Antisemitisch „in herkömmlicher Weise“?

Achim von Arnims „Die Majorats-Herren“

Von Nike ThurnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nike Thurn

Die Frage nach dem Antisemitismus im Werk Achim von Arnims ist umstritten und wird vielfach hauptsächlich im Hinblick auf außerliterarische Aspekte – Arnims Kontroverse mit Moritz Itzig sowie die Gründung der „Deutschen Tischgesellschaft“, vor allem seine dort gehaltene Rede „Ueber die Kennzeichen des Judenthums“ – diskutiert.[1] Dabei kann gerade ein literarischer Text Arnims als Paradebeispiel dienen, um zu zeigen, dass Literarische Antisemitismusforschung anhand textinterner Kriterien problematische Implikationen nachweisen kann: seine 1820 erschienene Erzählung „Die Majorats-Herren“.[2]

Die Bewertung der darin enthaltenen Judendarstellungen fällt indes auch in der wenigen, diese Aspekte problematisierenden Sekundärliteratur sehr unterschiedlich aus: Für Gerhart von Graevenitz stellt Arnims Erzählung „den skandalösen Fall dar, daß ein literarischer Text von höchster ästhetischer Virtuosität den romantischen Moderne-Diskurs antisemitisch umbesetzt“;[3] Heinrich Henel bedauert ähnlich: „Sein Antisemitismus ist leider nicht zu leugnen, aber gerade in den ‚Majoratsherren‘ zeigt er das feinste Verständnis für jüdische Sagen und weiß ihnen die reinste Poesie zu entlocken.“[4] Auch von Ritchie Robertson wird die faszinierte und keineswegs ausschließlich diffamierende Darstellung jüdischer Religion und Mystik in den Majorats-Herren hervorgehoben, die ihn zu dem Urteil führt, dass „[t]rotz der unleugbaren Kontinuität mit den früheren antisemitischen Schriften“ hierdurch „jede[r] Versuch, den Text auf antisemitische Positionen vereinfachend zu reduzieren, von vornherein vereitelt“ werde.[5] Er sieht Arnims Position in der Geschichte des Antisemitismus explizit an der „Wasserscheide“[6] zwischen christlichem und wirtschaftlichem Antisemitismus. Gisela Henckmann sieht „Judensatire und Judenkritik“ in Arnims Werk hingegen „in herkömmlicher Weise ökonomisch und religiös begründet“.[7] Dass Juden bei Arnim stets „[v]om Schacher und Wucher im Kleinhandel und Kleinkredit bis zur Korrelation des Judentums mit dem aufkommenden Kapitalismus […] in engstem Zusammenhang mit Geld [erscheinen]“, empfindet sie nicht als problematisch: „Damit nimmt Arnim keine Sonderstellung ein. Der geldgierige Jude ist bereits ein literarischer Topos, der in dieser Zeit besonders häufig aufgegriffen wird, so bei Brentano, Hoffmann oder als durchgehende Thematik bei dem Popularschriftsteller Julius von Voß.“[8] Den „Ruf eines unversöhnlichen Antisemiten“, in den Arnim „geraten“ sei, könne sie sich daher „kaum erklären“. Schließlich sei dies eine „Einstellung, die in seiner Zeit in keiner Weise aus dem Rahmen fällt“.[9]

Dass dies nun kein schlagkräftiges Argument gegen den Vorwurf des Antisemitismus ist – die Erzählung entstand unmittelbar zur Zeit der vielerorts stattfindenden „Hep-Hep“-Krawalle – berücksichtigt sie dabei nicht. Als Ziel ihres Aufsatzes zum „Problem des ‚Antisemitismus‘ bei Achim von Arnim“ gibt sie an, zeigen zu können, dass „[w]eder Arnims Äußerungen noch seine Einstellung zu den Juden […] sich in seiner Zeit […] als extrem bezeichnen [lassen].“[10] Es seien lediglich „Ansätze“[11] eines religiösen und ökonomischen Antisemitismus zu sehen. Diese seien jedoch von dem Autor – und darin unterscheide er sich von „anderen Schriften seiner Zeit“ – „dadurch gemildert, daß Arnim besonders in den drei Werken, in denen das Thema Judentum zentral behandelt wird, deutlich um Differenzierung und Gerechtigkeit bemüht ist. Das zeigt sich zum einen in der Gestaltung positiver jüdischer Gegenfiguren [], zum andern durch Verlegung des Konflikts in das Innere der Figur selbst […], durch das Aufzeigen unberechtigter Vorurteile gegenüber Juden […] und durch Kritik auch an der ‚christlichen‘ Gesellschaft, die für alle Werke gilt, in denen Kritik am Judentum geübt wird.“[12] Arnim selbst sei an dem Ruf des Antisemiten zwar „gewiß nicht unschuldig, seine Äußerungen zeigen gelegentlich Vorurteile und Verzerrungen. Aber er hat sich andererseits über persönliche Antipathien hinweg um Differenzierung, Verständnis und eine gerechte Anschauung bemüht und im übrigen niemals versucht, feindlich gegen Juden zu handeln. Seine Satiren, soweit sie im privaten Bereich nicht einfach zur Abreaktion von angestautem Ärger dienen, zielen auf ‚Besserung‘ und Bekehrung, nie auf Schädigung oder gar Vernichtung der Juden.“[13] Für Henckmanns Argumentation, dass die in der Tischrede geäußerten „grotesken ‚Scherze‘ […] für Arnim wie für seine Zuhörer jeder Realisierungsmöglichkeit [entbehren]“,[14] hat Stefan Nienhaus die schöne Formulierung vom „erstaunlichen Hinweis auf die fehlende Anwendung“[15] gefunden.

Gerade die von Henckmann genannten entlastenden Aspekte auf Textebene sind jedoch interessant: In der Tat gelten in der Literarischen Antisemitismusforschung „positive jüdische Gegenfiguren“ sowie das „Aufzeigen unberechtigter Vorurteile gegenüber Juden“ und eine vergleichende Betrachtung der gegenübergestellten „Wir-Gruppe“, hier also der von Henckmann benannten „‚christlichen‘ Gesellschaft“, als klassische Strategien, mit denen sich deutlich machen lässt, dass der Antisemitismus Thema des Textes ist – und dieser nicht selbst daran krankt. Nehmen wir Henckmanns Einwände also ernst und betrachten „Die Majorats-Herren“ daraufhin, wird jedoch rasch deutlich, dass diese Aspekte, die sich in der Tat hervorragend hätten integrieren lassen, diesen Text gerade nicht grundieren sondern seine Darstellung ihnen sogar deutlich entgegensteht, wie die folgenden Ausführungen zu zeigen versuchen.

