Vom Goldenen Zeitalter zum sexuellen Winterschlaf

Shereen El Fekis Buch über Sexualität in Ägypten bietet ungeachtet einiger Schwächen zahlreiche Informationen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Sex keineswegs mit Liebe identisch ist oder auch nur notwendigerweise mit ihr einhergehen muss, ist kein Geheimnis. Dennoch werden die beiden Begriffe oft synonym verwendet. Das heißt, es ist nicht selten von Liebe die Rede, wenn eigentlich Sex gemeint ist. So auch im Untertitel eines soeben erschienen Buches von Shereen El Feki, der ankündigt, das Werk handele vom „Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt“. Dafür spricht sein Titel „Sex und die Zitadelle“ gleich im ersten Wort allerdings deutlich aus, worum es wirklich geht. Vermutlich sollte also nur eine unschöne Wiederholung des Begriffs vermieden werden. Der englische Untertitel der Originalausgabe spricht im Übrigen von „Intimate Life“.

Jedenfalls handelt das Buch von sexuellen Praktiken und den damit verknüpften sittlichen und religiösen Vorstellungen im arabischen Raum mit besonderem Fokus auf Ägypten, und hier wiederum auf Kairo. Sie habe „nicht ein weiteres Buch darüber, was in der arabischen Region falsch läuft“ geschrieben, wirbt die Autorin eingangs für die Lektüre ihres Buches, sondern lege vielmehr ein „Album mit Schnappschüssen“ zum Thema vor, die zeigen, „wie Menschen in den einzelnen Ländern ihre Probleme lösen“. So handele es sich weder um einen „akademischer Schmöker“ noch um ein „Panoptikum arabischer Exotika“. Damit ist der Band treffend charakterisiert, wenngleich er einem Panoptikum arabischer Erotika um einiges näher kommt, als einem wissenschaftlichen Werk

El Fekis Buch gründet primär auf zahlreiche Gespräche, die von der walisisch-/ägyptischstämmige Journalistin, die in Kanada aufwuchs und heute überwiegend London und Kairo lebt, mit ÄgypterInnen unterschiedlicher Schichten geführt wurden.

Ebenfalls zu Beginn des Buches exkulpiert sie den Islam von der etwaigen Schuld, die sexuellen Freiheiten der Gläubigen einzuengen. Denn er erlaube den Menschen sehr wohl „eigenständige Entscheidungen zu treffen und ihr sexuelles Potenzial auszuschöpfen“. Durch ihre „Interpretation des Islam“ hätten jedoch „viel Muslime sich selbst und ihrer Religion Fesseln angelegt“. Nur darum herrsche ein „kollektives Unbehagen gegenüber Sexualität“.

El Feki hat nun denjenigen zugehört, „die die Fesseln abstreifen wollen“. So kommen etwa auch „Sextherapeutinnen“ als Beraterinnen in Sachen sexueller „Technik“ wie Heta Kotb zu Wort, die Männern „die hohe Kunst“ beibringen, „wie sie ihre Frauen ins Bett hinein- und aus dem Bett herauslocken“ könne. Alle „Ratschläge“, welche die „unerbittlichen Gegnerin von vorehelichem Geschlechtsverkehr“ den Paaren, die sie konsultieren, mit auf den Weg gibt, sind „von ihrem Glauben geprägt“.

Im ersten, der Einleitung folgenden Abschnitt zitiert die Autorin zunächst einmal ausschließlich Männer als Gewährsleute. Entsprechend einseitig fällt der Blick auf die Sexualitätsvorstellungen aus, welche etwa die Herren Gustav Flaubert und Rifa’a Rafi’ al-Tahtawi im 19. Jahrhundert auf die sexuellen Gepflogenheiten in der Kultur der je anderen werfen. Flaubert schwärmt von der „sexuellen Ungezwungenheit des Orients“, die er ausgerechnet in Bordellen zu finden glaubt, deren Prostituierte er unverblümt sexistisch preist. Die Autorin steht nicht an, sich seinem vulgären Stil anzupassen, wenn sie konstatiert, „Flaubert fickte sich sozusagen nilaufwärts“. Überhaupt prägt nicht selten ein allzu schnoddriger Stil ihr Buch, der gerade auf den ersten Seiten nicht nur öfter anstößig wirkt, sondern durchaus auch einmal abstoßend sein kann. Al-Tahtawi wiederum meint, dass die Franzosen „die Homosexualität für eine der widerwärtigsten Obszönitäten“ halten, was „die einzige Sache“ sei, „die sie wirklich mit den Arabern gemeinsam haben“. Hier widerspricht Autorin und nennt diese Darstellung angesichts der zahlreichen „gleichgeschlechtlichen Beziehungen im Kairo des 19. Jahrhunderts“ mit homosexuellenfeindlichem Zungenschlag „eine Beschönigung“.

