Die ganze Welt des Mittelalters?

Franco Cardinis reich illustrierte Reise ins Mittelalter verspricht alles – und bietet viel

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das neue Standardwerk über das Mittelalter“ – ein Buch, das im Klappentext solchen Anspruch erhebt, muss sich einerseits messen an Mittelalter-Einführungen der letzten Jahre; andererseits sind auch unabhängig vom direkten Vergleich die Erwartungen hoch. Mit Franco Cardini (geboren 1940) legt ein namhafter Mittelalterhistoriker ein Werk vor, das 2012 unter dem Titel „La Società Medievale“ auf Italienisch und noch im selben Jahr als „Das Mittelalter“ auch auf Deutsch erschien. In gut zwei Dutzend Kapiteln auf rund 280 Seiten bietet es den Einstieg in Voraussetzungen, Entwicklungen und Charakteristika des so genannten Mittelalters. Ausgehend vom Blick in die Jahrhunderte der Transformation seit Christi Geburt legt es Schwerpunkte unter anderem auf Christianisierung und Kirche (auch Architektur), Könige und Kaiser, Stadt, Universitäten und Wissenschaft, Feste, Reisen und die Wahrnehmung anderer Länder, Sprache und Literatur, sowie die Entwicklung hin zur Renaissance. Die Kapitel folgen weder einer strikten Chronologie, noch sind (entgegen der Ankündigung des Klappentextes) durchweg thematische Zusammenschlüsse erkennbar. In solcher Vielfalt kann eine Rezension nur Akzente setzen.

Der inhaltlichen Beurteilung vorauszuschicken ist eine Bemerkung zur Seitengestaltung: Text und Abbildungen stehen weitgehend gleichberechtigt nebeneinander, bisweilen überwiegt die Illustration. Solcherart farbig und abwechslungsreich gestaltete Seiten regen gerade den ambitionierten Laien oder Studienanfänger zum Stöbern an (und werden sich wohl auch als Vorlage für das eine oder andere Referat eignen). Der Platz für großzügige Abbildungen wird allerdings erkauft durch kleine, sehr eng gesetzte Schrift (Zeichen- und Zeilenabstand), die ermüdungsfreies Lesen erschwert.

Cardini ist es nach eigener Aussage ein Anliegen, nach wie vor geläufige Vorurteile über diese Zeit zwischen Antike und Renaissance grundsätzlich in Frage zu stellen. Das ist kein neuer Ansatz, doch weiterhin scheint er erforderlich, denkt man an allerlei Halb- und Unwahrheiten, die gerade in populärwissenschaftlichen Medien immer noch verwurzelt sind. Und tatsächlich vermag es der Verfasser, auf stimmig eingebundene Fragen eine Antwort zu geben, die das historische Verständnis des Lesers bereichern kann. Die üppige Fülle der gebotenen Informationen erlaubt einen breiten Einblick und bedenkt viele Interessen.

„Die ganze Welt des Mittelalters“ (500-1500) wird dabei allerdings nicht erfasst. Das ist zum einen verständlich angesichts des zeitlichen, räumlichen und thematischen Horizonts, innerhalb dessen sich ein ‚Mittelalter‘ bewegt; zum anderen scheint es dennoch fraglich, warum der notwendigen Selektion eines Überblickswerks etwa der gesamte Norden Europas zum Opfer fällt: Zwar notiert Cardini, dass etwa die wikingischen Expansionen „auf vielerlei Weise die Geschicke verschiedener Regionen Europas“ veränderten – damit ist das Thema aber erschöpft. Die hochspannende, und wie der Verfasser sagt, „ziemlich komplizierte staatliche Geschichte“ der nordischen Länder wird ebenso ausgeklammert, wie die einzigartige Literatur des mittelalterlichen Islands, die spätestens mit der Frankfurter Buchmesse 2011 einem weltweiten Publikum bekannt wurde. Wenig zu bieten hat indessen auch die Betrachtung der kontinentalen und angelsächsischen Literatur: Hildebrandslied, Beowulf oder Nibelungenepos bleiben wie vieles andere an schriftliterarischer Überlieferung ungenannt. Solche bisweilen kaum nachvollziehbare Selektion ist auch zu anderen Themen zu verzeichnen: So muss es verwundern, dass im Kapitel zur Christianisierung Europas weder Chlodwig I. noch Karl der Große genannt werden, wie überhaupt Merowinger und Karolinger keine Erwähnung finden, obwohl der Blick punktuell bis ins 12. Jahrhundert schweift; auch das folgende Kapitel „Neugestaltung einer Welt (8.-10. Jh.)“ kennt Karl den Großen nicht. Tatsächlich widmet ihm der Verfasser nur verstreute Erwähnungen, die dem nachhaltigen Wirken dieser Ausnahmegestalt kaum gerecht werden.

