Zeit in Worte gefasst

Johannes Pause untersucht Temporalitätskonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Von Michael OstheimerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ostheimer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Diagnose lautet: In den letzten beiden Jahrzehnten erschienen eine beträchtliche Anzahl von ‚Zeitromanen’, in denen das subjektive wie das objektive Zeitgefüge in eine weitreichende Krise geraten sind. Die These, die daraus folgt: Die Behauptung von der im 20. Jahrhundert vollzogenen Ablösung des Zeit-Paradigmas durch das Raum-Paradigma ist zu relativieren. In seiner Untersuchung von Temporalitätskonzepten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur beweist Johannes Pause eine gehörige Portion Mut. Er polemisiert nicht nur gegen eine zentrale Hintergrundüberzeugung des Übergangs von der Moderne in die Postmoderne, sondern setzt sich auch von der monumentalen Studie zu Zeitdiskursen in der Gegenwartsliteratur von Ralf Kühn ab (TempusRätsel zum TempusWechsel. Moderne Zeitdiskurse und Gegenwartsliteratur zwischen Berechnung und Verrätselung der Zeit, Freiburg 2005). Von Kühn, der die Pluralisierung der Zeitkonzepte – seien sie philosophischer, soziologischer oder auch naturwissenschaftlicher Provenienz – als ein maßgebliches Kennzeichen der aktuellen Zeittheorie herausstellt, distanziert sich Pause, indem er zu zeigen versucht, „dass die Zeitmotivik, die in der Gegenwartsliteratur zu neuer Virulenz gelangt, sich in wesentlichen Aspekten von derjenigen der klassischen Moderne unterscheiden lässt“.

Wer ein derartig großräumiges Vorhaben, das auf der Repräsentativität des Zeit-Paradigmas basiert, in Angriff nimmt, sollte zuvor freilich das von ihm vorausgesetzte Verhältnis zwischen Zeit und Literatur bestimmt haben. Verschiedene Relationierungen wären denkbar. Etwa: Literatur, die über Zeit vor dem Hintergrund der in den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen geführten Diskurse nachdenkt (Kühn 2005). Oder: Literatur, die mit Zeitvorstellungen in einer fiktiven Welt experimentiert (um die spezifisch ästhetische Prozesshaftigkeit und Formdynamik von Zeit zu erfassen). Oder auch: Literatur, die Zeit als Phänomen des Erzählens problematisiert (um strukturelle Eigenheiten von Artefakten zu exponieren).

Eine derart grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Zeit und Literatur indes fehlt bei Pause. Dieses Versäumnis wird insbesondere dann spürbar, wenn die Historisierung der Zeit-Erfahrung auf den „Gemeinsamkeiten des gegenwärtigen literarischen Zeit-Diskurses“ und dem „diagnostischen Anspruch der literarischen Zeit-Experimente“ aufruhen soll. Lässt man aber einmal die Leitthese beiseite, so entspinnt sich eine umsichtige, genau gearbeitete Studie, die stets auf Augenhöhe mit der einschlägigen zeittheoretischen Forschung agiert: In drei Kapiteln werden der literarische Zeit-Diskurs um 1900 zusammengefasst, zentrale zeitmotivische Diskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vorgestellt und anhand von Einzelinterpretationen neuerer ‚Zeitromane‘ originelle literarische Zugänge gewürdigt.

Im ersten Kapitel arbeitet Pause heraus, inwiefern das Zeitbewusstsein ein historisches, kulturell geprägtes Konzept ist, das in der Literatur um 1900 in Form eines zentralen Konflikts zwischen offizieller Geschichtszeit und subjektiver Zeiterfahrung zum Austrag kommt. So kehren etwa Texte von Richard Beer-Hofmann, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke die Hierarchie von Weltzeit und ‚Eigenzeit‘ (Helga Nowotny) schlichtweg um und stellen auf diese Weise temporale Erfahrungsweisen des Individuums in den Mittelpunkt.

Gegen die Homogenität einer ökonomisch determinierten Zeitauffassung bringt Pause im zweiten Kapitel eine Pluralität subjektiver Zeitauffassungen in Stellung, die als parallele Simultaneität verschiedener Zeitstrukturen, Zeiterfahrungen und Zeitkonzeptionen koexistieren. Das Verhältnis von gesellschaftlichen Zeitstrukturen und subjektiver Zeiterfahrung wandle sich in der Zeit zwischen den Romanen der klassischen Moderne und der Gegenwartsliteratur, nicht zuletzt aufgrund der Entwicklung audiovisueller und digitaler Medien.

