Gequälte Melancholie

Eine persönliche Anthologie

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen Neuer Sachlichkeit und Gebrauchslyrik changieren die Gedichte Erich Kästners, die er selbst Ende der 20er Jahre als "seelisch verwendbar" bezeichnete. Das aber ist nur scheinbar eine eindeutige Formel, denn wie, bitte schön, sollen die vielen Gedichte, die Kästner schrieb, verwendet werden? Können sie die Seele doch einerseits auf- und wachrütteln oder sie andererseits erheitern und beruhigen, also zwei durchaus widersprüchliche Wirkungen auf unser Innenleben ausüben.

Daß Kästners Gedichte ersteres nicht taten, das bemerkt auch Marcel Reich-Ranicki in seinem Nachwort zur Ausgabe des Bandes. Zumindest zitiert er zustimmend Walter Benjamin, der 1931 über die Gedichte Kästners schrieb: "Kurz, dieser linke Radikalismus ist genau diejenige Haltung, der überhaupt keine politische Aktion mehr entspricht." Das aber sei, so Reichz-Ranicki, auch schon der treffendste Satz in einer ideologisch verblendeten Kritik und zudem, aus heutiger Sicht, kein Makel, sondern ein Vorzug von Kästners Lyrik. An dieser Auffassung wären Zweifel anzumelden.

Es ist richtig, daß Benjamins Kritik ideologisch verblendet war, denn sie vergißt, dem politischen Urteil das ästhetische folgen zu lassen. Gerade von ihm, der einen nahezu untrüglichen Sinn für den geistigen Rang lyrischer Produkte besaß, hätte man ein solches jedoch erwartet. Aus der sehr treffenden Äußerung Benjamins: "Nie hat man in einer ungemütlichen Situation sich's gemütlicher eingerichtet", läßt sich nämlich das ästhetische Scheitern dieser Gedichte ableiten. So wenig wollen diese Gedichte opponieren, daß ihre Form sich jenseits aller neumodischen Sachlichkeit der schieren Konventionalität anheimgibt. Und so wenig wollen diese Gedichte opponieren, daß ihr oft schaler Witz und ihre bemühte Ironie die starke Saturiertheit nicht ablegen können. "Gequälte Stupidität: das ist von den zweitausendjährigen Metamorphosen der Melancholie die letzte" - ein hartes Urteil. Die wahre Ursache dieser allein in der Lyrik Kästners gequält sich ausdrückenden Melancholie erkennt Benjamin jedoch nicht. An dem Gedicht "Eine Mutter zieht Bilanz" bemängelt er die schiefe Ökonomie, während es doch zum Himmel schreit, daß es Kästner nicht um die "nächtlichen Gedanken einer Proletarierfrau" zu tun ist, wie Benjamin insinuiert, sondern um die die Seele beruhigende Verarbeitung seiner eigenen, höchst problematischen Mutterbindung.

Teofila Reich-Ranicki ist es gelungen, in ihrer sehr persönlichen Auswahl auch einige solcher Gedichte unterzubringen, die sich von den anderen fast lautlos abheben. Im Nachwort liest man: "Eine Kunst, die programmatisch auf praktische Anwendbarkeit aus ist, hat immer auch etwas Kunstgewerbliches; und ein Kunstgewerbe von so hoher Meisterschaft ist zugleich immer auch Kunst." Dem ist erneut zu widersprechen. Vom Kunstgewerbe befreien sich nur die Gedichte, die nicht verwendbar sein wollen, und nur sie öffnen sich der Kunst. So wie die wunderschöne "Sachliche Romanze", die bei aller tatsächlichen Sachlichkeit derart tief in das Geheimnis der Liebe und ihrer grundlosen, unbegreiflichen Zerbrechlichkeit eindringt, daß man sich fragt, ob der Lyriker Kästner mit der Vielschreiberei nicht seine wesentlichen Talente verschenkt hat.

Titelbild

Erich Kästner: Seelisch verwendbar. 66 Gedichte, 16 Epigramme und 1 Prosaische Zwischenbemerkung.
Ausgewählt von Teofila Reich-Renicki.
Carl Hanser Verlag, München Wien 1998.
150 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3446195092

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