Korrektur landläufiger Vorurteile

Malcolm Gaskills „Witchcraft. A Very Short Introduction“ erscheint auf deutsch als „eine kurze Kulturgeschichte“ der „Hexen und Hexenverfolgung“

Von Ursula SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die deutsche Fassung des 2010 beim Verlag Oxford University Press in der Reihe der „Very Short Introductions“ erschienenen Bandes mit dem Titel „Witchcraft“ aus der Feder des englischen Frühneuzeithistorikers Malcolm Gaskill.

Gleich zu Beginn macht Gaskill das Problem explizit, welches in den Arbeiten vieler seiner Wissenschaftskollegen den Diskurs über Hexerei, über Hexen und Hexenverfolgung unausgesprochen begleitet: dass nämlich niemand sagen kann, ob und wie das seit Menschengedenken beobachtete Phänomen magischer Praktiken in der alltäglichen Lebenswirklichkeit zu verorten sein könnte. Mit anderen Worten: Der ontologische Status von „witchcraft“ und anderen, verwandten „paranormalen“ Phänomenen ist für unser rationalistisch-naturalistisches Bewusstsein schlichtweg unfixierbar. Hilfsweise bemüht Gaskill eine Formulierung Marina Warners, derzufolge es sich bei derartigen „übernatürlichen“ Dingen um Tatsachen „ohne nachweisbare äußere Referenten“ handelt.

Aber gerade weil Gaskill sich dieser Aporie sehr bewusst ist, unternimmt er es eben nicht, der „schattenhaft[en], auf unerträgliche Weise unfassbar[en]“ Hexerei linear diskursiv auf die Spur zu kommen. Und deshalb hat er auch keineswegs eine „kurze Kulturgeschichte“ verfasst. Demgegenüber betont er, dass er in dieser Publikation seine bisher mündlich in Vorträgen und Diskussionen vermittelten Erkenntnisse zusammengetragen hat; weshalb sein Argumentationsgang – ungeachtet der Präzision bei der Präsentation historischer Fakten – eher digressiv und assoziativ verfährt. Die auf den ersten Blick recht bunte Reihe seiner acht Kapitelüberschriften lautet: „Furcht“, „Häresie“, „Bösartigkeit“, „Wahrheit“, „Justiz“, „Wut“, „Phantasie“, „Kultur“.

In der Manier eines vorsichtigen Mentalitätshistorikers will sich Gaskill in die jeweilige geschichtliche Situation hermeneutisch hineindenken, wobei das Insistieren auf harten Fakten kein Hindernis, sondern geradezu Vorbedingung sei.

Dass die von Reclam verantwortete Ausgabe um einige Absätze, kürzere Einfügungen und Literaturhinweise für den deutschsprachigen Markt ergänzt wurde, wird weder verlagsseitig noch im Vorwort des Autors erwähnt, das unverändert der englischen Ausgabe entnommen ist. Das mag noch hinzunehmen sein. Schwer dagegen wiegt, dass die vorliegende deutsche Ausgabe erheblich unter der nicht immer zuverlässigen, ja bisweilen sinnentstellenden Übersetzung leidet.

Warum bloß haben sich die beiden Übersetzerinnen dazu entschieden, „witchcraft“ ad libitum mit „Hexerei“, „Hexenwesen“, „Hexentum“, „Hexenkunst“, „Hexenwesen und Hexerei“, „die Hexen“, „magische Kräfte“, „Hexe“ oder sogar mit „der Begriff ‚Hexe‘“ ins Deutsche zu bringen? Hatten sie Angst davor, der Wortwiederholung geziehen zu werden? Eigentlich sollte es doch unstrittig sein, dass lexikalische Willkür erst recht auf einem terminologisch so brisanten Terrain nichts als Probleme erzeugt. Manchmal ist die Übersetzung so katastrophal, dass sie das von Gaskill Gemeinte ins genaue Gegenteil verkehrt.

Man hat einzuräumen, dass manche Gedanken und Formulierungen Gaskills nicht unbedingt klar und leicht verständlich sind, aber das kann nicht eine Übersetzung gegen den immerhin erkennbaren Sinn entschuldigen. Zwar will auch mir nicht unmittelbar einleuchten, wieso das archaische, sich auf Gottesurteile berufende accusatory justice (i. e. „Akkusationsrecht“) zu neighbourhood conspiracies ermunterte, wie Gaskill schreibt („Many states felt accusatory justice to be obsolete because it encouraged neighbourhood conspiracies while invoking divine adjudication.“). Wenn indes in der deutschen Übersetzung steht: „In vielen Staaten hielt man die anklagende Justiz [?!] für überholt, da sie nachbarschaftliche Verschwörungen förderte. Man berief sich lieber auf ein Gottesurteil.“, dann ist das schlichtweg falsch. Wie auch sollte man sich – präferierend – „lieber“ auf das berufen, was man doch für obsolet erklärt?

Sodann lässt Gaskill etwa unerläutert, inwiefern der englische Skeptiker der elisabethanischen Zeit Reginald Scot im Hexenglauben die Leugnung der göttlichen Prädestination wähnte. Völlig unmissverständlich hingegen erklärt Gaskill, dass in den Augen Scots zwischen Hexenglauben und „katholischem Aberglauben“ Übereinstimmung bestand. Die Übersetzerinnen behaupten das genaue Gegenteil, indem sie schreiben: „ferner stellte er [Scot] die Übereinstimmung des Hexenglaubens mit dem katholischen Aberglauben in Abrede“!