Die dargestellte Handlung und vor allem deren Vorgeschichte sind äußerst verworren: Ein älterer Majoratsherr war in erster Ehe kinderlos geblieben, so dass sein Vetter das Majorat geerbt hätte.[16] Um dies zu vermeiden heiratet er erneut, doch die neue junge Frau bekommt nur eine vom Lehnsrecht ausgeschlossene Tochter. Zeitgleich bringt jedoch eine Hofdame einen Sohn zur Welt, die ohnehin auf Rache an dem besagten Vetter des Majoratsherren sinnt, da dieser kurz zuvor einen Nebenbuhler im Werben um sie, den Vater des Kindes, erstochen hatte. Sie bietet dem Majoratsherren, den bereits mit dem getöteten Liebhaber gezeugten Sohn zum Kindertausch an; der Junge wird als rechtmäßiger Erbe des Majorats ausgegeben, die Tochter hingegen einem jüdischen Kaufmann übergeben, der sie annimmt und aufzieht.

Der Dialog, mit dem diese nun Esther genannte Tochter in die Novelle eingeführt wird, ist im Hinblick auf diese Verwandtschaftsverhältnisse bereits bezeichnend. Der Vetter, der eigentlich rechtmäßige, durch den Kindertausch verhinderte Erbe des Majorats, stellt sie dem (nun an seiner statt) amtierenden jungen Majoratsherren mit den Worten vor: „Die da ist ein Schickselchen. – Mein Schicksal? fragte der Majoratsherr bestürzt. – Wie sie es nennen wollen, fuhr der Vetter fort, ein Schicksalchen also, ein Judenmädchen“ (S. 113). Die tatsächliche Bedeutung des Wortes ‚Schickse‘ wird hier augenscheinlich verkehrt – bezeichnet es doch eine Nicht-Jüdin –, doch wie die spätere Auflösung zeigt, tatsächlich nur augenscheinlich: Wenn sich später herausstellt, dass Esther keine Jüdin ist, erweist sich die Bezeichnung im Gegenteil als frühe Vorwegnahme des Handlungsverlaufs.[17] Dass sie nicht als ‚Schickse‘ lebt, als nicht-jüdische Tochter des Majoratsherren, sondern durch einen Jungen ersetzt wurde, hat über das Schicksal aller Beteiligten entschieden, vor allem des Vetters, der darüber um das ihm zustehende Erbe gebracht wurde.

Esther weiß um diesen Kindertausch, der an ihrer statt angenommene Junge, der hierdurch mittlerweile Majoratsherr ist, nicht. Er erfährt davon, als er einen von Esther gespielten, imaginierten Dialog zwischen ihm und ihr belauscht, in dem sie die vertauschten Identitäten aufdeckt. Sie beginnt mit den Worten: „Sie haben mir in aller Kürze gesagt, ich sei nicht, was ich zu sein – scheine, und ich entgegne darauf, daß auch sie nicht sind, was sie scheinen“, und antwortet an Stelle des imaginären Gesprächspartners, „indem sie, zum Staunen des ansprechenden Majoratsherrn, seine Stimme täuschend nachahmte“: „Ich will mich erklären: Sie sind nicht die Tochter dessen, den die Welt als ihren Vater nennt. Sie sind ein geraubtes Christenkind, Ihren wahren Eltern, ihrem wahrem Glauben geraubt, und mein Entschluss, Sie dahin zurück zu führen, hat mich bestimmt, Ihnen meine Aufwartung zu machen. Erklären Sie sich mir jetzt auch deutlicher. Esther: Es sei. Ich bin Sie und Sie sind ich […]: Ist Ihnen denn der Eigensinn eines alten Majoratsherrn, der von seinem Vetter, dem Leutnant, mehrmals gekränkt worden, einem eignen Sohne die geliebten Reichtümer überlassen möchte, so geheimnisvoll? […] Ich werde einem dienstbaren Juden überliefert, der, außer dem Vorteil, auch seiner Religion dadurch etwas zuzuwenden hofft. Haben sie Nathan den Weisen gelesen? Majoratsherr: Nein! – Esther: Nun gut, Sie werden der Mutter an die Brust gegeben, wie die Nachtigall auch Kuckuckseier ausbrütet; doch es versteht sich, ohne etwas Böses damit sagen zu wollen.“ (S. 128)[18] Bemerkenswert sind in dem Textabschnitt vor allem die drei markanten Hervorhebungen, geleistet durch Gedankenstrich („– scheine“), Kursivierung („Religion“) und Ausrufezeichen („Nein!“). Das verzögert geleistete „– scheine“ klärt den Leser unmissverständlich über die bis zu diesem Punkt als Jüdin eingeführte Esther auf und spricht aus, was der Text zuvor bereits strukturell vollzogen hat: eine Trennung von Signifikat und Signifikant durch die Enthüllung als Schein. Dass die ausschließlich positiv beschriebene Esther nicht ist, was sie zu sein scheint, bedeutet entweder, dass sie nicht gut oder dass sie nicht jüdisch ist. Ihre Darstellung dürften und sollten die Leser bereits zuvor als inkongruent mit ihrer Titulierung als Jüdin aufgefasst haben. Die Aufdeckung wirkt insofern als Wiederherstellung eines zuvor irritiert geglaubten Bewertungssystems: Esther wirkt zu gut, als dass sie tatsächlich ‚jüdisch‘ sein könnte – und nun stellt sich heraus, dass sie es auch nicht ist. Die Kursivierung der „Religion“ als Hervorhebung und zugleich uneigentliche, distanzierende Verwendung weist auf ein ‚Mehr‘ dieses Begriffs, dem damit umgekehrt unterstellt wird, zu kurz greifend gebraucht zu werden: Dieses ‚Jüdische‘ ist mehr als eine Religion, legt es nahe. Die harsche Interpunktion schließlich („Nein!“) verrät, dass der Majoratsherr mit deutlicher Abwehr auf den Nathan-Hinweis reagiert, mit dem auf die Parallelen zwischen Lessings Drama und der hier geschilderten Findelkind-Geschichte verwiesen wird.

