Richard Wagner aus literaturgeschichtlicher Sicht

Dieter Borchmeyers Standardwerk „Das Theater Richard Wagners“ neu aufgelegt

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1982 ist diese Monografie des Heidelberger Literatur- und Theaterwissenschaftlers Dieter Borchmeyer erschienen und sofort zu einem unverzichtbaren Standardwerk der Richard-Wagner-Literatur geworden. Kurz zuvor waren erstmals die Tagebücher Cosima Wagners herausgekommen, die wie keine andere Publikation seit Wagners Tod dessen Charakterbild neu beleuchteten. Auf dieser Grundlage konnte Borchmeyer die erste umfassende Darstellung der Theorie und dramatischen Praxis Wagners aus moderner philologischer Perspektive vorlegen. Wie schuf sich Wagner eine eigene Sprache für seine musikdramatischen Werke? Wie ging er mit seinen Werken an die Grenze der musikalischen Möglichkeiten seiner Zeit? Wie hat er den Mythos wirkungsmächig neu entdeckt, die Tradition der Oper vollendet und dem Musiktheater neue Perspektiven eröffnet? Wie sind Wagners Denkformen in der klassisch-romantischen Tradition, vor allem in der Werkwelt Goethes und Schillers, verankert? Was versuchte der Begründer des Bayreuther Festspielhauses in seinen Festspielen – nach dem Prinzip der antiken Festspiele vor 2000 Jahren – zu vermitteln? Warum ist seine Idee des „Gesamtkunstwerks“ bis heute eine Herausforderung geblieben?

Der Autor sieht das Werk Wagners als Summe des Welttheaters, den Dichter-Komponisten als bedeutendsten schöpferischen Vermittler der deutschen Literatur ans europäische Publikum zwischen Heinrich Heine und Thomas Mann.

Das Buch will – und darin liegt eines seiner besonderen Vorzüge – nicht nur ein Fachpublikum ansprechen, sondern auch den philologisch ungeschulten, an den Theorie-Exkursen weniger interessierten Leser erreichen. So hat der Autor die Ergebnisse der theoretischen Kapitel in die Werkinterpretationen – vom „Fliegenden Holländer“ bis zum „Parsifal“ – in fasslicher Form mit einfließen lassen. Die Interpretationen kann man ebenso wie die wirkungsgeschichtlichen Partien auch unabhängig von den Theorie-Passagen lesen.

Allerdings lässt die Neuauflage den Text bis auf die Korrektur von Druckfehlern unverändert. Das mag man zwar bedauern, denn die Wagner-Literatur hat in den letzten zwei Jahrzehnten kräftig zugelegt, aber man muss wohl auch die Begründung des Autors akzeptieren, dass er sich nicht veranlasst sah, seine Auffassungen zu ändern. Aber nicht vielleicht doch zu erweitern, stärker zu positionieren und zu begründen, wie das bei Nachauflagen sonst üblich ist?

Wagner war in jeder Hinsicht ein Mensch der Extreme, was auf seine politischen Ansichten ebenso wie auf seine theoretischen Schriften und auch auf sein Leben, selbst seine Liebschaften, zutrifft, vor allem aber auf die Musik und den nachhaltigen Einfluss, den sie ausübte. Daher ist es auch schwierig, charakterliche Defizite von seiner künstlerischen und theoretischen Leistung zu trennen.

„Der Künstler und die Öffentlichkeit“ heißt das erste Kapitel des Buches, in dem Borchmeyer auf Wagners Festspielidee, dessen Reformprojekte, Vorstellungen vom Volkstheater, die Idee eines „Faust“-Theaters, Wagners Theorie der fixierten Improvisation und die Rezeption des griechischen Ideals der „Öffentlichkeit“ und ihrer ästhetischen Äquivalente in Wagners Theorie und Praxis des Theaters eingeht. Er setzt sich sodann mit den Begriffen Oper, Schauspiel und musikalisches Drama auseinander. Wagners Ideal der „antiken Kunstform“ und die Oper „als unmoralische Anstalt betrachtet“ werden genauso untersucht wie die Geburt der Oper aus der „absoluten Melodie“ – Wagners Genetik des Musiktheaters. Dass für Wagner die „absolute Musik“, die er in seinem theoretischen Hauptwerk „Oper und Drama“ ad absurdum zu führen versuchte, dennoch als heimliches oder offenes Ideal betrachtete, macht Borchmeyer an der Auseinandersetzung Wagners mit Friedrich Nietzsche und dem Kritiker Eduard Hanslick, den Wagner in künstlerischer Freiheit in seinen „Meistersängern“ als „Beckmesser“ sein Unwesen treiben lässt, aber auch an Wagners später Ästhetik sichtbar. In Wagners Paradoxon vom „unsichtbaren Theater“, das er ersehnte, erblickt der Autor ein bedeutungsvolles Signal für die tiefe Entfremdung dessen musikalisch-dramatischen Ideals von einer Bühnenform, aus der der Theaterpraktiker Wagner jedoch keinen Ausweg gefunden habe. Die „Erlösung“ des Romans im musikalischen Drama wird im Zusammenhang mit der Leitmotivik behandelt, die als dichtes Gewebe alle Elemente der dramatischen Handlung zu einem Verweisungsganzen zusammenziehen soll. Aus der Wagner’schen Genetik und Strukturbeschreibung des musikalischen Dramas – vor allem aus der Idee der Funktionsverwandtschaft des tragischen Chors der Griechen und des modernen Orchesters – hat dann Nietzsche seine Theorie der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ abgeleitet. Die Funktion des Chores wurde nach Wagner vom Orchester übernommen. Aber nicht Wagners Kritik am attischen Chor, sondern seine Theorie des Orchesters ist in die „Geburt der Tragödie“ eingegangen, Nietzsche setzte anachronistischerweise den Chor mit dem Orchester gleich.

