Wie Frauen leben?

Über die Erzählungssammlung „Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio“ von Rafael Cardoso

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war der Argentinier Jorge Luis Borges, der einmal geschrieben hat, dass uns der Optimismus des 19. Jahrhunderts fehle, um noch glauben zu können, dass die Welt sich in einem Roman erfassen lasse, weshalb die angemessene Form der literarischen Welterfassung die Kurzprosa sei. Daher nimmt es nicht wunder, dass der Brasilianer Rafael Cardoso für die literarische Erkundung seiner Heimatstadt Rio de Janeiro die Form der Kurzgeschichte gewählt hat, 16 Geschichten im Umfang von 10 bis 15 Seiten sind es, die er in einem Zyklus aufeinanderfolgen lässt.

Mit mittlerweile 7 Millionen Einwohnern im Stadtgebiet, rund 12 Millionen im näheren Einzugsgebiet, ist Rio die zweitgrößte Stadt Brasiliens, Metropole und Moloch zugleich, bewacht von der 38 Meter hohen Christus-Statue auf dem Gipfel des Corcovado, berühmt durch seine Sambaschulen und den Karneval, berüchtigt für seine Favelas und jene von Drogengangs regierten Viertel, in denen nicht die Polizei, sondern bewaffnete Milizen das Sagen haben, bebildert immer wieder durch die Schnappschüsse des Strandes der Copacabana, des vielleicht berühmtesten der insgesamt 159 Stadtviertel von Rio. Rio ist eine Stadt der Gegensätze und es ist erstaunlich, dass sie literarisch bisher so wenig in Erscheinung getreten ist.

Rafael Cardoso möchte seiner Stadt eine literarische Liebeserklärung machen, ein „Mosaik des zeitgenössischen Rio“ erschaffen, wie der brasilianische Verlag ankündigte. Entre as mulheres (deutsch etwa „Zwischen den Frauen“), wie der Band im Original heißt, ist auf Portugiesisch bereits 2007 erschienen – und es ist wohl vor allem dem Umstand, dass Brasilien dieses Jahr Gastland auf der Buchmesse ist, zu verdanken, dass er nun im Fischer-Verlag in der Übersetzung von Peter Kultzen auf Deutsch vorliegt. 16 Erzählungen von 16 Frauen aus 16 Stadtteilen Rios, vom südlichen Nobelviertel Barra (da Tijuca) über die Hügelkette inmitten der Stadt bis hin zum stärker industrialisierten Norden. So heterogen wie die Stadtteile sind auch Cardosos Protagonistinnen: von der sechsjährigen Jade bis hin zur über 90-jährigen Greisin Maria erzählt er von allen Alters- und Sozialschichten. Cardosos Frauen sind Schauspielerinnen, Stewardessen, Verkäuferinnen, Studentinnen, Rentnerinnen oder arbeitslos, manchmal auch des Arbeitens überdrüssig – sie sind reich, sie sind arm, sie lieben und trauern, sie werden verrückt und sie werden überfallen, sie sind glücklich und zufrieden, sie sind traurig und depressiv, sie haben Träume und geben sich Illusionen hin. Ihre Geschichten sind verknüpft durch die Stadt, in der sie leben, und durch Rafael, einen jungen DJ und Frauenschwarm, der in jeder der Erzählungen zumindest am Rande vorkommt.