Für die Überprüfung des Antisemitismusvorwurfs gegen den Text ist dieser nachdrücklich hervorgehobene intertextuelle Verweis auf Lessings „Nathan“ überaus sprechend, wenngleich es von der Sekundärliteratur ebenfalls unterschiedlich bewertet wird. Heinz Härtl sieht darin das Vorhaben, „den Humanitätsgehalt dieser Dichtung assoziierbar zu machen“.[19] Auch Peter Philipp Riedl führt diese vom Autor vorgenommene Parallelisierung an, wenn er zu dem Schluss kommt, dass die im Text an anderer Stelle „anklingende Toleranz gegenüber Andersgläubigen und die Idee vom Wahrheitsgehalt aller Religionen […] an Lessings Drama Nathan der Weise [erinnern], das ja auch in der Erzählung erwähnt wird“.[20]

Bei genauerem Hinsehen jedoch dient das parallelisierende Heranziehen des „Nathan“vor allem der Demonstration eines umso heftigeren Auseinanderstrebens der Texte und ist daher deutlich anders zu bewerten. Anders als bei Lessing sind die Reden von „wahren Eltern“ und „wahrem Glauben“ hier nicht Ausgangspunkt einer Problematisierung ihrer positivistischen Verwendung, sondern bleiben unhinterfragt gesetzte Wahrheiten. Die Motivation von Esthers jüdischem Ziehvater ist von derjenigen Nathans klar verschieden: Bedacht ist er auf seinen eigenen Vorteil und jenen der jüdischen Religion, der hierdurch ein neues Mitglied zuteil wird. Von beidem wird bei Lessing nichts angedeutet; dort sind es einzig die freundschaftliche Verbundenheit mit Wolf von Filneck sowie die in dem Findelkind erkannte Prüfung durch Gott, nachdem die eigenen sieben Kinder ermordet worden sind: dem einzigen massiven Eintritt greifbaren historischen jüdischen Leids in einer ansonsten abstrakten Darstellung der Diskriminierung und Verfolgung. Deutlich dient dieser Einbruch des Realen dort als schockierendes Moment, das die Aufnahme und das Aufziehen der christlichen Recha nicht nur ‚entschuldigt‘, sondern als besonderen Akt der unkorrumpierbaren Nächstenliebe erscheinen lässt, dergestalt nobilitiert und zugleich die zuvor innertextuell geäußerten wie außertextuell vorhandenen Vorbehalte als kleingeistig erscheinen lässt und Lügen straft.

Die Begründungen von Esthers Ziehvater hingegen bestätigen antisemitische Vorurteile und schlagen lediglich in eine ohnehin vorhandene Kerbe. Ganz im Gegenteil zu den erwähnten Deutungen Härtls und Riedls spricht dies eher für eine deutliche Distanzierung und Abwendung von Lessings Text. Auch Marco Puschner befindet, dass es eine „offenkundig[e] Aufklärungskritik“ sei, die Arnim „mit der Anspielung auf Lessings Stück [betreibt]“;[21] Gerhart von Graevenitz’ Einschätzung lautet gar: „genauer, gemeiner läßt sich schwerlich eine Umkehr des Nathan denken“.[22] Zu deutlich – und sprechend – sind die Unterschiede zwischen den beiden zwar ähnlich gestrickten, aber dennoch in entscheidenden Punkten abweichenden Findelkind-Geschichten. Der intertextuelle Verweis ist somit insofern besonders perfide, als hier eine Analogie, ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Texten angedeutet wird, das in der unmittelbaren textuellen Umgebung seiner Platzierung widerlegt wird.

Schon dieser Vergleich der beiden jüdischen Ziehväter lässt erahnen, dass das erste von Henckmann genannte vermeintlich differenzierende Gestaltungsmittel Arnims – die  „Gestaltung positiver jüdischer Gegenfiguren“ – nicht erfüllt wird. Gleich der erste Satz, der Esthers Adoptivvater in die Geschichte einführt, benennt ihn als „große[n] Roßtäuscher“ (S. 113), was das Thema des Vortäuschens falscher Tatsachen, das sich auf mehreren Ebenen, zentral aber in Esthers nicht-identischer Identität durch die Novelle zieht, bereits vorwegnimmt. Mit dieser Berufswahl ist er Vertreter des antisemitisch klischierten ‚Viehjuden‘, wie auch Verkörperung ‚jüdischen‘ Schwindels und Betrugs. Zwar sind in Grimms Deutschem Wörterbuch dieser Zeit zwei Bedeutungsmöglichkeiten – das Tauschen wie das Täuschen – bekannt (die überdies beide für die Geschichte von Bedeutung wären), ursprünglich bezeichne dies jedoch jemanden, „der im Pferdehandel betrügt[23] und wird angeführt: „sie gelten als betrüger […] und erscheinen meist in schlechter gesellschaft.“[24] Anstatt den für die Berufsbezeichnung bedeutungsgleichen, aber neutralen Ausdruck „Roßhändler“ zu verwenden – wie es Kleist nur zwei Jahre vor der Entstehung der „Majorats-Herren“ als Berufsangabe Michael Kohlhaas’ getan hat –, wählt Arnim hier einen deutlich pejorativen Begriff. Dass dies nicht zufällig oder versehentlich geschieht, ist insofern unzweifelhaft, als es in der Novelle einen weiteren, christlichen Vertreter dieser Berufsgruppe gibt – dieser jedoch als „Roßhändler[25] (S. 127) eingeführt wird.

Mit diesem Ziehvater hat Esther zwar „alle Städte besucht, alle vornehme Herren bei sich gesehen“ – doch das alles, während ihnen „die Stiefmutter Vasthi mit den jüngern Kindern […] in Schmutz entgegen[ging]“: Eine Ungleichbehandlung der angenommenen Tochter gegenüber den leiblichen Kindern, die geduldet wird, da Esther „mit ihrem Wesen dem Vater gute Käufer anlockte“ (S. 113). Andeutungen einer liebevollen Beziehung zwischen beiden – wie sie zwischen Nathan und Recha trotz ‚mangelnder‘ biologischer Bande unmissverständlich gezeigt werden – sind als Momente ökonomisch ausgedrückter Zuneigung dargestellt: In seiner Sterbestunde habe er ihr noch „versichert […], daß jenes Kapital, was er mir zurücklasse, mehr betrage, als was ich nach der Stiftung des Majorats fordern könne; er habe aber wohl das Dreifache vom alten Majoratsherrn empfangen, um das Geheimnis zu bewahren, es sei die Grundlage seines großen Handelverkehrs geworden.“ (S. 129)[26] An diesen Vermögensverhältnissen wird jedoch zweierlei deutlich. Zum einen, dass die ‚rechtmäßige‘ Ordnung durch die „Juden als Profiteure einer Zeitenwende“[27] durcheinandergeraten ist: Der jüdische „Roßtäuscher“ kann seiner angenommenen Tochter mehr vermachen als der Majoratsherr seinem leiblichen Kind. Zum anderen wird deutlich, dass die Adoption kein Akt der Nächstenliebe, sondern wohlkalkuliertes Gewinngeschäft war. Seine Güte Esther gegenüber lässt sich buchstäblich in Gold aufwiegen. Die Möglichkeit der Menschlichkeit als Motivation wird von ihr selbst, der im Text wohl vertrauenswürdigsten Quelle, nicht zur Charakterisierung ihres ‚Vaters‘ erwogen, im Gegenteil. Als einzige Überlegungen des „dienstbaren Juden“ werden von ihr genannt, dass dieser mit der Adoption „außer dem Vorteil, auch seiner Religion dadurch etwas zuzuwenden hofft“. (S. 128) An dieser Figur des Vaters wird daher eine Ineinssetzung von Judentum und Ökonomie besonders deutlich. Der Handelsdrang wird hier als derart ‚im Blute liegend‘ dargestellt, dass der jüdische Kaufmann mit dem Verlust des Vermögens auch körperlich abbaut: „Aber zuletzt hatte der Vater großes Unglück durch einen Handelsgenossen, der ihm mit dem Vermögen durchging. Da gings ihm knapp; das konnte er nicht vertragen, und starb.“ (S. 113) Knappheit wird hier also von einer Mengen- zu einer Gefühlsbezeichnung.

