Die Strafe Gottes

Die marokkanische Autorin Saphia Azzeddine hat mit „Zorngebete“ einen weiblichen Entwicklungsroman verfasst

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Zorngebete“, das erinnert, zumindest im Wortklang an „Feuchtgebiete“. Unter diesem Titel erschien bekanntlich vor einigen Jahren ein sich erfolgreich als Skandalbuch gerierender Arztroman von Charlotte Roche. Und genau darauf scheint der Wagenbach Verlag gesetzt zu haben, als er den jüngsten Roman der marokkanischen Autorin Saphia Azzeddine unter diesem Signet auf den deutschsprachigen Markt brachte. Denn der Titel der französischen Originalausgabe lautet weit weniger anspielungsreich „Confidences à Allah“.

Tatsächlich hat der hierzulande als „Zorngebete“ firmierende Roman auf den ersten Blick einige Gemeinsamkeiten mit dem Erstling der als Schriftstellerin so wenig überzeugenden ehemaligen Viva-Moderatorin. Aber wirklich nur auf den allerersten. Denn da sticht insbesondere die gelegentlich recht rüde Diktion ins Auge, mit der Sexualität und Intimbereich angesprochen werden. So wird bei Azzeddine bereits auf den ersten zehn Zeilen „gevögelt, was das Zeug hält“.

De facto aber haben beide Bücher herzlich wenig miteinander gemein, wie sich bei der Lektüre des neuen Romans schnell zeigt. Im Gegenteil, es handelt sich geradezu um Antipoden. Richtet sich das antifeministische Obszönitäten-Kabinett Roches ganz offensichtlich an spätpubertierende Mädchen im Alter ihrer Protagonistin, so imaginiert Azzeddines Ich-Erzählerin namens Jbara ihr Publikum als Teil jener „Weißen und Reichen“, denen Bedienstete wie die Protagonistin des Romans gerne einmal ins Essen spucken. Ist Roche schlicht außer Stande, ihren Figuren einen anderen als ihren früheren VIVA-Ton zu verleihen, lässt Azzeddine Jbara die bewusste Entscheidung treffen, „keine Poesie hineinzulegen, wo keine ist“. Eine Ankündigung, an die sie sich hält. Doch sind ihre durchaus derben Metaphern dabei oft so erhellend, dass sie unwillkürlich amüsieren.

Insgesamt ist der Roman in einem unprätentiösen und scheinbar leicht dahinerzählenden, zweifellos aber sehr ausgefeilten Duktus gehalten. Gelegentlich fließen dabei sogar aphoristische Sentenzen von einiger Tiefe ein: „Es tut so weh, immer nur jemand anders zu sein und niemals jemand.“ Zudem entwickelt sich Jbaras Sprachgewandtheit in dem Maße, in dem sich ihre Erfahrungswelt erweitert. Roches Romanheldin genügt sich hingegen in Selbstbespiegelung.

Einen weiteren ganz eigenen Ton findet Jbara in ihren zahlreichen Gesprächen mit Allah, der „bestimmt sehr schön, sehr barmherzig und auch sehr glorreich“ ist. Sie erlaubt es sich, mit ihm ganz „schonungslos“ zu sprechen. Denn „da Du sowieso alles hörst, was man im tiefsten Herzen denkt, werden dich ein oder zwei unpassende Worte nicht schockieren, oder?“ Er ist schließlich auch „der einzige“, der ihr „nie widerspricht“. Denn glücklicherweise ist der Roman realistisch genug, sie nicht wirklich in einen Dialog mit Allah treten zu lassen.

Noch ein letztes Wort zu dem durch den Titel provozierten Vergleich mit Roches Roman: Während dieser von untergründiger Konservativität durchdrungen ist, strahlt aus jeder Seite von Azzeddines weiblichem Entwicklungsroman ein emanzipatorischer Impetus hervor.

Nun aber ganz zu Azzeddines bemerkenswertem Werk, das in der Schwebe lässt, ob die Erzählerin wirklich stets so naiv ist, wie sie auftritt. Jedenfalls versteht es die Autorin, gerade durch diese scheinbare oder tatsächliche Naivität Leiden und Lächerlichkeit ihres Vaters („ein armes Schwein und ein armer Trottel“), die Schicksalsergebenheit ihrer Mutter (die gelegentlich den einzigen ihr bekannten Koranvers herunterbetet und öfter mit den Karotten spricht), die betrügerische Selbstsucht des dörflichen Imams (ein „Fkih“ und der „größten Idiot“) oder die Niederträchtigkeit der armen wie der reichen Freier zu Tage treten zu lassen. Und wenn Azzeddine ihre Protagonistin feststellen lässt, es scheine, dass das „Loch“ zwischen ihren Schenkeln „seit Tausenden von Jahren als ,Mittelpunkt der Welt‘“ gilt, darf dies getrost als kenntnisreiche Anspielung der Autorin auf den Titel des wohl bekannten Gemäldes eines französischen Malers des 19. Jahrhunderts gelesen werden. Die Ich-Erzählerin ist jedenfalls der Ansicht, dass es „absolut gesehen“ keinen Unterschied macht, „ob man gelocht ist oder nicht“. Ganz so ohne Belang scheint es ihr später jedoch nicht mehr: „er ist eine Strafe Gottes, dieser Pimmel, ich schwör’s!“ Damit meint sie nicht etwa, für die Frauen, sondern für den Mann. Obwohl er es für sie ganz zweifellos nicht weniger ist.

Jbara, ein zu Beginn der Handlung sechzehn-jähriges Mädchen, das in dem arabischen Dörfchen Tafaflit Schafe hütet, vom Vater herumgescheucht wird und der Mutter stets zu Diensten sein muss, lässt sich in ihrer Naivität regelmäßig von einem Mann aus dem Nachbarort „besteigen“, weil er sie dafür mit einem sie in ihrer Trostlosigkeit für Augenblicke geradezu beseligenden Fruchtjoghurt bezahlt. Über kurz oder lang wird sie schwanger und demzufolge von der Familie verstoßen. Durch einen – wie es scheint glücklichen – Zufall, von dem sie glaubt, Allah habe seine Hände im Spiel gehabt, erreicht sie einen größeren Ort, in dem sie ihr Kind unmittelbar nach der Geburt aussetzt und sich aus Not prostituiert. Jbara versucht vergeblich, dieses Kind zu vergessen. Doch „sie schafft es nicht, also weint sie“, spricht die Ich-Erzählerin nun plötzlich von sich in der dritten Person, um in scheinbar kühler Distanz fortzufahren, „sehr durchwachsen, vorhersehbar bis zum Gehtnichtmehr. Schwamm drüber“.

Im Laufe der Zeit wird sich Jbara nicht mehr aus schierer Not prostituieren, sondern „weil ich mehr haben will“. Mehr haben, das heißt für sie vor allem, sich Dinge leisten zu können, die sie aus der Werbung kennt und die ein amerikanisches Flair umweht. So wird sie „erstklassig“ und erhält 3000 Dinar, wenn man „auf mich draufpinkelt“. Auf dem Weg zu ihren Freiern, die sie mit einer brutalen Selbstverständlichkeit gebrauchen und deren frauenverachtende Fantasie sich noch manch andere Erniedrigung ausdenkt, trägt sie oft ein verschleierndes Tuch, einen lizar. Er ist ihr „Freiraum“, denn „wer würde so respektlos sein zu glauben, dass sich unter meinem lizar eine Nutte verbirgt?“ Während einer der zahlreichen Sexparties eines Scheichs aus der Golfregion und seiner Kumpanen werden sie und die anderen Frauen schließlich wegen „illegaler Prostitution“ verhaftet, während die Männer sich händeschüttelnd von dem Polizeioffizier verabschieden, wobei offenbar reichlich Bakschisch fließt.

Nach mehreren Jahren Gefängnis fehlen der nunmehr abgemagerten Ich-Erzählerin zwei Schneidezähne, sodass ihre ‚Karriere‘ als Prostituierte ein Ende findet. Sie wird die Drittfrau eines städtischen Imams, trägt wieder den Ganzkörperschleier und wird von ihrer Schwiegermutter tyrannisiert. Schien ihr der lizar früher einen Freiraum zu bieten, so fühlt sie sich nun als „Gefangene des Schleiers“. Doch kann sie unter ihm wenigstens „jederzeit weinen“.

Mit der Zeit findet sie ihren Mann, den Imam, „gar nicht übel“. Zwar sagt er „ziemlich viel Unsinn, ist ein bisschen zu anhänglich, aber er hat nie die Hand gegen mich erhoben und spricht sehr freundlich mit mir, oft“. Er ist einer der wenigen Männer in ihrem Leben, der wenigstens erträglich ist. Im Lauf der Jahre werde sie sogar „mehr und mehr zu Komplizen“, wie sie findet. Denn er beginnt sie nach ihrer Meinung zu fragen, um sich über ihre Antworten zu amüsieren, „das sei erfrischend für ihn“. Schließlich pflegt sie ihn auf dem Sterbebett und meint nun, dass es damals in Tafaflit vielleicht doch gar nicht so schlecht war. Mag die Handlung derart dürr zusammengefasst auch reichlich resignativ klingen, ist dies keineswegs der Tenor des Buches.

Gegen Ende des Romans spielt die Protagonistin einmal kurz und nicht sehr ernsthaft mit dem Gedanken, Selbstmordattentäterin zu werden. Aber ihr dschihad ist ein anderer: „Ich lerne, wer ich bin.“ Und auch die Lesenden werden nicht nur bestens unterhalten, sondern können so manches lernen von Jbara, der Erzählerin.

Titelbild

Saphia Azzeddine: Zorngebete. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Sabine Heymann.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
121 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132482

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