Irritierend ist Cardinis regelmäßiger Rekurs auf einen älteren, teils veralteten Forschungsstand. So verwundert in seinem chronologisch-assoziativen Schnelldurchgang durch die ersten nachchristlichen Jahrhunderte die vielfache Ansprache ‚germanischer Völker‘. Zwar findet man in Einführungen auch andernorts noch diesen mehrfach problematischen ‚Volk‘-Begriff – doch wird er in aktueller Fachdiskussion etwa zugunsten von ‚gentes‘ verstärkt gemieden, sodass Cardinis ausdrückliche Würdigung eines deutschen Terminus ‚Völkerwanderung‘ (gegenüber ‚Barbareninvasionen‘) doch erstaunt. Nicht zu überzeugen vermag auch die Darstellung einer religiösen und sozialen Welt dieser ‚Germanen‛: In vager Synthese räumlich, zeitlich und kulturell getrennter Überlieferungen entwirft Cardini das Bild einer paganen Glaubenswelt, das Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte bisweilen ignoriert. Das gipfelt in Feststellungen wie: „Die ‚Hávamál‛ – ‚Sprüche des Hohen‛ – ist eine Sammlung, die im 13. Jahrhundert auf Altnordisch verfasst wurde, der Sprache der schon christlichen norwegischen Siedler auf Island, doch bildet sie ganz ein Zeugnis der heidnischen Zeit“. Was Cardini hier zum heidnisch-germanischen Gehalt der Hávamál postuliert, ist in solcher Formulierung schlichtweg falsch, wie Klaus von See bereits in den 1970er-Jahren zeigen konnte; da fällt kaum noch ins Gewicht, dass ‚Hávamál‛ eigentlich Nominativ Plural ist (wie in deutscher Übertragung), ebensowenig die undifferenzierte Ansprache eines ‚Altnordischen‛. Auf ähnlich wackeligem Fundament stehen auch Aussagen späterer Kapitel, wie „Germanien nahm damit die Gestalt eines definitiv christlichen Landes an“ oder „die stolzen Germanen, für die Krieg eine heilige Erfahrung war“; die Rede von einem „authentischen Bestand an Informationen ethnologischen Charakters zum Christentum der Völker der Wälder und Steppen“, die eine „Berührung mit einer eigentlichen ‚Volkskultur‛“ erlaubten, lässt zudem kaum begreifen, was der Verfasser eigentlich meint. Zu hinterfragen wäre, um ein letztes Beispiel zu nennen, auch Cardinis Darstellung der „Heiligkeit der Macht“, also die Frage nach einem sakralen Königtum: Kaum eineinhalb Seiten widmet er diesem heftig diskutierten Forschungsthema, nennt allein Georges Dumézil und Mircea Eliade – der rund 140-seitige Artikel ‚Sakralkönigtum‛ im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, der den interdisziplinären Disput der letzten Jahrzehnte eindrucksvoll belegt, hätte hier fraglos zu einer anderen Form der Darstellung führen müssen.

Ein Blick in die kurze Bibliografie lässt zwar manch bekannte Schrift wiederfinden, doch werden zahlreiche wegweisende Mittelalterspezialisten der letzten Jahrzehnte vermisst. So fehlt völlig das genannte RGA (derzeit rund 120 Lexikon- und Supplementbände) mit seinen international namhaften Beiträgern der Archäologie, Geschichtswissenschaft und Philologie; es fehlt aber auch jegliches Werk etwa eines Reinhard Wenskus, Herwig Wolframs oder Gerd Althoffs. Und auch Einführungen wie etwa Rudolf Simeks „Religion und Mythologie der Germanen“ hätten den Fokus erweitert und dem ambitionierten Neuling die Recherche erleichtert. Erfreulich umfangreich ist hingegen das Register, mit acht eng bedruckten Seiten, das den gezielten Zugriff erlaubt.

Was ist abschließend zu folgern? Bereits angedeutet wurde: Der größte Pluspunkt vorliegender Einführung sind fraglos die rund 250 farbigen Abbildungen; manche Karte ist zugegeben etwas kleinformatig, doch summa summarum wird man dem Klappentext zustimmen, wenn er formuliert: „Schöner kann die Farbigkeit der damaligen Zeit nicht präsentiert werden.“ Die angeschnittenen Themen bieten einen reichhaltigen Überblick, fordern in ihrer prägnanten Kürze aber bisweilen Vorkenntnisse einzelner Zusammenhänge; hier erschöpft sich die Einführung regelmäßig in bloßer Andeutung. Cardinis Buch zeugt von profunder Kenntnis vieler Bereiche der Mittelalterforschung; deutlich wird dennoch, wo dem Interesse des Verfassers Grenzen gesetzt waren. Zumal in einem einführenden Werk, mit dem Anspruch, künftiger Standard zu werden, muss die Vernachlässigung manches Schwerpunktes der aktuellen Forschungsdiskussionen zudem befremden. Für umsichtig lesende Studierende ist es doch schon allein aufgrund des vergleichsweise günstigen Preises von 30 Euro einen näheren Blick wert.

Titelbild

Franco Cardini: Das Mittelalter.
Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2012.
286 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783806226904

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