Angesichts solcher Passagen, die Gaskills Text offenkundig zuwiderlaufen, jeden verständigen Leser verwirren und daran zweifeln lassen, ob das Buch je lektoriert wurde, ist das Produkt eigentlich verdorben. Das ist schade. Dennoch lässt sich – wenn auch mit einiger Mühe – Sachhaltiges herausdestillieren. Drei Aspekte sollen im folgenden angesprochen werden: 1. Die Frage der ontologischen Substantialität des Hexereivorwurfs nebst ihren juristischen Konsequenzen, 2. Inquisition und Folter als rechtshistorischer „Fortschritt“ sowie 3. das Vorkommen von Hexerei heute.

Zu 1: Gaskills Einlassungen zum „Canon Episcopi“, einer kirchenrechtlichen Verlautbarung aus dem 10. Jahrhundert zum Thema Magie und Hexerei, sind bisweilen verwirrend. Faktum ist, dass dieser dem Abt Regino von Prüm zugeschriebene Text archaische magische Praktiken zu bloßen, vom Teufel eingegebenen Hirngespinsten erklärte. In Wirklichkeit gebe es so etwas gar nicht. Gute fünf Jahrhunderte später vollzog der „Hexenhammer“ des Heinrich Kramer (Institoris) eine – aus heutiger Perspektive antiaufklärerische – Kehrtwende, indem er die reale Wirksamkeit von Hexerei postulierte.

Rechtsgeschichtlich tendierte die „Canon-Episcopi“-Sicht dahin, in der Behauptung, Hexerei existiere, eine Häresie und damit einen Fall für die kirchliche Gerichtsbarkeit zu erkennen. Von nicht geringerer Folgerichtigkeit war es, wenn die „Hexenhammer“-Sicht, weil sie in Hexerei handgreifliche Verbrechen sah, deren Agentinnen und Agenten als Straftäter der weltlichen Gerichtsbarkeit unterstellte. Die Frage, wie dieses Verhältnis von Häresie und Kirchenrecht einerseits zu Straftat und weltlichem Recht andererseits sich über die Zeiten und in den unterschiedlichen europäischen Territorien im einzelnen ausgestaltete, ist nicht pauschal zu beantworten und ein zentraler Gegenstand in Gaskills Studie. Jedenfalls war die Verhängung von Todesstrafe prinzipiell dem „weltlichen Arm“ vorbehalten.

Zu 2: Keine – weder zeitliche noch regionale – Einheitlichkeit lässt sich auch hinsichtlich der Verfahren in Hexenprozessen konstatieren. Immerhin lässt sich als europaweite Tendenz im Untersuchungszeitraum die Ablösung des alten Akkusationsrechts, das zur Wahrheitsfindung auf das Mittel des Gottesbeweises gesetzt hatte, durchs innovative Inquisitionsrecht beobachten, welches das – von heutiger Warte notabene – „fortschrittlichere“ Prinzip rationaler Beweisführung bevorzugte, zu deren Erlangung Folter eingesetzt wurde. Gestand der Delinquent trotz Folterandrohung oder Folter nicht, wurde er freigesprochen. Laut Gaskill ist die geläufige Vorstellung zu revidieren, derzufolge Hexen jederzeit und allüberall einem Verfahren unterzogen wurden, dessen Intention einzig sadistische Quälerei mit dem notwendigen Ausgang des Scheiterhaufens war. Schließlich führte die Einsicht, Hexerei nicht nachweisen zu können, und die Sorge, Unschuldige zu verurteilen, zum Ende der Hexenprozesse – mitnichten also die Überzeugung, dass es Hexerei nicht gebe.

Zu 3: Was die gegenwärtige Präsenz von „witchcraft“ betrifft, so ist zu differenzieren: In westlichen Ländern, besonders im angelsächsischen Raum, finden sich folkloristische und/oder neopagane Strömungen, die vermeintlich altes Hexenbrauchtum revitalisieren. In den USA ist der Wicca-Kult als Religion anerkannt. Seinen ansonsten distanzierten, relativistischen Blick auf „witchcraft“ verbietet sich Gaskill allerdings angesichts der dramatischen Situation in einigen Ländern Afrikas. Dort werden Zigtausende, besonders auch Kinder, als Hexen stigmatisiert, verfolgt, verjagt, verstümmelt und umgebracht.

Ein Hauptertrag der Lektüre des Buches besteht darin, dass Gaskill landläufige Vorurteile über das historische Hexenwesen korrigiert. Die Geltung ideologischer Konstrukte jedweder Art misst er an der Aussagekraft empirisch-statistischen Materials mit der Folge, dass liebgewordene Vorstellungen entkräftet werden. Lange hatte man allein die Anzahl der Hexenprozesse und ihrer Opfer um ein Vielfaches zu hoch angesetzt. Die Wirklichkeit aber war weit weniger vom Hexenwahn durchdrungen. Monokausale Erklärungen wie die feministischer oder antikirchlicher Provenienz lassen sich nicht verifizieren. Je klarer man sich zu sehen bemüht, desto mehr verdunkeln sich die Entstehungsbedingungen von „witchcraft“ wie auch die Konturen des Phänomens selbst.

Titelbild

Malcolm Gaskill: Hexen und Hexenverfolgung. Eine kurze Kulturgeschichte.
Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Blank-Sangmeister unter Mitarbeit von Anna Raupach.
Reclam Verlag, Ditzingen 2013.
214 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783150108505

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