Außer diesem Adoptivvater kommen noch drei weitere jüdische Figuren vor und damit als Gewährsfiguren für die oben angeführte „Entlastung“ Arnims in Frage: der Rabbiner, Esthers Verlobter und ihre Stiefmutter Vasthi. Henckmann zufolge erweist der Rabbiner sich „[a]ls gerecht […], wenn er Esther gegen ihre Schwiegermutter in Schutz nimmt“.[28] Doch auch in dieser Szene – der einzigen, in der er auftaucht – werden rein finanzielle Gründe für diese Inschutznahme genannt. Auf Vasthis Argumentation: „Was soll ich die Esther schonen; ist sie doch nicht das Kind meines Mannes, sondern ein angenommenes Christenkind, der er den größten Teil seines Geldes zugewendet hat“, reagiert der Rabbi ausschließlich mit dem Hinweis: „Sei Sie still […,] weiß Sie denn, wieviel der Mann mit dem Kinde bekommen hat? Alles. Er hatte nichts und konnte damit anlegen großen Handel. Was kann das Mädchen dafür, daß ihm sein Geld ist gestohlen worden?‘“ (S. 126) Nicht nur der rein ökonomische Nutzen, aus dem heraus die Fürsprache des Rabbiners motiviert wird, sondern auch seine dabei als defizitär gekennzeichnete ‚Judensprache‘ lassen ihn kaum als positiv gezeichnete Figur anführen.

Der jüdische Verlobte wiederum wird vor allem dazu eingesetzt, Esther im Vergleich zu den jüdischen Figuren um sie herum umso strahlender erscheinen zu lassen.  Als er „ganz zerlumpt“ und ohne jeglichen Besitz von einer Reise zurückkehrt, erklärt Vasthi ihm, „daß er ihre Schwelle nicht betreten, an ihre Stieftochter nicht denken solle“, Esther aber  „versichert, daß sie gerade jetzt ihre Zusage erfüllen wolle, den Unglücklichen zu heiraten, weil er Ihrer bedürfe, sonst hätte sie wegen ihrer Kränklichkeit das Verlöbnis aufgelöst.“ (S. 192)[29] Bei ihrer Stiefmutter löst dieses Verhalten „eine schreckliche Wut [aus], die kaum durch das Zwischentreten der ältesten Nachbarn beschwichtigt worden sei“ – doch nicht aus Sorge um Esther, wie sich alle einig sind: „Jedermann gebe ihr laut schuld [sic!], daß sie nicht aus Vorsorge für die Stieftochter, sondern aus Verlangen, sie zu beerben, weil sie sehr kränklich, die Heirat zu hindern suche.“ (S. 133) Esther hingegen gibt an, sie heirate ihn „nur, um ihn aus dem Elend zu retten“ und spricht davon, dass es ein „Almosen, das ich dem armen Jungen reiche; keine Hochzeit“ sei (S. 134).

Darüber hinaus scheint der namenlos bleibende jüdische Verlobte dazu zu dienen, ihn mit Esthers erstem Verlobten, einem christlichen Dragoner, zu kontrastieren. Diese erste Liebe ist  an den gesellschaftlichen Vorbehalten gegenüber einer interkonfessionellen Beziehung gescheitert, wie der Vetter berichtet. Dass sie dennoch so positiv dargestellt, ihr Scheitern derart mitleid­erregend ist, beruht wohl zu einem Großteil darauf, dass hier im Grunde etwas ‚Rechtmäßiges‘ verhindert wird: hätte es sich hierbei doch gerade nicht um eine interkonfessionelle Zusammenkunft gehandelt, sondern um eine Rückführung Esthers in die christliche Gemeinschaft. Die tatsächliche interkonfessionelle Beziehung hingegen – jene Verlobung der Nicht-Jüdin Esther mit dem verarmten jüdischen Heimkehrer – wird nachdrücklich als schädlich vorgeführt. Zwar ist sie rechtlich inzwischen möglich (wie textintern die Überlegungen des Majoratsherren zeigen, der ebenfalls an einer Heirat mit Esther interessiert ist) und wird sie in diesem Fall – da Esther für eine Jüdin, die Beziehung also nicht für interkonfessionell gehalten wird – ohnehin nicht von ‚Außen‘ problematisiert, doch rebelliert dafür nun ihr Körper. Die Beziehung wird als schmerzhaft und somit ‚ungesund‘ gezeigt, wenn Esther im Gedanken hieran von Krämpfen niedergestreckt wird: „Gott, das ist mein armer Bräutigam, sagte sie, der will mit seinen Kunststücken Geld verdienen. Diese armselige Maske […] ließ einen Teller umhergehen, um für sich einzusammeln, und eröffnete den Schauplatz […]. Zuletzt sprang er in einem leichten weißen Anzuge, doch wieder maskiert, wie eine Seele aus dem schmutzigen Maskenmantel heraus, und versicherte, mit seinem Körper seltsame Kunststücke machen zu wollen, legte sich auf den Bauch und drehte sich wie ein angestochener Käfer umher. Aber Esther faßte einen so gräßlichen Widerwillen gegen ihn in dieser Verzerrung, daß sie mit zugehaltenen Augen in Krämpfen auf ihr Bette stürzte.“ (S. 135)[30]

