Mit Verve für Europa

Adolf Muschg fordert in seiner Rede „Vergessen wir Europa?“, in der Krise das zu erkennen, was Europa noch fehlt – eine große Erzählung der Einigung

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

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Dass Adolf Muschg viel und gern über Europa nachdenkt und seine Überlegungen durchaus interessant, klug und wichtig sind, hat er bereits mit dem 2005 erschienen Band „Was ist europäisch?“, der die Texte der Krupp-Vorlesungen versammelt, eindrücklich gezeigt. Da verwundert es kaum, dass Muschg die Gelegenheit nutzt und in der Rede, die er im Rahmen der traditionellen Wasserwerk-Gespräche der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bonn anlässlich des Tags der deutschen Einheit 2012 hielt, zur allgegenwärtigen Euro- und Europakrise Stellung bezieht. Erschienen ist die Rede nun in der Reihe „Göttinger Sudelblätter“ im Wallstein Verlag unter dem Titel „Vergessen wir Europa? Eine Gegenrede“.

Muschg bleibt auch in dieser Rede ein glühender Verfechter eines gemeinsamen Europas. Ein Scheitern des Euro schließt er kategorisch aus. Es gehe nicht an, heißt es eingangs, dass sich die gemeinsame Währung als „Sprengstoff“ erweise und das große Friedensprojekt Europa nun zu Fall bringe. Dieses eigentliche europäische (Friedens-)Projekt gelte es gegen den globalisierten Markt, der von Gier und Geiz regiert wird, zu verteidigen. Schon bei seiner Einführung sei der Euro laut Muschg mehr gewesen als ein Baustein zur Schaffung einer riesigen Freihandelzone: Er sollte einer gemeinsamen, europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik den Weg bahnen. Der oft geäußerten Kritik, die Politik habe mit dem Euro das Pferd gleichsam von hinten aufgezäumt, schließt sich Muschg also nicht an. Zwar ließe diese gemeinsame europäische Politik nach wie vor auf sich warten, heißt es weiter, doch könne sie nun, angesichts der Europa-Krise, die laut Muschg abzusehen und unvermeidlich war, die Chance, endlich Gestalt annehmen. Und zwar, wenn sich Europa darauf besinnt, wofür Europa eigentlich steht, was es aus seiner Geschichte gelernt haben muss: dass das Andere, dass Verschiedenheit schützenswert ist und man füreinander einstehen muss, weit über die Grenzen hinaus, die radikal-ökonomisches Denken vorgeben. Könnte sich Europa dazu entschließen, diese Solidarität für den und das Andere als seinen Kern anzunehmen und an diesen Wert zu glauben, hätte die Europäische Union damit auch jene „große Erzählung“, die ihr bisher als ideologische Grundlage noch fehlt. Dann wäre eine „Wende wie 1989“ möglich, die sich Muschg dringend wünscht.

Muschgs Rede glänzt vielleicht nicht durch einen allzu logisch-starren Aufbau und wirkt auch nicht kühl kalkuliert, sondern wird getragen von unglaublicher Verve. Sie ist rhetorisch brillant, klug und im besten Wortsinne pathetisch. Inhaltlich reiht sie sich ein in die immer zahlreicher erscheinenden Schriften europäischer Intellektueller, die sich dem Beispiel Stéphane Hessels folgend öffentlich äußern, Partei ergreifen für das europäische Projekt. Muschg fügt der Diskussion allerdings einen wesentlichen, neuen Aspekt hinzu: Als Erster spricht er explizit von einer großen Erzählung, die Europa fehlt. Damit dringt er zur Wurzel des eigentlichen Problems vor, das jetzt, in der Krise, besonders deutlich zutage tritt. Muschg verortet das Europa-Problem damit endlich auch klar und deutlich in seiner philosophischen Dimension. Seine Argumentationslinie ist auch moralphilosophisch motiviert. Und das ist auch der Grund, warum sie jene, die Begriffe wie Moral und Philosophie nur noch vom Hörensagen kennen und sie als abstrakte Geistesliebhaberei ohne jegliche Relevanz für konkretes realpolitisches Handeln abtun, nicht überzeugen können wird. Jenen, die dagegen finden, die Realpolitik kranke seit Jahren gerade daran, dass abstrakte Begriffe (wie der höchst aktuelle Begriff der „Schuld“ in der europäischen Diskussion) seit Jahren heruntergebrochen werden zu einem oft lächerlichen, dafür konkreten Restgehalt (wie „Schulden“), werden sich bestätigt finden und sich freuen, diese klare, deutliche Stimme innerhalb des Europa-Diskurses zu hören, die sich dem herrschenden Diktat, alles zuerst und/oder ausschließlich in seiner ökonomischen Dimension zu betrachten, nicht fügt. Zweifellos unterstreicht Muschg mit seiner Rede einmal mehr seine Rolle als kluger und leidenschaftlicher Schweizer Europa-Kommentator. Eine große Rede zu einem großen Thema.

Titelbild

Adolf Muschg: Vergessen wir Europa? Eine Gegenrede.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
40 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312692

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