Anzumerken wäre hier, dass die historisch-soziologische Ebene des sich wandelnden Zeitbewusstseins samt der dazugehörigen neuen Formen der krisenhaften Zeiterfahrung zwar gut nachgezeichnet wird, deren Auswirkungen auf die Literatur aber zu monokausal beziehungsweise auf zu schmaler Basis veranschlagt werden: Pause beansprucht etwa Peter Høegs „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“ und Peter Kurzecks „Keiner stirbt“ als literarische Exponenten einer Krise der sozialen Zeit, übersieht dabei aber, dass in beiden Romanen das gestörte subjektive Zeitempfinden vor allem ein Symptom für ein zugrundeliegendes Trauma darstellt (siehe zum Zusammenhang von Zeitempfinden und Trauma Harald Fricke: „Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie“, Göttingen 2004). Wenn aber traumatische Erfahrungen, also je individuelle Problemkonstellationen, die Ursache für bestimmte Symptomstrukturen bilden, kann man diese Literatur nur bedingt als repräsentativ für die Krise der sozialen Zeit gegen die Literatur der klassischen Moderne positionieren. Vielmehr zeigt sich an diesem Punkt, dass der Zusammenhang aus temporaler Desorientierung und Traumaforschung durchaus noch ein narratologisches Desiderat markiert.

Überdies kann Pause die Behauptung, dass die Gegenwartsliteratur eben nicht wie die der klassischen Moderne auf Überlagerungen der Gegenwart durch die Vergangenheit basiert, nur deshalb aufstellen, weil er die zeitgenössische Erinnerungs- und Familienliteratur nahezu gänzlich abschattet. Konsequenterweise gerät die ‚Vergangenwart‘ (Meike Herrmann) als zentrale identitätsstiftende Zeitekstase für die Gegenwartsliteratur nicht in den Blick. Im Ergebnis relativiert das ein wenig den Anspruch, einen „exemplarische[n] Überblick über die gegenwärtige Zeit-Literatur“ zu bieten.

Im dritten Kapitel pointiert Pause anhand dreier Gegenwartsromane (Daniel Kehlmann: „Mahlers Zeit“, Helmut Krausser: „UC“, Thomas Lehr: „42“) einen literarischen Zeit-Meta-Diskurs, der Zeit als Thema und ästhetisches Formexperiment entfaltet. Während Kehlmanns Protagonist gegen das lineare Zeitmodell aufbegehrt, entwirft Krausser eine Opposition gegen das lineare Zeitverständnis und eine Erfahrungswelt, in der die Zeiterfahrungen der Vergangenheit an Gültigkeit verloren haben, Lehrs Figuren driften ziellos und ohne Erlösungshoffnung in der Zeit einer extrem subjektivierten Welt.

Am Ende dringt Pauses Neigung zu spekulativen Abstraktionen wieder durch, wenn er schließt: „Während in den Werken der klassischen Moderne das Subjekt in einem grundsätzlichen Konflikt mit den gesellschaftlichen Strukturen und Normen steht, gegen die es seine Eigenzeit zur Geltung zu bringen versuchte, wird in der Gegenwartsliteratur also gerade die Aufwertung dieser ‚Eigenzeit‘ als Zerstörung der sozialen Zeit und infolgedessen als Schwächung des Subjekts bewusst“.

Abgesehen von der großräumigen, zum Widerspruch geradezu herausfordernden These verbindet Johannes Pauses Studie eine gute Aufarbeitung des Forschungsstandes zum literarischen Zeitdiskurs mit exemplarischen Analysen, die die Zeit-Spezifität der Gegenwartsliteratur veranschaulichen. In einer polychronen Moderne, in der die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen eine grundlegende Erfahrung darstellt, ist das nicht wenig. Pause liefert eine Reihe von Ansätzen, die es in Zukunft – z. B. von dem gerade ins Leben gerufenen DFG-Schwerpunktprogramm „Ästhetische Eigenzeiten“ – zu erweitern, auszudifferenzieren bzw. auf einer breiteren Basis materiell zu fundieren gilt. Dabei wird man kaum auf folgende Aspekte verzichten können: 1. Eine präzise Verhältnisbestimmung von Zeit und Literatur; 2. eine klare Abgrenzung des Begriffs „Gegenwartsliteratur“; 3. eine gesonderte Betrachtung der Erinnerungsliteratur und der Literatur pathologischer Zeiterfahrungen; 4. eine versuchsweise Überwindung der Entgegensetzung von Zeit- und Raum-Paradigma (in Anlehnung etwa an Michail Bachtins Konzept des ‚Chronotopos‘).

Titelbild

Johannes Pause: Texturen der Zeit. Zum Wandel ästhetischer Zeitkonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Böhlau Verlag, Köln 2012.
350 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783412207380

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