Das Mittelalter als Chiffre der Konnektivität

Ein von Michael Borgolte und Mathias M. Tischler herausgegebener Sammelband behandelt die „Transkulturelle Verflechtung im mittelalterlichen Jahrtausend“

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Interkulturalität ist gewissermaßen allgegenwärtig und scheint dergestalt ein modernes oder postmodernes Phänomen einer globalisierten Welt zu sein. Vor diesem Gegenwartsstandpunkt erscheint es umso bemerkenswerter, dass – zumindest in grundlegender Hinsicht – diese Erscheinung so neu gar nicht ist. Im Zuge einer durch audiovisuelle Medien geprägten Öffentlichkeit mögen dann vielleicht noch die entsprechenden Vorgänge und Konstellationen der – zumal römischen – Antike zugeschrieben werden, ‚finsteres Mittelalter und Transkulturalität jedoch scheinen überhaupt nicht zusammenzugehen. Dankenswert ist daher der Ansatz des Deutschen Historikertages 2010, diesen für die normale Rezeption äußerst ausgefallenen Aspekt mittelalterlicher Geschichte thematisiert zu haben. In zwei Sektionen dieser Tagung wurde das Feld ‚über Grenzen thematisiert, und – so die Herausgeber – die um zwei zusätzliche Beiträge erweiterten Früchte dieses ungewöhnlichen Ansatzes im vorliegenden Band publiziert. Dass gerade die Wissenschaftliche Buchgesellschaft das Werk herausgebracht hat, ist insofern bemerkenswert, als hiermit die Gewähr dafür gegeben ist, dass diese neuen Absätze breiteren interessierten Kreisen zugänglich gemacht werden und der Wunsch der Herausgeber nach anhaltender Diskussion über einen womöglich eingeschränkten Fachkreis hinaus eine größere Basis finden kann. Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass die vorliegende Publikation den ursprünglich mit der Thematisierung dieser Felder verbundenen Ambitionen wohl doch nicht in allen Belangen gerecht zu werden vermag. Dies gilt vor allem hinsichtlich des über den engeren Kern von Spezialistinnen und Spezialisten hinaus erweiterten Publikumskreis. Hier wäre die Aufnahme eines ausgedehnteren fundamentalen Beitrages nötig gewesen, der dann deutlicher als dies Einleitung und Kommentare vermögen einen allgemeinen Zugang zur Thematik und einen Brückenschlag zwischen den thematisch doch oft weit auseinanderliegenden Beiträgen angeboten hätte.

Am ‚Mare nostrum‘ kommt auch das Mittelalter nicht vorbei – allerdings sind die Akzentsetzungen angesichts der Auflösung des Imperium Romanum andere geworden. Dementsprechend ist eine deutliche Bezugnahme auf den mediterranen Raum gegeben, wie bereits aus der Einführung hervorgeht. Dort heißt es: „Der Betrachtungsraum der hier vorgelegten Beiträge zu ‚Passagen‘ über Grenzen ist die gesamte Welt des Mittelmeers, die als ein durch ‚Passagen‘ konstituierter Raum von Traversen und den hiermit verbundenen Prozessen der Begegnung, Wahrnehmung und Deutung von Fremdem beziehungsweise Anderem verstanden wird und an der mehr oder weniger alle historischen Anrainer Anteil hatten. ‚Mittelmeer‘ wird so zur Chiffre für das Prinzip der ‚Konnektivität‘ und steht in vollem Wortsinn für ein ‚mittleres Meer‘. ‚Passagen‘ betreffen in diesem Kontext beides, das Austauschen von Ideen und auch das Wandern von Menschen(gruppen), also ‚Migration‘ in durchaus gegenwärtigem Sinne.“

Die Einbeziehung des Phänomens ‚Migration‘ in die Mediävistik ist – wie Michael Borgolte und Matthias Tischler in ihrer Einleitung hervorheben – für den Kontinent ein neueres Phänomen, während im angelsächsischen Bereich entsprechende Ansätze bereits längere Zeit verfolgt werden. Entsprechend werden diesbezügliche Ansätze etwa im deutschen Sprachraum hervorgehoben, die ‚transkulturellen Verflechtungen‘ gleichzeitig aber auch insofern in die Gegenwart transferiert, als der auf Benjamin zurückgeführte Begriff der ‚Passage‘ als Leitmotto ins Zentrum gestellt ist. Demgemäß heißt es denn auch: „Und da ‚Passage‘ keine Einbahnstraße, sondern ein Konzept von Korrespondenzen und wechselseitigen perspektiven ist, erweist sich das Denken und Sprechen von ‚Passagen‘ auch als eine Form des wissenschaftlichen Vergleichs.“

Ein Schwerpunkt dieser ‚transkulturellen Verflechtungen‘ liegt also auf den entsprechenden um den mediterranen Raum gemachten Erfahrungen mit der moslemischen Welt, ein Binnenschwerpunkt im Bereich Südeuropa. Daneben finden sich allerdings auch ein Beitrag zur exotischen Situation von Migration und ‚transkultureller Verflechtung‘ in Japan und zwei vielleicht weniger exotische, gleichwohl spannende Beiträge zum italischen Langobardenreich beziehungsweise zum staufisch-normannischen Süditalien.

Die Binnengliederung erfolgt in zwei nicht gleich große Themenblöcke: Da ist zum einen der mit sechs Beiträgen vertretene Schwerpunkt ‚Migration als transkulturelle Verflechtung‘, dem der von der Beitragszahl halb so große Themenpunkt ‚Passagen über Grenzen‘ gegenübergestellt ist. Beide Großabschnitte – und das ist insbesondere für die ‚Quereinsteiger‘ hilfreich – werden jeweils durch nachgestellte Kommentare von Gudrun Krämer (Migration) beziehungsweise Matthias Tischler (Passagen) verdeutlicht. Im Einzelnen sind folgende Aufsätze aufgenommen: „Nubier, Beja, Griechen, Kopten und Araber in Dongola. Der Nordsudan als kosmopolitischer Raum im mittelalterlichen Jahrtausend“ (Marianna Bechhaus-Gerst), „Westasiatisch-muslimische (Huihui) Medizin und Ärzte im yuanzeitlichen China“ (Angela Schottenhammer), „‚Isoliertes Inselland’ oder ‚Zum Meer geöffnetes Archipel‘? Perspektivenauf transkulturelle Verflechtungen und Migration im mittelalterlichen Japan“ (Klaus Vollmer), „Das Langobardenreich in Italien aus migrationsgeschichtlicher Perspektive. Eine Pilotstudie“ (Michael Borgolte), „Auf dem Pfad Allahs. Ğihâd und Migration auf dem süditalienischen Festland (9.-11. Jahrhundert)“ von Kordula Wolf sowie von Benjamin Scheller „Migrationen und kulturelle Hybridisierungen im normannischen und staufischen Königreich Sizilien (12.-13. Jahrhundert)“. Im zweiten Schwerpunkt, den ‚Passagen über Grenzen‘ finden sich „Grenzenlose Multireligiosität? Rivalitäten um Herrschergunst und Ämtervergabe am Kalifenhof von Kairo im 10. Jahrhundert“ (Jenny Rahel Oesterle), „Ausstrahlung – transkulturelle Datenmigration – Dokumentation. Arabisch-islamische Gelehrte und die Herausforderungen der Dokumentation Lateineuropas am Beispiel des Papsttums und des ostfränkisch-deutschen Reiches (7.-15. Jahrhundert)“ von Daniel G. König sowie „Bücher der Erkenntnis. Einige Überlegungen zum Einfluss Al Ğazâlîs auf Maimonides“ (Frederek Musall).

Es werden also breite Bögen geschlagen, es werden – insbesondere dann, wenn der mediterrane Raum als Ganzes betroffen ist – Verbindungen aufgezeigt, die in einer ‚standardisierten‘ Geschichtsbetrachtung oft gar nicht zum Tragen kommen. Dies ist natürlich nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die hier vertretenen Ansätze innerhalb der Geschichtswissenschaft eher jüngeren Datums sind, da seit den Zeiten der auch historisch aktiven Universalgelehrsamkeit im 19. Jahrhundert ein Segregierungsprozess eingesetzt hat, der den Blick eher auf Detailaspekte richten ließ, als das Große und Ganze in den Fokus zu stellen. Dies gilt natürlich noch mehr für das ‚Größere‘, also den Blick auf die über relativ geschlossene politisch-geografische Gebilde hinausweisenden Phänomene. Ob jedoch diese Breite der Zusammenstellung, die insgesamt gesehen häufig disparat ist, die weniger ‚sattelfesten‘ Leserinnen und Leser nicht auch überfordert, erscheint zumindest bedenkenswert. Gleichwohl ist die vorliegende Publikation gerade als Einstieg für neue Blickwinkel erwähnens- und lobenswert, und es steht zu hoffen, dass sich aus der damit zu verbindenden Anregung fruchtbare Zugangsweisen ergeben mögen, die die oben angesprochene ‚Detailsichtigkeit‘ erweitern helfen.

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Michael Borgolte / Matthias M. Tischler (Hg.): Transkulturelle Verflechtung im mittelalterlichen Jahrtausend. Europa, Ostasien und Afrika.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2012.
271 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783534244874

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