Im Mittelteil erfolgen dann die Werkinterpretationen: „Der fliegende Holländer“ als „dramatische Ballade“, Wagners romantische Opern „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ als Künstlerdramen, Wagners einzige komische Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“, die Wagner während der Arbeit am „Ring“ einlegte und die sich von den späten Wagner-Opern insofern unterscheidet, als sie zahlreiche selbständige Einzelstücke enthält. Dann „Der Ring des Nibelungen“, dieses monumentale Gesamtkunstwerk von mit über 13 Stunden Musik –, Schöpfungsmythos und Weltparabel, Mirakel-, Märchen- und Verwandlungsspiel, Haupt- und Staatsaktion wie Stationenstück, Gesellschaftstragödie und Schicksalsdrama, epischer Bericht und absurdes Endspiel in einem. Die Kunst des „unendlichen Details“ und die Welt im sterbenden Licht zeigt Borchmeyer an der Oper „Tristan und Isolde“ auf, die von einer geradezu überirdischen romantischen Liebe erzählt, die ihre Vollendung nur im Tod finden kann. Die „unendliche Melodie“, das Umspielen der Tonartbezüge ohne Rückkehr zum Grundton, kennzeichnet die Partitur. Als Summe und zugleich Steigerung bezeichnet der Autor Wagners letzte Oper „Parsifal“. Hier wird die Idee vom Kunstwerk als Religion spürbar. Elemente aus dem mittelalterlichen Rittertum, aus Buddhismus, Christentum und Philosophie schaffen eine feierliche, zeremonielle Atmosphäre. Die Struktur der Oper lässt eine Steigerung der religiösen Intensität im Verlauf der Handlung erkennen. Durch Parsifals Fähigkeit zum Mitleid wird aus Qual und Sünde eine Quelle der Erlösung und Errettung.

In diesen Werkanalysen können Wagner-Interessierte bestimmte Aspekte dessen, was Wagner beabsichtigt und erreicht hat, nachvollziehen, sie können Motive, Symbole, Sinnbilder, die Wagner absichtlich eingesetzt hat oder die sich ihm von selbst aufgedrängt haben, entschlüsseln und verstehen, so dass sich die Faszination, das emotionale und geistige Erlebnis der Musik Wagners erhöht wie vertieft. Freilich kann das Verständnis dieser Bedeutungselemente niemals vollständig sein, weil ihr Ursprung letztlich im Unbewussten liegt.

Abschließend werden die Wirkungen des Wagner’schen Musiktheaters in der deutschen Literaturgeschichte beleuchtet: bei Adalbert Stifter, der unter dem Eindruck der „Musikalischen Leiden der Gegenwart“ von Alfred von Wolzogen in seinem Bildungsroman „Nachsommer“ eine Gegenwelt zur Musik Wagners angelegt hat, bei Theodor Fontane, in dessen Roman „L’Adultera“ Wagner als musikalisches Phänomen präsent wird, bei Thomas Mann, der in der Erzählung „Wälsungenblut“, in den Novellen „Tristan“ und „Der Tod in Venedig“ das Wagner-Thema aufgreift, bei Hugo von Hofmannsthal – so in dem Dramolett „Der Tor und der Tod“ beziehungsweise den Libretti der „Ariadne“ und „Ägyptischen Helena“ (das Wagner’sche Element in seiner Dichtung hat ihn mit Richard Strauß verbunden) – und schließlich bei Friedrich Huch, den das Wagner’sche Musiktheater zu Parodie und Travestie in seinen „grotesken Komödien“ inspiriert hat. Aber Wagner als Gegenstand ironischer literarischer Verarbeitung wie auch die hypnotische Wirkung seiner Musik wären ebenso bei Robert Musil und Heinrich Mann zu untersuchen gewesen. Auch die europäischen Künstler der „Décadence“ wie Charles Baudelaire, Elémir Bourges, Oscar Wilde, Gabriele D’Annunzio u.a. haben Wagners Geist beschworen und in ihren Werken Motive und Thematiken seiner Opern aufgegriffen: ekstatische Gefühlswelten, Liebestod oder Inzest. Borchmeyer konzentriert sich ausschließlich auf die Wagner-Rezeption der deutschsprachigen klassischen Moderne, er hätte auch die Wagner-Auseinandersetzung in der Literatur nach 1945 mit einbeziehen können.

Das beeinträchtigt aber in keiner Weise den Wert dieser fundamentalen Darstellung, die unbestritten zum Kanon der Wagner-Literatur gehört.

Titelbild

Dieter Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners. Idee - Dichtung - Wirkung.
Reclam Verlag, Ditzingen 2013.
430 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783150109151

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch