Die Macht des Unausgesprochenen

Claire Keegans preisgekrönte Erzählung „Das dritte Licht“

Von Paula BöndelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paula Böndel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Verletzungen an Kinderseelen, die mit Gewalt und Misshandlung nichts zu tun haben, Verletzungen, die von unbedachten Äußerungen der Erwachsenen ausgehen und bis ins Mark treffen. Lieblosigkeit und Unachtsamkeit, die tiefe Spuren hinterlassen. Und es gibt Dinge, die gerade dadurch, dass sie nicht ausgesprochen werden, ihre Schatten werfen, weil im Verschwiegenen sich ganze Lebensdramen verhüllen können. Von all diesem erzählt „Das dritte Licht“ der irischen Schriftstellerin Claire Keegan, das 2010 unter dem Titel „Foster“ veröffentlicht wurde und in einer Übersetzung von Hans-Christian Oeser, der sprachlich die hochwirksame Feinarbeit der Erzählung mit großer Sensibilität zu transponieren versteht, vor kurzem bei Steidl erschienen ist.

Aufgewachsen auf einer Farm in der Grafschaft Wicklow, machte Keegan 1999 ihr schriftstellerisches Debüt mit der Erzählsammlung „Antarctica“ („Wo das Wasser am tiefsten ist“, 2004), die 2007 von einer zweiten Sammlung, „Walk the Blue Fields“ („Durch die blauen Felder“, 2008), gefolgt wurde. Für die vorliegende Erzählung erfuhr die vielfach ausgezeichnete Autorin eine seltene Ehre: Nicht nur erhielt „Das dritte Licht“ den renommierten Davy Byrnes Award, es wurde auch in einer verkürzten Fassung im „New Yorker“ im selben Jahr veröffentlicht, in dem Faber and Faber es mit einem eigenen Band (89 Seiten) würdigte.

Ein heißer Sonntagmorgen in Irland, Anfang der 1980er-Jahre. Nach der Frühmesse fährt ein Vater zu entfernten Verwandten in der Grafschaft Wexford und gibt seine kleine Tochter bei dem kinderlosen Ehepaar John und Edna Kinsella ab. Die Mutter des Mädchens, dessen Namen der Leser nicht erfährt, erwartet schon wieder ein Kind, steht kurz vor der Geburt. Nachdem der Vater „sich satt gegessen hat“, fährt er wieder ab, ohne seiner Tochter zu sagen, wie lange sie bei den Kinsellas bleiben wird. Sein einziger Abschiedsgruß besteht in der lieblosen Warnung: „Und du pass auf, dass du mir nich’ ins Feuer fällst.“ Schon bald erkennt das Mädchen instinktiv, dass das hier „ein anderes Zuhause“ ist. „Hier gibt es Raum und Zeit zum Denken. Vielleicht bleibt sogar Geld übrig.“ In den folgenden Monaten, die das Kind mit den Kinsellas auf ihrer Farm verbringt, weicht seine Unsicherheit, und es erfährt Geborgenheit, Zuwendung und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Besonders zu John Kinsella entwickelt sich eine liebevolle Beziehung. Aber das Kind erfährt auch das traurige Geheimnis, das die Kinsellas für sich behalten und ein Licht darauf werfen könnte, warum es den Sommer gerade bei diesen ihm fremden Menschen verbringt. Am Ende der Schulferien kehrt das Mädchen in sein karges Zuhause zurück, wo seine Geschwister es wie eine „englische Cousine“ empfangen. Die Erzählung endet mit einem einzigen Wort, das nicht nur die Entbehrungen des Mädchens in der eigenen Familie im Besonderen, sondern die Abhängigkeit des kindlichen Daseins von erwachsener Liebe im Allgemeinen auf Eindringlichste fühlbar macht.

Als einen „Drahtseilakt von ungewöhnlicher erzählerischer Virtuosität“ lobte Richard Ford „Das dritte Licht“, das aus der Erzählperspektive des jungen Mädchens geschildert wird. Tastend folgt der Leser den Beobachtungen des Kindes, wird als Miterlebender und Mitfragender in die Geschichte hereingeholt. Nichts, was über den Erlebnishorizont der Protagonistin hinausgeht, wird preisgegeben. Stattdessen legt Keegan ein Netz von Spuren, subtile Details, die von scharfer Beobachtungsgabe zeugen und weit über sich hinausweisen. Das Zusammenfügen der Splitter zu einem Mosaik überlässt sie zunächst dem Leser selbst.

Das Knappe, Lakonische ist stilbildend für Keegans Erzählungen, die nicht selten die Abgründe des Familienlebens zum Sujet haben. Minimalistische Erzählökonomie statt Hypertrophie der Ausdrucksmittel. Keegan vertraut auf die Intelligenz ihrer Leserschaft und verbringt mehr Zeit damit, ihre Erzählungen von dem Offensichtlichen zu reinigen als sie zu schreiben. So entstehen in einem fortschreitenden Prozess der Verdichtung Konstruktionen von ungeheuer suggestiver Kraft, über die eine Spannung des Unausgesprochenen schwebt. „Wenn ein Prosaschriftsteller genug über das weiß, worüber er schreibt, kann er Dinge auslassen, die er weiß, und der Leser wird, wenn der Schriftsteller aufrichtig genug schreibt, ein so starkes Gefühl dieser Dinge haben, als ob der Schriftsteller sie erwähnt hätte. Die Würde der Bewegung eines Eisbergs ist darauf zurückzuführen, daß nur ein Achtel von ihm über Wasser ist.“ Dieses Zitat von Ernest Hemingway wird nicht selten auf Keegans Erzählungen übertragen. Vielleicht lässt sich Keegans Schreibkunst mit Blick auf „Das dritte Licht“ noch prägnanter mit Antoine de Saint-Exupéry fassen: „Vollkommenheit entsteht offensichtlich nicht dann, wenn man nichts mehr hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.“

Titelbild

Claire Keegan: Das dritte Licht. Erzählung.
Überstezt aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser.
Steidl Verlag, Göttingen 2013.
103 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783869306094

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