühe man sich mit dem Band gemacht hat, wird aber gleich im ersten Beitrag des Münchner Historikers Michael Brenner deutlich, der sich mit Hans-Joachim Schoeps (1909-1980) zu beschäftigen verspricht und zunächst seitenweise über „Jüdische Geistesgeschichte zwischen Exil und Heimkehr“ im allgemeinen handelt, bevor er mit eher distanzierten Bemerkungen nur das Nötigste über sein vorgebliches Thema verlauten lässt. Dabei sind die Schriften[6] und die Existenz dieses nationalen Juden und dezidiert preußischen, jugendbewegt anti-bürgerlichen Konservativen in Deutschland, der als akademisch-politische Figur zumal in den 1960er- und 1970er-Jahren schließlich zwischen allen Stühlen saß, vor der Emigration (erst 1938) wie auch nach der Rückkehr (frühestmöglich schon 1946) von einer Wolke aus Fehlurteilen und Missverständnissen eingehüllt und deshalb besonders schwer einzuschätzen – mit vagen Allgemeinheiten und lakonischen Urteilen, die sich auf einen Konsens aus Unverständnis und weiter wirkenden Vorbehalten verlassen, ist da gar nichts auszurichten. Dabei wäre ein ernsthafter Versuch, diesem Autor endlich umfassend gerecht zu werden, jenseits von wütender Polemik von linker und falscher Kameraderie von der Seite der schon immer Gestrigen, die man nicht ‚Konservative‘ nennen sollte, eine echte Herausforderung an eine Intellectual history, der diese Porträtsammlung sich doch wohl zurechnen lässt. Oder wo sonst als gegenüber einem so komplizierten und heute so extrem ferngerückten Fall sollte sich deren Analysefähigkeit bewähren? Dass ein Band wie dieser daran nicht einmal scheitert, weil er schon die Gelegenheit dazu gar nicht gesehen hat, ist sein größtes Versäumnis, das man ihm ernsthaft vorhalten muss.

[1] Zitiert nach: „Theodor W. Adorno. Thomas Mann. Briefwechsel 1943-1955“. Hrsg. von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002 (Theodor W. Adorno. Briefe u. Briefwechsel, Band 3), S. 45.

[2] Zitiert nach: Hannah Arendt: „Besuch in Deutschland“. Berlin: Rotbuch Verlag 1993, S. 24-25. Arendt schrieb den Bericht über einen längeren Aufenthalt in Deutschland unmittelbar nach Gründung der Bundesrepublik zwischen August 1949 und März 1950. Sie war als Leiterin der „Commission on European Jewish Cultural Reconstruction“ gekommen, um die Reste jüdischer Kultur zu sichten und womöglich für jüdische kulturelle Einrichtungen zu retten. Der Bericht erschien zuerst englisch im Herbst 1950 unter dem Titel „The Aftermath of Nazi Rule. Report from Germany“ in der amerikanischen Zeitschrift „Commentary“.

[3] Vgl. „Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland“, herausgegeben von Monika Boll und Raphael Gross. Göttingen: Wallstein Verlag 2009 (zu einer Ausstellung im Frankfurter Jüdischen Museum 2009/10).

[4] Vgl. „Bild dir dein Volk! Axel Springer und die Juden“, herausgegeben von Raphael Gross, mit Fritz Backhaus und Dmitrij Belkin. Göttingen: Wallstein Verlag 2012 (zu einer Ausstellung im Frankfurter Jüdischen Museum 2012); Raphael Gross: „Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre“. 2., erw. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005.

[5] Dagegen Olivier Guez: „Heimkehr der Unerwünschten. Eine Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Jorge Semprún“. München, Zürich: Piper 2011 (franz.  2007). Der französische Autor sieht von außen manches etwas unscharf, anderes dafür klarer. Aber er vermittelt in diesem Stück oral history auf Grundlage vieler Reisen und persönlicher Begegnungen ein breit gefächertes Bild, von den Lagern der jüdischen Displaced Persons (DPs) unmittelbar nach dem Krieg, von denen, die vorübergehend auf dem Weg nach Israel oder in die USA in Deutschland sich aufhielten bis zu den im Lande Gebliebenen und den dauerhaften Rückkehrern, darunter auch Intellektuelle. Das Buch ist unzulänglich übersetzt, aber reich an Informationen über auch weniger geläufige Sachverhalte und sehr zu Unrecht offenbar kaum bekannt. Vgl. auch den viel stärker literaturgeschichtlich ausgerichteten Band „Fremdes Heimatland. Remigration und literarisches Leben nach 1945“, herausgegeben von Irmela von der Lühe und Claus-Dieter Krohn. Göttingen: Wallstein-Verlag 2005.

[6] Zu den am wenigsten bekannten, aber wertvollsten Arbeiten von Schoeps gehören seine Aufsätze zur Religionsgeschichte der Spätantike, des frühen Christentums und der Frühen Neuzeit, u. a. gesammelt in: „Philosemitismus im Barock. Religions- und geistesgeschichtliche Untersuchungen“. Tübingen: Mohr Siebeck 1952; bemerkenswert auch seine „Deutsche Geistesgeschichte. Ein Abriß in 5 Bänden“. Mainz: Hase & Koehler 1977-80; Autobiografisches in: „Die letzten dreißig Jahre“. Stuttgart: Klett 1956, 2., erw. Aufl. u. d. T. „Rückblicke“. Berlin: Haude & Spener 1963, und: „Ja – nein – und trotzdem. Erinnerungen – Begegnungen – Erfahrungen“. Mainz: Hase & Koehler 1974; die politischen Aufsätze der 30er Jahre in: „Bereit für Deutschland!“ Der Patriotismus deutscher Juden und der Nationalsozialismus. Frühe Schriften 1930 bis 1939“. Berlin: Haude & Spener 1970. Über ihn vgl. vor allem: Richard Faber: „Deutschbewußtes Judentum und jüdischbewußtes Deutschtum. Der historische und politische Theologe Hans-Joachim Schoeps“. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, sowie „Wider den Zeitgeist. Studien zum Leben und Werk von Hans-Joachim Schoeps“, herausgegeben von Gideon Botsch. Hildesheim: Olms 2009, darin bes. die Beiträge von Richard Faber, Dominique Bourel und dem Sohn Julius H. Schoeps.

Titelbild

Monika Boll / Raphael Gross (Hg.): Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können. Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
496 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783596189090

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch