Verlorene Generation

In seinem Roman „Ginster“ beschreibt Siegfried Kracauer einen vom Ersten Weltkrieg deformierten Charakter

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf der „Bücherliste“, die Thomas Mann 1928 in einem Beitrag für die Zeitschrift „Das Tagebuch“ dem geneigten Publikum vorstellte, befand sich auch der Roman „Ginster, von ihm selbst geschrieben“. Ein „Zeitdokument von Wert“ schrieb Thomas Mann, „als dessen Verfasser ein bekannter Journalist genannt wird“. Das war Siegfried Kracauer. Für die Feuilleton-Redaktion der „Frankfurter Zeitung“ schrieb der 1889 in Frankfurt geborene Kracauer regelmäßig seit Beginn der 1920er-Jahre. In seinen „Straßentexten“ wusste er prägnante Beobachtungen lebensalltäglicher Situationen so zu beschreiben, dass nachvollziehbar wurde, was Walter Benjamin einmal im Zusammenhang mit dem Montageprinzip formuliert hatte – „in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens“ zu entdecken. Mit seinen Denkanregungen, die sich auch formal der eindeutigen Zuweisung als journalistischer, soziologischer oder philosophischer Text entzogen, wurde Kracauer zu einem frühen Wegbereiter dessen, was heute als „Frankfurter Schule“ bekannt ist. Vielbeachtet war eine Serie, die er in der „Frankfurter Zeitung“ veröffentlicht hatte und die 1930 als Buch zum Klassiker wurde: „Die Angestellten“.

1928 schließlich erschien im S. Fischer Verlag der Roman „Ginster“, der nun im Suhrkamp Verlag eine Neuauflage erlebt. Thomas Mann mochte sich berührt fühlen. Denn als „Zeitdokument“ thematisiert der Roman ein Geschehen, dem er selbst ausgesetzt gewesen war und das er jetzt, 14 Jahre später, mit gemischten Gefühlen betrachtete – der Erste Weltkrieg. Dessen Ausbruch im Jahr 1914 war auch von ihm mit erstaunlich politikfernen Begründungen begrüßt worden – und es brauchte Zeit, bis auch Thomas Mann sich von seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ emanzipiert hatte.

Unpolitisch, unbestimmt in seine Lebensplänen erscheint auch Ginster, ein junger Architekt, der im Mittelpunkt des Romans steht. Und so gerät er in die Kriegszeiten. Er beobachtet die Kriegseuphorie um ihn herum mit zwiespältigen Gefühlen. Zur Sicherheit möchte er mitjubeln, aber Ginster gehört zu jenen Menschen, denen Anbiederung misslingt. Er gehört zu denjenigen, die, wenn sie versuchen mit den Wölfen zu heulen, von eben diesen misstrauisch weg gebissen werden. Er ist einer, der nie zu allen anderen gehört. Trotzdem bleibt da eine Faszination für das Geschehen um ihn herum, dem das Militärische so markant den Stempel aufdrückt. Früh indes wird Ginster klar, dass die überdrehte Begeisterung für diesen Krieg die eine Sache ist – eine ganz andere aber die Teilnahme an diesem Krieg. Es gelingt ihm zunächst der Einberufung zu entkommen. Als Architekt im heimischen Frankfurt ist er unabkömmlich, bezeichnenderweise weil er Munitionsfabriken bauen soll und an den Planungen eines riesigen Ehrenfriedhofs für die Gefallenen des Krieges beteiligt ist. Als im Verlauf des Krieges angesichts der immensen Menschenverluste schließlich eine Einberufung nicht mehr zu verhindern ist, rückt auch Ginster in die Kaserne ein. Doch bevor er von dort an die Front muss, greifen die gesellschaftlich bewährten Formen der Protektion und Solidarität innerhalb akademischer Eliten. Ginster wird „D.a.v.H.“ geschrieben – Dauernd arbeitsverwendungsfähig Heimat. Man gratuliert. „Ginster wehrte den Glückwunsch bescheiden wie ein Künstler ab, von Verdienst keine Spur, alles rein sachlich zu nehmen, ein bloßes Ergebnis. […] Auch die Bürokanoniere gratulierten, lauter Kollegen, soviel Menschlichkeit mitten im Krieg“.

Kracauer schreibt in einem an pointierter Zuspitzung geschulten sachlichen Stil. „Kultiviert und sicher“ lobt Thomas Mann die Prosa, zudem „in der Stimmung von kaustischer Resignation“. Insofern hinter dieser Resignation eine Erkenntnis über den Zustand der Verhältnisse steht, rührt sie freilich eher vom wissenden Autor her. Ginster selber, so scheint es, ist zu diesem Schritt der Erkenntnis, die ihn zu Konsequenzen nötigen würde, nicht willens oder fähig. Der Krieg hat ihn bereits zu einem deformierten Charakter gemacht. Er ist nicht mehr gesellschaftsfähig. Er flieht der Gesellschaft. Am Ende des Romans sehen wir ihn in Marseille. Einer, dem auch die Weimarer Republik keinen Halt mehr geben wird – ein endgültig Verlorener.

Es ist begrüßenswert, dass der Suhrkamp Verlag diesen Roman eines bedeutenden Autors des vergangenen Jahrhunderts wieder auflegt. Aber Kracauers Bedeutung ergibt sich nur zu einem geringen Teil aus seinen schriftstellerischen Tätigkeiten als Romanautor. Um also die Bedeutung des Buchs heute noch oder wieder einordnen zu können, wäre die Anstrengung eines erläuternden Nachwortes wünschenswert gewesen. Oder bedeutet „Suhrkamp-Kultur“ in schweren Zeiten in diesem Fall nur, einen weiteren Autor aus den unermesslichen Tiefen des Verlagsfundus zur schnellen Vermarktung hervorzuholen?

Titelbild

Siegfried Kracauer: Ginster. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
345 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423530

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