Weil Massenmörder Blumen züchten

Klaus Kempter hat ein Buch über den jüdischen Historiker herausgegeben, der sich nach zwei Jahrzehnten des Wirkens in der BRD aus dem Fenster stürzte

Von Jörg SpäterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Später

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 10. Oktober 1974 stürzte sich Joseph Wulf aus der vierten Etage seiner Berliner Wohnung und starb.

Wulf war ein Jude aus Polen, 1912 geboren, der 1952 die ehemalige Hauptstadt des Deutschen Reiches zu seinem Lebensmittelpunkt wählte. Er überlebte Auschwitz (während seine Eltern und sein Bruder samt Familie ermordet wurden) und gründete im Frühjahr 1945 mit anderen die dortige Jüdische Historische Kommission, die Dokumente der Judenvernichtung sammelte. Wulf gehörte somit zu den sogenannten Churban-Historikern (Churban war in Ableitung der Zerstörung des Jerusalemer Tempels die erste hebräische Bezeichnung des Judenmordes), die in der Tradition Simon Dubnows und Emanuel Ringelblums möglichst viele Quellen der jüdischen Vergangenheit zusammentrugen. Nach dem Krieg war er zunächst in Polen, Schweden und Frankreich tätig gewesen, im Rahmen einer „Internationale der Überlebenden“, die ausgehend von jenen Kommissionen die Geschichte der Schoah aus jüdischer Perspektive darzustellen trachtete. Nach Berlin hatten Wulf schließlich eher triviale Gründe verschlagen – sein Vater hatte dort ein Mietshaus besessen, das er restituieren konnte, und er hatte Kontakte zu Journalistenzirkeln. Dort verbrachte er nun gut zwei Jahrzehnte, ehe er den Freitod wählte.

Wulf war nicht der einzige Überlebende eines Vernichtungslagers, der erst viel später Hand an sich legen sollte. Jean Améry, Paul Celan, Peter Szondi sind weitere Fälle. Im Unterschied zu diesen Prominenten ist der Pionier der Holocaustforschung heute eher ein Unbekannter. Im Lager aus der Welt gefallen, im Land der Mörder als akademischer Außenseiter angetreten, durch Suizid aus dem Leben geschieden – war Joseph Wulf also ein rundum Gescheiterter, ein durchweg Traumatisierter, ein gezeichnetes Opfer? Klaus Kempter, Heidelberger Historiker, zeichnet in seiner in der Schriftereihe des Simon-Dubnow-Instituts erschienenen Biografie ein durchaus anderes, ein sehr nuanciertes Bild. Auch Kempter geht von einer tiefen Resignation Wulfs an seinem Lebensende aus. So schrieb dieser zwei Monate vor seinem Tod an seinen Sohn: „Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst Dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“ Bei den professionellen Historikern sei er zudem eher auf Ablehnung gestoßen, und das antiisraelische Klima infolge des Sechstagekrieges habe ihm schwer zugesetzt. Der Tod seiner Frau habe ihn letztlich aus der Bahn geworfen. Alles zusammen mag nach Kempter eine gewisse Retraumatisierung bewirkt haben, eine Wiederkehr des Gefühls jüdischer Isolation und Hilfslosigkeit.

Doch dem Narrativ vom allzeit unverstandenen und ausgegrenzten Auschwitz-Opfer, dessen Martyrium im September 1939 begann und bis zum Oktober 1974 dauerte, will der Biograf nicht folgen. Vielmehr müsse man sich den vitalen Wulf zeitweise als glücklichen Menschen vorstellen. In der Tat kann das Nicht-dazu-gehören starke Menschen stärker machen (und schwache Menschen eben schwächer, wie einst Lion Feuchtwanger bei den Emigranten beobachtete). Und Wulf war nach Kempters Porträt ein willenstarker Einzelgänger par excellence, ein solitärer Intellektueller, ein „mit Extraterritorialität begabter Einzelner in einem Milieu, mit dem er keine Bindungen hatte“. Weder wollte er die deutsche Staatsbürgerschaft, noch war er Teil der Berliner Jüdischen Gemeinde. Wulf war kämpferisch, produktiv, sichtbar. Er hatte – bevor er in den 1970er- und 1980er-Jahren „vergessen“ werden sollte – einen bekannten Namen, war ein gefragter Mitarbeiter beim Rundfunk, lernte zahlreiche Angehörige der kulturellen Elite Deutschlands kennen und erhielt Ehrungen, die ihm viel bedeuteten. Kurzum, Wulf hatte relativen Erfolg in der Öffentlichkeit.