Nicht nur Esthers Körper fällt hier als scheinbar natürliches Warnsystem ins Auge, auch der jüdische Verlobte wird als körperlich deviant, als ‚tierisch‘, genauer: insektenhaft charakterisiert. Esther ist aufgrund ihrer Güte zwar bedacht, ihm durch die Heirat mit ökonomischer Verbundenheit zu dienen: „[S]ie […] tröstete ihn, versprach ihm, ihren Handel zu überlassen, wenn Sie verheiratet wären,“ – legt aber deutlichen Wert darauf, eine natürliche, biologische Verbindung zu vermeiden: „aber er dürfe dann nie ihr Zimmer betreten.“ (S. 133) Die vom Text auf vielerlei Ebenen aufgebaute Unterscheidung natürlicher vs. ökonomischer Verwandtschaft wird hier deutlich hierarchisiert und nachdrücklich mit leserlenkenden Präferenzen versehen.

Arnims Text arbeitet also erkennbar mit der kontrastiven Gegenüberstellung dieser ‚falschen‘ Jüdin auf der einen und ‚echten‘ Juden auf der anderen Seite, die Lessing im „Nathan“ vermeidet. Dies wird besonders an der genannten Vasthi deutlich. Wenn Henckmann von „positiven jüdischen Gegenfiguren“ schreibt, dann ist es diese Stiefmutter Esthers, zu der – auch nach Henckmann – ein Gegengewicht gefunden werden muss, wenn man Arnim vor dem Vorwurf des Antisemitismus verteidigen will. Sie wird beschrieben als „ein grimmig Judenweib, mit einer Nase wie ein Adler, mit Augen wie Karfunkel, einer Haut wie geräucherte Gänsebrust, einem Bauche wie ein Bürgermeister“ (S. 122), während ihre Ziehtochter mehrfach als „schön“ (u.v.a. S. 121) beschrieben wird, als femme fragile: „eine schmerzliche Blässe hatte das zarte Antlitz, selbst die fein geformten Lippen wie ein schädlicher Frühlingsnebel überzogen; auch ihre Augen schienen dem Lichte zu schwach und verengten sich unwillkürlich, wie Blumen gegen Abend die Blätter um ihren Sonnenkelch zusammen ziehen.“ (S. 123) Esther „spricht alle Sprachen“ (S. 113), ihre Stiefmutter Vasthi hingegen flucht „[i]n halb hebräischen Schimpfreden, und im verzerrtesten Judendialect“ (S. 122) und „wetter[t]“ schließlich „ganz hebräisch“. (S. 124) Die Erwartungen an eine antisemitische Figurenzeichnung bis hin zur ‚jüdischen Sprache‘ bedient Arnim hier par excellence.

Besonders markant ist die Kontrastierung der Figuren in der einzigen Szene, in der sowohl die beiden Frauen als auch die beiden männlichen Protagonisten, der Vetter und der Majoratsherr, zusammentreffen. Fast plakativ offenbar wird sie, wenn Vasthi Esther Dinge vorwirft, die antithetisch auf sie selbst zutreffen: „Sie hatte sich ihm schon mit ihren Waren empfohlen, und gefragt, ob sie auf sein Zimmer kommen solle, sie wolle ihm das Schönste zeigen, auch wenn er keine Elle kaufen möchte; denn er sei ein schöner Herr!“ (S. 122), wird die Stiefmutter charakterisiert. Nur wenig später wirft sie der Tochter, die der Kundschaft im Laden im Gegenteil, so weiß der Erzähler zu berichten, „ohne Zudringlichkeit Bescheid gegeben“ hatte, „Unkeuschheit [vor], mit der sie Christen in ihren Laden lockte, um ihrer eigenen Mutter den Verdienst zu rauben“. Esther schämt sich ­– sie „glühte von Schamröte“ – lässt sich auf das unwürdige Niveau jedoch nicht herab: „aber sie erwiderte nichts“. Fast unwirklich gut reagiert sie auf die tröstenden Worte des Vetters, dass ihre Stiefmutter sicher bald sterben werde: „Ich wünsche ihr langes Leben, antwortete die Gute; sie hat noch Kinder, für die sie sorgen muß.“ (S. 123) Anders als umgekehrt gönnt sie der Stiefmutter den Erfolg und neidet ihr nichts: „Der Majoratsherr wählte nun unter den Zeugen, fragte aber nach einer Farbe, die nicht im Vorrate war. Gleich sprang Esther zu ihrer Mutter nach dem andern Laden, und diese brachte mit fröhlichem Antlitz den verlangten Stoff, als ob der Gewittervorhang mit einem Hauche fortgezogen worden wäre.“ (S. 123f.)

Gerade anhand der handschriftlichen Vorarbeiten zu dieser Szene, die Renate Moering im Kommentar der Erzählung zitiert, wird erkennbar, dass die Passagen antisemitischer Kontrastierung für die Druckversion verstärkt und ausgearbeitet wurden. So fehlt in früheren Textversionen der Geschäftsszene noch Esthers Hinzuziehen Vasthis, durch das Esther als selbstlos positiv („Gleich sprang Esther zu ihrer Mutter“), Vasthi hingegen als opportunistisch heuchelnd negativ gezeichnet wird („als ob der Gewittervorhang mit einem Hauche fortgezogen worden wäre“). Für die Druckversion gestrichen wurde stattdessen eine Reflexion des Majoratsherren über Esther. Als diese ihm einen zu viel bezahlten Betrag zurück gibt, reagiert er in dieser früheren Version überrascht: „Dieser Edelmuth gab ihm Stoff sie zu rühmen, er fragte nach ihrem Namen, um noch einiges nachfordern zu können, sie nannte sich Esther, und der Majoratsherr dacht in sich, daß sie den Thron besteigen und die Judengasse eröffnen werde, um die ungläubigen Christen hineinzusperren, denn so hoch ehrte er sie schon in seinem Herzen.“[31] Eine auf den ersten Blick als Toleranzappell im Stile Lessings zu lesende Passage ­– würde hier nicht eine Nicht-Jüdin durch ihr hehres Auftreten die antisemitischen Stereotype zu widerlegen scheinen. Anders als bei Lessing, wo Nathan – und damit die Person, die auch am Ende des Stückes als einzige noch jüdisch ist – die positive Lichtgestalt darstellt, aufgrund derer die Vorurteile ins Schwanken geraten und widerlegt werden, ist es hier die ‚falsche Jüdin‘. Deren Positivität wird zudem – gänzlich entgegengesetzt zum Aufbau Lessings – auch nicht auf ihre Erziehung durch einen ‚edlen Juden‘ zurückgeführt: im Gegenteil. Esther ist nicht wegen, sondern trotz ihres Aufwachsens bei Juden gut, während Recha explizit – zumindest auch – durch Nathan zu der positiven Figur geworden ist, die sie religionsunabhängig darstellt.