Das maskuline Kleeblatt vervollständigt ein tunesischer Autor des 20. Jahrhunderts namens Abdelwahab Bouhdiba, der 1975 das Buch „La Sexualité en Islam“ publizierte, in dem er etwa erklärt, „den Sinn der Sexualität wiederzuentdecken bedeutet, den Sinn Gottes wiederzuentdecken und umgekehrt“. Zu dem Trio lässt die Autorin schließlich eine „lange glanzvolle Geschichte arabischer Schriften über die Sexualität“ treten – soweit zu sehen, sämtlich von Männern verfasst. Jedenfalls findet sich sowohl im „Playboy“, der „Cosmopolitan“ oder der hierzulande nicht übermäßig bekannten Publikation „Freude am Sex“ wie auch in „jedem beliebigen Werk der sexuellen Revolution und darüber hinaus“ El Feki zufolge „herzlich wenig, was diese Schriften nicht schon vor über tausend Jahren berührten“.

Besonders Lob erfährt in diesem Rückblick wiederholt ‘Ali ibn Nasr al-Katibs „Enzyklopädie der Lust“, die etwa Kapitel „Über die Arten und Techniken des Beischlafs“ und „Über die Vorzüge einer Nicht-Jungfrau gegenüber einer Jungfrau“ enthält, das sich ganz offensichtlich an seine Geschlechtsgenossen richtet. Ansonsten „besticht“ das Werk die Autorin „mit verblüffenden Einsichten in die weibliche Wesensart“. Von einer vermeintlich ‚weiblichen Wesensart‘ mag vielleicht der „Playboy“ fantasieren, weniger hingegen wohl schon die „Cosmopolitan“ und ganz sicher nicht die gendertheoretisch aufgeklärte Sexualwissenschaft ‚westlicher‘ Provenienz. Die Autorin aber zeigt sich verblüfft davon, in diesem aus „dem Goldenen Zeitalter der arabischen Liebeskunde“ stammenden „großen Werk der Liebeskunst“ die ‚Einsicht‘ zu finden, „dass es in der Natur der Frau liegt, einem Mann grundlos zu zürnen“. In diesem Fall sollte mann ihren Zorn „nicht ernst nehmen“, rät Herr al-Katib. Ein weiteres Werk aus „dem Goldenen Zeitalter arabischer Schriften über Sex“ mit dem Titel „Die Sprache des Fickens“ kenne gar „über tausend Verben für den Geschlechtsverkehr“ und einen „scheinbar unerschöpflichen Wortschatz für sexuelle Stellungen, Reaktionen und Organe jeder Größe, Form und besonderer Kennzeichen“, schwärmt die Autorin.

Dass „die Araber“ nunmehr in einen „sexuellen Winterschlaf“ gefallen seien, ist – wer hätte es gedacht – letztlich die Schuld des Westens. Denn der Ursprung des Tiefschlafs liege in ihrem „Ausländerkomplex“, der 1798 durch Napoleons Einmarsch in Ägypten verursacht wurde, von dem die Autorin in kaum zehn Zeilen einen Zirkel zum „Irakkrieg 2003“ und den mittelalterlichen „Kreuzzügen“ schlägt. Schließlich kommt auch noch ein Mann zu Wort, der die „Ansichten“ der Moslembrüder „maßgeblich prägte“: Sayyid Qutb, „Qutbs Darstellung des Westens als einer Jauchegrube des sexuellen Chaos und moralischen Zerfalls“ sei „eine Art von umgekehrter Orientalismus“. Auch in diesem Fall liegt das ursprüngliche Übel also im Westen. Endlich dürfen auch der Kommunist und Psychoanalytiker Wilhelm Reich und einige andere ihre Stimme erheben. Aber immer noch keine Frau – außer der Autorin selbst natürlich. Das allerdings ändert sich in den folgenden Abschnitten gründlich. Fortan geht es nicht weniger um das geschriebene, sondern vielmehr um das gesprochene Wort, und da überwiegen eindeutig die Gesprächspartnerinnen.

Der Islam erkennt El Feki zufolge das sexuelle „Begehren der Frauen“ an, dies führe jedoch vor allem dazu, dass er „Regeln und Vorschriften aufstellte, um ihre Kraft zu kanalisieren“, wohingegen die „Befriedigung des Mannes höchste Priorität genießt“. Das vor allem in der ersten Feststellung ein gewisses Spannungsverhältnis zu der bereits zitierten Behauptung besteht, der Islam erlaube den Menschen „eigenständige Entscheidungen zu treffen und ihr sexuelles Potenzial auszuschöpfen“, liegt auf der Hand. Jedenfalls legt die Autorin nun dar, dass sich die unterschiedliche Haltung des Islam zu männlicher und weiblicher Sexualität auf alle Aspekte des Sexuallebens auswirkt, von denen El Feki etliche beleuchtet wie etwa ehelichen sowie außer- und vorehelichen Geschlechtsverkehr, die Institution der Zeitehe und andere Formen der Prostitution, Homosexualität, „Sex am Bildsschirm“, „Sexualerziehung“, das Sexualleben von Singles, weibliche Genitalverstümmelung oder Pornografie. Die Zahl der Abtreibungen, denen El Feki ebenfalls einen Abschnitt widmet, dürfte vermutlich durch den Umstand nicht unbeträchtlich in die Höhe getrieben werden, dass ägyptische Männer nur sehr ungern Kondome benutzen und es überhaupt nur tun, weil sie Angst haben, „in direktem Kontakt mit Menstruationsblut zu kommen“.

Weitere Themen sind „weibliche Jungfräulichkeit“, die von der Autorin als „ein weiteres Werkzeug, um Frauen auf Linie zu halten“ analysiert wird, und „Genitalverstümmelung“, die laut El Feki in Ägypten gerne mit dem Sprichwort „Die beschnittene Frau ist eine Frau mit einem gebrochenen Flügen“ begründet wird. Als „gute Sache“ gilt sie ägyptischen Männern zudem, „weil sie glauben, dass sich Frauen dadurch leichter kontrollieren lassen“. Immerhin sinkt die Bereitschaft ägyptischer Eltern ein wenig – offenbar vor allem die der Mütter – ihre Töchter verstümmeln zu lassen. Denn während Ägypterinnen, die älter als 45 Jahre sind, fast ausnahmslos beschnitten sind, liegt die Quote laut El Feki bei den 15- bis 17-Jährigen bei – allerdings immer noch erschreckend hohen – 80%. Was hingegen die ‚Ehren‘morde in Ägypten betrifft, so kennt niemand deren Anzahl, denn es handele sich bei ihnen um eine „undurchsichtige Angelegenheit“. Etwas Genaueres weiß El Feki hingegen über die Quantität ‚häuslicher Gewalt‘ zu berichten, die etwa ein Drittel aller ägyptischen Frauen erleide. 10% der verheirateten Frauen wird darüber hinaus „sexuelle Gewalt“ angetan. Viele Ägypterinnen dulden Gewalt gegen Frauen nicht nur, sondern „billigen“ auch. So gesteht etwa ein Drittel aller Frauen Männern das Recht zu, ihre Ehefrauen zu verprügeln. Daher sei es nicht einfach, „Gewalt gegen Intimpartner einzudämmen“. Gemeint ist aber ganz offenbar nicht die Gewalt gegen die Intimpartner, sondern diejenige gegen Intimpartnerinnen. Dies allerdings ist ein Fehler, der nur der Übersetzung anzukreiden sein kann. Denn im englischen Original hätte er gar nicht begangen werden können.

Dass Prostitution mit dem Euphemismus „Sexarbeit“ bezeichnet wird, dürfte hingegen der Autorin selbst anzulasten sein. Die Prostituierten werden von ihr gerne als „gewerbliche Sexarbeiterinnen“ bezeichnet oder gar als „Freudenmädchen“ tituliert. Und um eines Wortspiels willen wird Prostitution in einer Kapitelüberschrift als „Wa(h)re Liebe“ verklärt. Man wüsste gerne, wie die Überschrift im englischsprachigen Original lautet. Überhaupt ist das Vokabular nicht ganz kohärent, wenn es um Prostitution geht. So erklärt El Feki etwa, dass die Institution des Konkubinats „im Grunde sexuelle Sklaverei“ sei, spricht aber auch lässig vom „Job“ der Konkubinen. Auch sonst stolpert man hin und wieder über sprachliche Unstimmigkeiten, so etwa wenn die Autorin formuliert, „sexuelle Belästigung“ sei „eines der Tabus, über die heute in Ägypten offen gesprochen wird.“