Auch für die NS- und Holcaustforschung habe er bleibende Erkenntnisse hinterlassen, die seinerzeit und auch eine Weile danach noch nicht aufgegriffen wurden, erst in den 1990er-Jahren. Kempter zählt dazu in erster Linie die Einsicht in die Komplizenschaft der traditionellen deutschen Eliten bei den NS-Verbrechen und die Täterforschung, die sich auf Naziführer der zweiten Reihe wie Hans Frank oder Martin Bormann, aber auch auf Verwaltungsfunktionäre der deutschen Besatzung bezog. Als Vorläufer und Pionier, dessen „eigentliche Universität Auschwitz“ gewesen sei (Wulf), war er am eigentlichen Kern des Geschehens interessiert, dem „Ausrotten, ausrotten!“. Die professionellen Zeithistoriker dagegen hätten sich nach Wulfs Auffassung zu sehr mit Oberflächenerscheinungen und Kompetenzgerangel innerhalb der NS-Herrschaft beschäftigt, zudem zu stark zwischen Nazieinheiten, Wehrmacht und Besatzungsverwaltung unterschieden.

Die jungen Historiker am Münchner Institut für Zeitgeschichte, allen voran Martin Broszat, betrachteten umgekehrt die Arbeit und das Temperament des wissenschaftlichen Laien und Vielschreibers mit Skepsis. Das betraf seine Arbeitsweise des Sammelns und Entlarvens, aber auch seine Betroffenheit: Einem Opfer trauten die jungen deutschen Männer offenbar nicht zu, objektiv und nüchtern Geschichte zu schreiben. Das kam einer zweiten Ausgrenzung gleich, denn waren die Mitläufer, die während der NS-Zeit unter relativ normalen Bedingungen weiterleben konnten – von den Vielen, die in die organisierten Verbrechen eingebunden waren, ganz zu schweigen – nicht mindestens so befangen wie der entkommene Jude? Martin Broszat etwa war Mitglied der NSDAP gewesen, verschwieg dies allerdings bis zu seinem Tod.

Nicolas Berg hat das „Pathos der Nüchternheit“ der Zeitgeschichte und den Funktionalismus in der Analyse des NS-Systems in seinem Buch „Der Holocaust und die westdeutschen Historiker“ (2003) eine „Mitläufererzählung“ genannt. Vor allem Hans Mommsen sah damit Broszats und sein eigenes Lebenswerk denunziert und schoss scharf gegen diese Interpretation. Kempter folgt nun weitgehend Bergs Argumentation. Wie auch immer: Dass funktionalistische Betrachtungsweisen zwangsläufig dazu führen müssen, die Perspektive von NS-Funktionären einzunehmen und nicht die der jüdischen Opfer, ist zwar nicht zwingend (wenn es auch eine innere Logik gibt). Dass jedoch der Siegeszug des Funktionalismus in der Zeitgeschichte, gepaart mit dem Kalte-Kriegs-Gefecht, ob der Nationalsozialismus faschistisch oder totalitaristisch gewesen sei, zum Vergessen eines jüdischen Historikers wie Joseph Wulf, einem Vorläufer der Holocaustforschung, maßgeblich beigetragen hat, ist doch sehr wahrscheinlich. (Die innere Logik besteht darin, dass sich der Funktionalismus für das Wie und nicht das Warum, mehr für Strukturen statt Ereignisse interessiert.)

Wulf kam mit seiner Art der Täterforschung und seinem Insistieren auf eine jüdischen Perspektive einfach zu früh. Sein letztes Projekt Ende der 1960er-Jahre, ein internationales Dokumentationszentrum im „Haus der Endlösung“ am Wannsee einzurichten, scheiterte am Zeitgeist. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz meinte damals, Berlin brauche keine „makabre Kultstätte“. Besser solle das Haus weiter als Schullandheim für den Arbeiterbezirk Neu-Kölln, also für eine bessere Zukunft genutzt werden. Seit 1992, 50 Jahre nach der Wannseekonferenz und 25 Jahre nach Wulfs Initiative, dient es doch als Gedenk- und Bildungsstätte. Dort wurde er im vergangenen Jahr mit einer Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag geehrt. Kempters Buch über ein jüdisches Historikerschicksal in Deutschland ist ebenfalls eine Würdigung, die hoffentlich weder zu früh noch zu spät kommt.

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Klaus Kempter: Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012.
460 Seiten, 64,95 EUR.
ISBN-13: 9783525369562

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