Das Hinzuziehen Vasthis, das in den Vorstufen fehlt, schuf darüber hinaus die Gelegenheit zur unterschiedlichen Charakterisierung des Geschäftsgebahrens des Majoratsherren und des Vetters, die hierdurch in dieser Szene ebenfalls gegenübergestellt werden und der jeweiligen Schärfung des Profils des anderen dienen: „Der Leutnant wollte viel abdingen; aber der Majoratsherr warf das Geld hin, was verlangt worden“, heißt es über ihr unterschiedliches ökonomisches Handeln; auf das „[W]ettern“ Vasthis, als Esther dem Majoratsherrn das ihm zustehende Rückgeld gibt, antwortet der Vetter auf Hebräisch. Seine Kenntnisse erklärt er später: „Das brauchte ich zu meinem Verkehr mit den Juden […], und was es mir kostet an Büchern und Lehrmeistern, hat es mir reichlich wieder eingebracht, denn ich konnte nun alle ihre Heimlichkeiten verstehen.“ (S. 124) Zwar schlägt die Kritik durch den letzten Satz erneut auf ‚die Juden‘ zurück, indem auf die stereotype ‚jüdische Heimlichkeit‘ – und damit Unheimlichkeit – rekurriert wird. Doch steht auch der Leutnant in schlechtem Licht dar, der sich von diesen Heimlichkeiten nicht distanziert, geschweige denn sie bekämpft, sondern sich im Gegenteil annähert, anbiedert für geschäftlichen Gewinn, der hierüber ebenfalls als ein illegitim erwirtschafteter dargestellt wird.

Indes wird deutlich, dass er sich nicht nur bewusst angepasst hat, sondern auch schon ihm unbewusste Anpassungen in ihn übergegangen sind. Außer dem Hebräisch – das er als Fremdsprache spricht –, hat er sich auch in seiner eigenen Sprache bereits dem (vermeintlich) ‚jüdischen‘ Idiom angepasst: Nicht nur sein in einer früheren Szene geäußerter, viel zitierter Ausspruch „Ursach warum?“ (S. 113) zeugt hiervon, sondern auch der fehlerhafte Satzbau während seines vermeint­lich reflektierten Sprechens über diese Anpassung: „und was es mir kostet“. Er erweist sich so als überaus gelehriger Schüler des Handelsgeistes ‚der Juden‘, indem er von ihnen lernt, sich ihre Waffen zunutze macht. Umso erkennbarer sind diese dadurch jedoch als jüdischen Ursprungs geschildert, der Vetter so eher noch ein bemitleidenswertes Opfer in seinem Eifer, es ihnen gleich zu tun.[32]

Neben der ‚falschen Jüdin‘ Esther, die sich als Nicht-Jüdin herausstellt, gibt es demnach auch Nicht-Juden, die als immer ‚jüdischer‘ dargestellt werden. Die vielfach vorgetragene Verteidigung des Textes gegen den Antisemitismusvorwurf, dass die Vertreter des ancien régime ebenso negativ dargestellt sind, wie die jüdischen Figuren,[33] ist daher insofern wenig aussagekräftig, als sie zugleich deutlich als ‚verjudet‘ präsentiert werden. Die bereits erwähnte, von Arnim und anderen befürchtete jüdische ‚Unterwanderung‘ der Gesellschaft wird so auf besonders hintersinnige Weise dargestellt. Der Text arbeitet mit einem Repräsentations­verfahren, in dem diskursive Stereotype wie jenes des ‚Schacherns‘ von den jüdischen Figuren abgelöst und langsam auf die christlichen Figuren übergreifend dargestellt werden, dadurch an Bedrohung gewinnen – hier anhand des Vetters, der mit seinem Haus schon topografisch, wie mehrfach betont wird, an die „Judengasse“ grenzt.

Anders als in Lessings „Nathan der Weise“, wo mit Ausnahme des Patriarchen selbst die negativen Handlungen der Figuren als von gutem Willen geleitet gezeigt und erklärt werden, erweisen sich bei Arnim – mit Ausnahme von Esther und dem jungen Majorats­herren, die hierbei lediglich als Spielbälle fungieren – beinahe alle Figuren als von niederen Motiven geleitet; wobei nahegelegt wird, dass dies bei den nicht-jüdischen darauf zurückzuführen ist, dass sie durch die neue, von den Juden des Textes repräsentierte Wertordnung korrumpiert wurden. Der alte Majoratsherr ist nicht an seiner Tochter, sondern nur an der Sicherung seines Vermögens interessiert, das er seinen übrigen Blutsverwandten nicht gönnt; die Hofdame ist bereit, ihr Kind, ihr biologisches Erbe, wegzugeben, wenn sie dadurch den Mörder ihres Liebhabers um dessen materielles Erbe bringen kann; Vasthi ist gar zu einem Mord bereit, um sich ein ihr weder biologisch noch sonst wie zustehendes Erbe zu sichern – eine Tat, die der Vetter bereits zu Beginn der Erzählung antizipiert: „Dieser Tochter erster Ehe, der Esther, hinterließ er ein kleines Kapital, damit sie von der Stiefmutter nicht zu Tode gequält würde; aber das läßt sich die alte Vasthi doch nicht nehmen.“ (S. 113) Ironischerweise ist es letztlich jedoch genau dieser Besitz, wegen dessen sie von der Stiefmutter umgebracht wird. Bereits zuvor wird Vasthi mit den Worten zitiert, „[s]ie freue sich darauf, wenn Esther stürbe, da würde es eine schöne Auction geben!“ (S. 124)

Im Vergleich zum „Nathan“ verändert Arnim dadurch zudem die verhandelten Formen von Familienverhältnissen in einem entscheidenden Punkt: Gegenüber religiösen, kulturellen, biologischen und ‚lebensrettenden‘ Zusammenhängen bei Lessing treten hier über die festgelegte Erbfolge des Majorats ökonomische sowie ‚lebensbeendende‘ Bande in den Vordergrund. Über die Unterwanderung der zwischenmenschlich-familiären Solidarität durch profitorientiert-ökonomisches Denken wird eine Wende dargestellt, die das Fundament der nationalen Gemeinschaft ins Wanken bringt. Die biologischen Verwandtschaftsverhältnisse werden als pervertiert dargestellt und beeinflussen durch das Majorat als strengstes Erbrecht der Zeit lediglich die ökonomischen Verhältnisse der drei dargestellten Generationen der Familie. Sollte das Majorat eigentlich das ancien régime schützen, indem große Besitztümer gesichert wurden, hat es hier den gegenteiligen Effekt, da die handelnden Figuren sich nicht an die Ordnungen halten, sondern im Gegenteil versuchen, diese zu unterlaufen und sich ihnen so zu widersetzen.