All das klingt, als wäre Rafael Cardoso möglicherweise eine authentische Schilderung des Lebens in Rio gelungen, aber das ist es nicht. Fast all seine Frauen bleiben seltsam blutleer und zeitweise holzschnittartig. Es gelingt ihm zwar, jede seiner Figuren mit einer eigenen Sprache und einer genuinen Sicht auf Leben und Liebe auszustatten, gleichwohl verharren die Frauen zu oft im Klischee: Sie halten ihre Handtasche mit beiden Händen vor der Brust fest, wenn sie von fremden Männern angesprochen werden, sie verfallen dem hübschen, aber leider bösen Drogendealer aus der Favela, der sie erst hofiert, zu seiner Braut macht und sie schließlich fallenlässt, sie fühlen sich von ihren Ehemännern vernachlässigt und schlafen deshalb mit Fremden, sie werden 40 und fühlen ihre Schönheit vergehen, und wenn die Schönheit mit 50 dann fort ist, nehmen sie Drogen und werden verrückt. Die älteren Frauen bei Cardoso sind resolut und wollen bleiben, wo sie sind, die jungen haben den Kopf voller Träume, schießen jeden guten Ratschlag in den Wind und begeben sich in Gefahr. Und wenn die junge, zunächst arrogante Reporterin Ângela in der zehnten Geschichte die mittlerweile über 70-jährige ehemalige Prostituierte Dona Ceiça interviewt, dann steht am Ende der Erzählung Bewunderung für die starke Frau, die allen Widrigkeiten zum Trotz ihren Weg gegangen ist und niemals aufgegeben hat – die Alte wird zur „liebevollen Mutter“ und bei Ângela ist „von dem anfänglichen Hochmut nichts mehr übrig“. An solchen Stellen streifen die Erzählungen Cardosos den Kitsch: „Für einen kurzen Moment trafen sich die Blicke der beiden Frauen, und ein geheimes Einverständnis leuchtete darin auf.“

Man kann einen solchen Stil mögen, aber es fällt schwer angesichts der zahlreichen derartigen Beispiele in den Geschichten. Wenn der Arbeitskollege der vernachlässigten Ehefrau als „einfach wunderbar: Sanft, zärtlich, dabei aber sehr männlich“ beschrieben wird oder es von der jungen Prostituierten heißt: „Ja, auch Huren haben Träume, aber natürlich träumen sie nicht von Sex, eher von einer Welt ohne Sex“, dann ist das keine psychologische Auslotung der Figuren, sondern eine Reproduktion von Klischees, die bis in die sprachlichen Formulierungen hinein antiquiert erscheint. Die Beschreibung eines Geschlechtsaktes der untreuen Ehefrau wäre sogar eine wunderbare Spielwiese der frühen Frauenbildforschung: „Er roch, wie nur Männer riechen, und benahm sich auch wie ein richtiger Mann. Er umarmte sie fest und glitt über sie hinweg und dann in sie hinein, herrlich!“

Damit wirkt „Sechzehn Frauen“ letztlich etwas altbacken – und der Stadt, die es eigentlich beschreiben möchte, gar nicht angemessen. Der Puls der Metropole, ihre Heterogenität, ihre Geschwindigkeit, aber auch ihre brütende Hitze werden weder inhaltlich noch stilistisch eingefangen. Keine Frage, Cardoso mag seine sechzehn Frauen, jede einzelne von ihnen, er respektiert sie und erzählt ihre Geschichten durchaus ambitioniert. Jeder von ihnen möchte er einen eigenen Ton geben, jeder von ihnen ihr Recht auf den je eigenen Lebensentwurf, auf das individuelle Glück – all das ist in den besten Momenten unterhaltsam, in den schlechtesten nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Stereotypen und medial vermittelten Klischees. Wenn man sich daran nicht stört, liest man mit „Sechzehn Frauen“ einige leichte Geschichten über das Leben von Frauen in einer Großstadt, über ihre Probleme und kleinen fröhlichen Momente, aber es bleibt wenig von diesen Lebensgeschichten. Das ist etwas schade, denn einzelne Erzählungen hätten viel Potential gehabt. So die schimpfende, fluchende und doch liebenswert-augenzwinkernde Hasstirade der 29-jährigen Ana, die zeitweise einfach „kotzen“ möchte im Angesicht des Molochs Rio, dann merkt man endlich etwas von dieser Stadt im Text und man merkt, dass die Stadt eigentlich zu viel ist für den Text. Es wäre spannend gewesen, dieses zu viel an Stadt in „Sechzehn Frauen“ wiederzufinden.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Rafael Cardoso: Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Peter Kultzen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
316 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100108500

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