Nun ist Prostitution zwar auf allen fünf Kontinenten verbreitet, doch kennen islamisch geprägte Regionen eine ganz spezielle Form: die Zeit- oder auch Vertragsehen. Sie dienen zwar dem „rein gewerblichem Geschlechtsverkehr“, bekommen als „Ehe“ aber eine „Patina religiöser Wohlanständigkeit“, selbst wenn sie nur für „ein paar Tage“ geschlossen werden. In Ägypten firmieren sie auch unter dem Namen „Sommerehen“, weil sie „Sommerfrischlern“ aus der (öl-)reichen Golfregion gerne mit ägyptischen Frauen eingehen. Eine solche Sommerehe ist nicht etwa eine anrüchige Angelegenheit, die möglichst unter der Decke zu halten ist, sondern vielmehr eine regelrechte „Familienangelegenheit“, die mit einer „schlichten Zeremonie“ begangen wird. Und es sind nicht nur die reichen ‚Sommerfrischler‘ aus der Golfregion, die ein Interesse an den Zeitehen haben, sondern eben auch diese Familien der so prostituierten Frauen. Denn sie befriedigen ihre „zunehmende Konsumorientierung“, indem sie den vorübergehend angeheirateten Herren gestatten, sich in den via Zeitehe gemieteten Frauen zu befriedigen. Dabei sind diese „Sommerehen“ alles andere als eine Seltenheit. Eine der Gesprächspartnerinnen der Autorin berichtet etwa, dass sie von nicht weniger als 70 % der „Mädchen“ ihres Heimatdorfs eingegangen werden. Die Bezeichnung „Mädchen“ ist tatsächlich nicht einmal so unbegründet. Sind die meisten der „Bräute“ doch gerade mal 16 Jahre alt.

Eine Frau, die sich selbst prostituiert, um ihre Drogensucht zu finanzieren, berichtete El Feki, dass sie für einen „vollständigen vaginalen Geschlechtsverkehr“ umgerechnet 12,50 Euro erhält, was sich im Laufe eines Tages auf 500 Euro summieren könne. Es lässt sich leicht errechnen, mit wie vielen Männern sie da verkehren muss. Auch sie erklärt, Prostitution sei in Ägypten ein übliches ‚Geschäft‘. „Das ganze Land geht auf den Strich“, erklärt die drogensüchtige Prostituierte der Autorin „lachend“.

Zwar weiß El Faki sehr wohl, dass sich die „fortbestehende Macht des Patriarchats in Ägypten“ in der Prostitution „besonders deutlich widerspiegelt“, doch behauptet sie zugleich, „Sexarbeit“ sei in der Region „eines der wenigen Metiers, in denen Chancengleichheit herrscht, denn auch heterosexuelle Männer haben ihren Anteil am Geschäft.“ Was sie allerdings über den Alltag weiblicher und männlicher Prostituierte berichtet, könnte gegensätzlicher kaum sein. „Die meisten“ Freier nehmen Viagra ein und verlangen, anal mit den weiblichen Prostituierten zu verkehren. Manche sehen sich vor dem Sex Pornos an oder schlagen die Frauen. Solche „berufliche Risiken“ der Frauen sind „durchaus typisch“. Die Klientel der männlichen Prostituierten besteht hingegen aus „westlichen Frauen“, die für die „jungen Recken“ ebenso „attraktiv sind wie die Nebenprodukte des Sexes“. Diese bestehen in „Geschenke, die von Handys bis zu Häusern reichen“. Nicht selten geben ihnen die Frauen „genug Geld, um ein Motorrad zu kaufen oder eine neues Geschäft zu eröffnen“. Einige der männlichen Prostituierten heiraten „ihre ausländischen Liebhaberinnen“ und erhalten so „die Eintrittskarte in eine andere Welt“. Allerdings gibt es nur selten einmal ein „Happy End“. Denn meist nehmen die Männer die Frauen „nach Strich und Faden“ aus und lassen sie anschließend mit „gebrochenem Herzen und geleerter Geldbörse“ zurück.

El Fekis Wort von der Chancengleichheit der Geschlechter in der Prostitution ist nur einer von zahlreichen nicht immer geringen Missgriffen. Dennoch hat sie ein in vieler Hinsicht durchaus informatives Buch vorgelegt.

Titelbild

Shereen El Feki: Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt.
Übersetzt aus dem Englischen von Thosten Schmidt.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
415 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241527

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