Renate Moerings Aussage, dass „[d]ie Novelle […] keinerlei positive Heldengestalt [enthält]“[34] ist daher lediglich mit Hinweis auf die einzige durchgehend positiv gezeichnete Figur zu widersprechen: die ‚falsche Jüdin‘ Esther, die über das Majorat die rechtmäßige Ordnung repräsentiert, jedoch von ihrem Vater dem ökonomischen Denken geopfert wird und infolgedessen unter und durch Juden zugrunde geht. Die natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse sind auch hier gestört worden – aber nicht aus der Not heraus, wie bei Lessing, sondern aus ökonomischem Kalkül. Biologische Verwandtschaft wird dem profitorientierten Ausnutzen der mit dieser verbundenen Erbregeln untergeordnet, was schließlich zur Übernahme der rein kapitalistischen Geldgier führt. Wird in Lessings „Nathan“ also die Schaffung einer inter­konfessionellen Genealogie durch Lebensrettungen gezeigt, wird bei Arnim eine ‚natürliche‘ Genealogie, deren Einhaltung keine andere Erbrechtsfolge derart streng fest­legt wie das von Arnim zur Darstellung gewählte Majoratsrecht, durch den Kindertausch aus Habgier unterbrochen und somit zur Unterwanderung durch Juden freigegeben.

Wäre Esther nicht fortgegeben worden, so wäre der Verlauf der Geschichte so nicht möglich gewesen. Die egoistische Rettung des Majorats, das sonst an den Vetter übertragen worden wäre, führt über den jüdischen Ziehvater zum Kontakt mit der jüdischen Ghetto-Bevölkerung, der Vasthi wiederum die ‚feindliche Übernahme‘ des Majorats und die Ablösung des mit ihm verbundenen Rechts ermöglicht. Das Majorat als Bastion einer von Umwälzungen geprägten Zeit und Gesellschafts­ordnung wird übernommen durch Juden, die so deutlich als Beförderer und (gewissenlose) Nutznießer dieser Veränderungen dargestellt werden: „Bald darauf kam die Stadt unter die Herrschaft der Fremden; die Lehnsmajorate wurden aufgehoben, die Juden aus der engen Gasse befreit, der Continent aber wie ein überwiesener Verbrecher eingesperrt. Da gab es viel heimlichen Handelsverkehr auf Schleichwegen, und Vasthi soll ihre Zeit so wohl benutzt haben, daß sie das ausgestorbene Majoratshaus durch Gunst der neuen Regierung zur Anlegung einer Salmiakfabrik für eine Kleinigkeit erkaufte, welche durch den Verkauf einiger darin übernommenen Bilder völlig wieder erstattet war.“ (S. 146)[35]

Dies lässt jedoch nicht nur die jüdischen Figuren in schlechtem Licht erscheinen – Arnims Antisemitismus ist offenkundig vorrangig ökonomisch begründet –; gezeigt wird hieran ebenso die Schuld derer, die dies ermöglicht haben: die von ökonomischen Überlegungen geleitete ältere Majorats-Generation, die hierin als ‚verjudet‘ dargestellt wird, ebenso wie der junge Majoratsherr, als letzter Vertreter des ancien régime, der mit offenen Augen das Unglück erwartet, aber nicht bekämpft. Am Ende der Erzählung steht die endgültige Ablösung der biologischen durch die ökonomischen Bindungen: „und es trat der Credit an die Stelle des Lehnrechts“ (S. 147).

[1] Vgl. zum Antisemitismus der „Deutschen Tischgesellschaft“ ausführlich Nienhaus, Stefan: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Tübingen 2003.

[2] Arnim, Ludwig Achim von: Die Majorats-Herren. In: ders.: Werke. Band 4. Sämtliche Erzählungen 1818-1830. Hrsg. v. Renate Moering. Frankfurt a. M. 1992, S. 107-147.

[3] Graevenitz, Gerhart von: Die Majoratsherren der Juden oder Achim von Arnims antisemitische querelle des anciens et des modernes. In: Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza und Albrecht Koschorke (Hrsg.): Das Politische: Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. München 2003, S. 210-229, S. 213.

[4] Henel, Heinrich: Arnims Majoratsherren. In: Klaus Peter (Hrsg.): Romantikforschung seit 1945. Königstein/Ts. 1980, S. 145-167, S. 161.

[5] Robertson, Ritchie: Antisemitismus und Ambivalenz: Zu Achim von Arnims Erzählung „Die Majoratsherren“. In: Sheila Dickson und Walter Pape (Hrsg.): Romantische Identitätskonstruktionen: Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie. Tübingen 2003, S. 51-63, S. 51.

[6] Ebd.

[7] Henckmann, Gisela: Das Problem des „Antisemitismus“ bei Achim von Arnim. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 1986, S. 48-69, S. 57.

[8] Ebd., S. 57f.

[9] Ebd., S. 69.

[10] Ebd., S. 52.

[11] Ebd., S. 59.

[12] Ebd.

[13] Ebd., S. 69.

[14] Ebd., S. 62.

[15] Nienhaus 2003, S. 325.

