Im Polizistenland

Cathi Unsworth schreibt in „Opfer“ an der unendlichen Geschichte von Polizeiwillkür, Gewaltexzess und Kindesmissbrauch weiter

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch Krimis haben ihre Konjunkturen und ihre Lieblingsthemen. Die fatale Wirkung einer vor allem lokalen Polizei, die eine Stadt oder eine Region als ihr Herrschaftsgebiet ansieht und dabei auch vor kriminellen Mitteln nicht zurückschreckt, gerät dabei immer wieder in den Fokus. Mit Varianten ist dieses Thema seit den 1950er-Jahren entwickelt worden, und es stammt eigentlich aus dem Western, der eh eines der wirkungsmächtigsten Genres des 20. Jahrhunderts ist: Sheriff hier, Revolverheld dort, und am Ende gibt’s einen Showdown, Pengpeng.

Obwohl diese Basisfigur eine Entwicklung des 20. Jahrhunderts ist, scheint es doch so recht nicht in unsere Zeit zu passen, in der die lokalen Grenzen keine Rolle zu spielen scheinen und die lokalen Mächte längst von den überregionalen oder globalen Akteuren verdrängt worden sind. Ein Satz wie „Diese Stadt gehört mir“ kann vielleicht noch der Schurke in einem der Batman-Filme sagen, aber das ist eben Comic, und ein Umland gibt es für Gotham City nicht. Es ist selbst die ganze Welt.

In der wirklichen Welt funktioniert das freilich nicht mehr (hat eigentlich nie funktioniert, seitdem das Mittelalter zu Ende ging), aber als Grundentwurf ist diese Idee sehr bedeutungsschwanger. Dass es hier um Macht geht, um Geld, um das Verschwinden der Grenzen zwischen Recht und Unrecht, um die Verführungskraft der Gewalt, um den Genuss, der irgendwann grenzenlos werden soll, ist offensichtlich. Dass die Welt sich trennt zwischen den Tätern, die eigentlich das Recht schützen sollen, und Opfern, die vor den Untaten anderer bewahrt sein sollten, ist dabei diesen Geschichten eingeschrieben.

Daraus folgt dann alles, was zu erzählen ist. In diesem Fall ist der Aufmacher ein Fall aus den 1980er Jahren, bei dem ein junger Mann zu Tode kam, blutig dekoriert und offensichtlich mit irgendwelchem Voodoo-Tamtam. Eine (damals) junge Frau sitzt seitdem, einigermaßen katatonisch, in einer Heilanstalt und gilt zweifelsfrei als Täterin. Allerdings sind neue Spuren auf den Beweismitteln aufgetaucht, die 20 Jahre später zur Neuaufnahme der Ermittlung führen. Ein ehemaliger Polizist, Sean Ward, wird auf den Fall angesetzt und fährt ins schöne Smalltown, um sich die Sache anzuschaun.

Selbstverständlich taucht er damit ein in einen Abgrund der lokalen Macht- und Geldelite, die mit der Polizei eng verbandelt ist. Er wühlt auf, was nicht aufgewühlt werden soll, findet am Ende den Täter und lässt dabei noch die eine oder andere Leiche zurück. Am Ende ist alles aufgelöst, der Bösewicht hat gebüßt und die arme Frau kommt frei. Die eine oder andere Motivation wird erkennbar. Die enge Verkupplung von Gewalt, Pornografie und Polizei wird offensichtlich. Eine lange Gewaltherrschaft geht damit zu Ende, und niemand weiß, was dann folgen wird.

Unsworth baut ihren Text dabei auf zwei Linien aus, die 2003 respektive 1983 spielen. In der Vergangenheit agieren Teenager, die einander nicht grün sind und deren Entwicklung bis hin zur blutigen Mordtat verfolgt wird. Das ist dann vor allem eine fast typische Adoleszenz-Geschichte, die noch mit ein bisschen Missbrauch und Gewalt verziert wird. Dass die wiederum mit der lokalen Polizei verbunden wird, wird nicht überraschen.

Die Gegenwartsgeschichte hat den Privatermittler und die mittlerweile gealterten Akteure der Vergangenheit zum Thema, die offensichtlich allesamt ihre besonderen Interessen verfolgen. Ziel ist die quasi frei ermittelnde Brechung des polizeilichen Gewaltmissbrauchs, wenn man so will, die Durchsetzung bürgerlicher Rechte im Polizistenland. „Copland“? Ja, sowas in der Art.

Beide Linien werden naheliegenderweise sukzessive aufeinander zugeführt, bis sie dann im Finale aufeinandertreffen und implodieren, was freilich kaum jemanden überraschen wird. Auch die Identität des wahren Täters ist wirklich nicht überraschend. Man mag andererseits aus alledem ein Sittenbild Englands in den 1980er-Jahren lesen, was kein wirklich freundliches Bild von ‚Provinzengland‘ abliefert. Die Alten missbrauchen ihre Kinder, die Jungen fallen übereinander her, kleine Hunde werden kahlgeschoren, Gewaltpornos sind ein Hit und finden zahlreiche Abnehmer. Will man in einer solchen Welt leben? Wahrscheinlich nicht.

Zumal aber deshalb nicht, weil wir es hier mit einem vielfach gebrauchten Abziehbild zu tun haben, das gerade in dieser Variante doch ziemlich verbraucht wirkt. Die Motivationen sind hinreichend, aber doch ein bisschen mager. Die Figuren werden als missbrauchende Missbrauchsopfer eingeführt, was hinreichend tragfähige nie endende Kreisläufe  ermöglicht. Die Entwicklung der Geschichte ist doch ziemlich behäbig. Lesbar ist „Opfer“ mithin aber doch – und zwar vor allem deshalb, weil Unsworth eigentlich alle Vorgaben fürs Krimischreiben einhält. Aber der große Wurf ist das Buch nicht.

Titelbild

Cathi Unsworth: Opfer. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Englischen von Hannes Meyer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
384 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783518464335

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