Neues aus den Untiefen der Festplatte

Mit Roberto Bolaños Roman „Die Nöte des wahren Polizisten“ setzt sich die Plünderung des Archivs fort – mit gemischten Ergebnissen

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit seinem frühen Tod vor zehn Jahren ist der Nachlass des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño zu einer scheinbar unerschöpflichen Quelle an neuem, unveröffentlichten Material geworden. Hatte er sein opus magnum „2666“ gerade noch vollenden können (sollten Bolaño-Romane überhaupt als ‚abgeschlossen‘ im strengen Sinne gelten können), so erschienen in den letzten Jahren zahlreiche neue Bände mit Texten, die der schierden unendlichen Tiefen seiner oft thematisierten Computerfestplatte entrissen wurden, die dem Bewunderer dieses Schriftstellers langsam vorkommen muss wie der heilige Gral der zeitgenössischen Literatur. Ein Wunder ist es indes nicht, dass Bolaños spanischer Verlag Anagrama immer wieder mit neuen Romanen, Erzählungen, Essays oder Gedichten aufwartet, schließlich hat wohl kein anderer Autor im letzten Jahrzehnt eine so blitzartige Karriere zum Liebling von Kritikern, Wissenschaftlern und Lesern zugleich hingelegt – zu Recht. Und trotzdem erklärt die so genannte ‚Bolañomania‘ nicht die undurchsichtige Veröffentlichungspolitik, die uns nun in den Genuss eines – ebenfalls zu Recht – nie fertig gestellten Romans kommen lässt, der uns aber immer wieder als abgeschlossenes Werk angepriesen wird.

Natürlich steht „Die Nöte des wahren Polizisten“ durchaus in einer Tradition posthumer Bolaño-Veröffentlichungen: Nach „2666“ konnten sich Anhänger des Autors über die Publikation seines Romandebüts „Das Dritte Reich“ freuen – ein Buch,, das der Autor niemals auf dem Markt sehen wollte, zu Unrecht, mag man hier einwerfen, handelt es sich doch um ein überzeugendes, teilweise brillantes Kammerspiel, in dem bereits die großen Themen Bolaños angelegt sind. „El secreto del mal“ ist indes eine halbgare Sammlung von Erzählungen und Essays und „La universidad desconocida“ mehr eine Anthologie seiner frühen Gedicht- und Prosabände, garniert mit einigen unveröffentlichten Texten und in eine neue, wohl die von Bolaño zunächst so vorgesehene Reihenfolge gebracht. Beide Bücher wurden bisher nicht ins Deutsche übertragen. Anders liegt der Fall bei „Die Nöte des wahren Polizisten“, vom spanischen Verlag erst noch zögerlich, dann aufgrund der aufkeimenden Begeisterung offensiv als wahlweise Prequel, Sequel oder Kompendium zu „2666“ angepriesen. Ein in den Worten jenes Verlags mehr oder weniger abgeschlossener Roman jedenfalls, der die mysteriöse Geschichte seines erfolgreichsten (und kryptischsten) Buches weiterspinnt. Die Wahrheit sieht etwas anders aus.

Tatsächlich ist der Protagonist des Romans jener chilenische Literaturprofessor namens Amalfitano, der im zweiten (und am ehesten unfertig wirkenden) Teil von „2666“ mit seiner Tochter in der Wüste von Sonora lebt, seine Frau vermisst und irgendwann ein Algebra-Buch auf eine Wäscheleine hängt. Am Ende wird Amalfitano in eine etwas undurchschaubare Krimi-Handlung hereingezogen und dann ist sein Auftritt auch schon wieder beendet. In „Die Nöte des wahren Polizisten“ erfahren wir jetzt mehr über Amalfitano: Offensichtlich ist der Professor homosexuell, hatte eine Affäre mit einem Studenten und musste seinen Wohnort Spanien aus diesem Grund verlassen. Ein großer Teil des Romans besteht aus dem Briefwechsel mit besagtem Studenten, der wohl an AIDS erkrankt ist, gGenaueres erfährt man natürlich nicht. Auch Benno von Archimboldi, der sagenumworbene deutsche Schriftsteller, um den sich „2666“ im Grunde dreht, taucht wieder auf, mehr noch: sein literarisches Werk wird, einem Literaturlexikon gleich, ein ganzes Kapitel lang seziert. Allerdings heißt er hier Arcimboldi, ist Franzose und schlägt sich als Magier durch. Spätestens hier läuten beim Bolaño-Kennern die Alarmglocken, denn genau jener Magier hat auch in „2666“ einen kurzen Auftritt, weil er zum Opfer einer Verwechslung mit gerade jenem verschollenen deutschen Schriftsteller Benno von Archimboldi wurde.

Verwirrend? Natürlich, so ist das eben im Bolaño-Kosmos. Und trotzdem verdichten sich beim Lesen die Hinweise, dass es sich um bei dieses diesem, aus den Untiefen der ominösen Festplatte geretteten Romans um Fragmente handelt, die als Vorstudien zu „2666“ gelten können, um verworfene Figuren (wie der homosexuelle Liebhaber Amalfitanos) oder welche, die in anderen Romanen wieder auftauchen (so etwa die ‚poetas bárbaros aus „Die wilden Detektive“). Auch, dass die verschiedenen Teile zwar thematisch mehr oder weniger um Amalfitano kreisen, mag als Argument für eine relative Geschlossenheit des Textes geltend gemacht werden, doch während es Bolaños liebstes Stilmittel ist, Geschichten anzureißen und sie im Nichts verlaufen zu lassen, hat er dies niemals so abrupt und unelegant gelöst, wie man nach der Lektüre dieses Buches denken könnte.

Alles in allem ist „Die Nöte des wahren Polizisten“ ein für Philologen äußerst spannendes Buch, weil es einen tiefen Einblick in die Arbeitsweise des Autors vermittelt, auf erste Skizzen von Figuren und Plots, die sich letztlich, in anderen Werken, ganz anders entwickeln würden. Zu behaupten, dieses Buch sei erstens ein abgeschlossener Roman und zweitens auch noch ein weiterer narrativer Schlüssel zur Lösung des Rätsels „2666“ ist allerdings mehr als unangebracht.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Roberto Bolaño: Die Nöte des wahren Polizisten. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Christian Hansen.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
272 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446239739

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