[16] Nach Johann Heinrich Zedlers Grossem vollständigem Universallexicon aller Wissenschafften und Künste ist das Majorats-Recht „das Vorzugs-Recht, welches der älteste eines Geschlechts hat, und darinnen bestehet, daß er ganz allein die Stamm-Güther besitzet, die jüngern oder Cadets aber nur eine gewisse Abfertigung und Unterhalt bekommen. Es ist dasselbe mit dem Recht der Erst-Geburt […]. Die Succeßion aber in dem Majorat fällt allein auf die ehelich gebohrnen, oder durch die erfolgte Heyrath legitimirte Erstgebohrne, und nicht auf die Bastarten, ob sie gleich per rescriptum Principis sich darzu qualificiren wollten. Wann hingegen ein Geschlecht, so den Majorat auf eine Herrschafft gehabt, mit dem Mann-Stamm abstirbet, und nichts als Töchter und Muhmen annoch vorhanden sind, so höret auch alsdann, wie die vornehmsten Rechts-Lehrer davor halten, solcher Majorat auf, wenn er auf einem frey eigenen, und nicht auf einem Lehn-Guth liegt. Wenn das Recht der Erstgeburt mit dem Majorats-Rechte verknüpffet ist, so succediret nicht der, so in der ganzen Familie, sondern der, welcher in der Linie des Erstgebohrnen der älteste ist.“ Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. Band 19 (M-Ma). Halle, Leipzig 1732, S. 629f., S. 629

[17] Renate Moering geht in ihrem Kommentar des Textes auf diesen Widerspruch nicht ein, obwohl sie ihn erkennt. Dort heißt es entsprechend paradox: „Schickselchen] Jüdisches Mädchen; eigentlich bedeutet im Jiddischen ‚Schickse‘ ein nichtjüdisches Mädchen.“ Moering, Renate: Kommentar zu Achim von Arnims Die Majorats-Herren. In: Arnim, Ludwig Achim von: Die Majorats-Herren. In: ders.: Sämtliche Erzählungen 1818-1830. Werke. Band 4. Hrsg. v. Renate Moering. Frankfurt a. M. 1992, S. 1031-1057, S. 1053.

[18] Marco Puschner schreibt, dass „[d]urch den despiktierlichen Vergleich mit dem Kuckucksei […] die ehrenvolle Haltung, die Lessings Protagonist demonstriert hatte, indem er nach der Ermordung seiner sieben Kinder dem aufgenommenen Christenkinde die ‚siebenfache Liebe‘ […] zu­kommen ließ, noch einmal konterkariert [wird]“. Puschner, Marco: Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik. Konstruktionen des „Deutschen“ und des „Jüdischen“ bei Arnim, Brentano und Saul Ascher. Tübingen 2008, S. 343. Esther bezeichnet hier jedoch nicht sich selbst, sondern den Majoratsherren als ‚Kuckuckskind‘: „Esther: Nun gut, Sie werden der Mutter an die Brust gegeben, wie die Nachtigall auch Kuckuckseier ausbrütet; doch es versteht sich, ohne etwas Böses damit sagen zu wollen.“ Arnim 1992, S. 128. Hervorhebung N. T. Die Schlussfolgerungen Puschners werden hierdurch jedoch im Grunde bestärkt: Mit der deutlich positiv konnotierten Nachtigall ist eben nicht der jüdische Ziehvater sondern die christliche Ziehmutter gemeint.

[19] Härtl, Heinz: Romantischer Antisemitismus: Arnim und die Tischgesellschaft. In: Weimarer Beiträge Nr. 7 (1987), S. 1159-1173, S. 1167.

[20] Riedl, Peter Philipp: „…das ist ein ewig Schachern und Zänken…“ Achim von Arnims Haltung zu den Juden in den Majorats-Herren und anderen Schriften. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 1994, S. 72-105, S. 84.

[21] Puschner 2008, S. 343. Wie Puschner ergänzt, spricht „[a]uch die Tatsache, daß der üble Wucherer im Drama Halle den gleichen Namen trägt wie Lessings ‚Weiser‘ […] dafür, daß getrost von einer kritischern Lessing-Rezeption durch Arnim ausgegangen werden darf“. Ebd.

[22] Graevenitz 2003, S. 226.

[23] Hierbei stützt sich der Eintrag „auf die etymologie des zweiten wortgliedes […]. gestützt wird die annahme dadurch, dasz diese seite des betrüglichen handelns gerade in den ältesten belegstellen klar zu tage tritt“. Eintrag „rosstauscher, rosstäuscher“. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Band 14, Sp. 1276. Online unter: http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=rosstauscher (Stand: 02.03.2013).

[24] Ebd.

[25] Hervorhebung N.T.

[26] Vgl. hierzu auch Puschner, der in dieser Darstellung der materiellen Interessen – im Gegen­satz zu Nathans humanitären – einen Kommentar Arnims zu den zeitgenössischen Debatten um jüdische Assimilation und Emanzipation sieht. Puschner 2008, S. 342f.

[27] Ebd., S. 342.

[28] Henckmann 1986, S. 55. Renate Moering nennt als Begründung für ihr knappes Urteil („Allerdings ist diese Erzählung nicht antisemitisch“) ebenfalls unter anderem den „versöhnlich gestimmten Rabbiner“, der Vasthi zur Seite gestellt werde. Moering 1992, S. 1038. Auch Riedl befindet, dass „einzelne jüdische Figuren wie der Rabbi, der Esther gegen Vasthi in Schutz nimmt, […] nicht schlechter dargestellt [werden] als nichtjüdische Personen in der Erzählung“. Riedl 1994, S. 75.

[29] Hervorhebung N.T.

[30] Mit dieser Text­stelle wäre Riedls Bewertung einzuschränken, derzufolge sich zwar „Ansätze eines zum Teil biologistisch motivierten Judenhasses mit einem detaillierten Ungeziefer- und Seuchenvokabular […] bereits zur Zeit Arnims“ finden, aber „[d]erartige Spuren […] sich in Arnims Judenbild im ganzen nicht ausmachen [lassen], ansatzweise in seiner Rede vor der Tischgesellschaft“. Riedl 1994, S. 97f.

[31] Zit. n. Moering 1992, S. 1042.

[32] Henckmann nimmt den Text dahingehend in Schutz, dass sich zwar „Arnims Kritik, sein satirischer Spott […] gegen den jüdischen Handelsgeist in all seinen Metamorphosen von Schacher und Wucher bis hin zum modernen Kapitalismus“ richtet. Ihr zufolge ist dieser „aber, über den persönlichen Anlaß hinaus, als Teil einer umfassenderen Zeitkritik zu sehen, die sich gegen den aufkommenden Materialismus richtet.“ Henckmann 1986, S. 69. Diese Zeitkritik Arnims ist aber deutlich Kritik an einer Zeit von Veränderungen (die ihn auch persönlich negativ betreffen), die er ‚den Juden‘ zuschreibt: einer Zeit also, die er vor allem aufgrund ‚der Juden‘ und ihres vermeintlichen Einflusses als kritikwürdig empfindet.

[33] Vgl. etwa ebd., S. 54f., sowie Moering, von der dies als zentrales Argument genannt wird: „Vor allem aber sind die Verwandten des Majoratsherren in keiner Weise bessere Menschen.“ Moering 1992, S. 1038.

[34] Ebd., S. 1039.

[35] Hervorhebung im Original.