Männliches Meinungsdiktat und weiblicher Orgasmus

Posthum ist ein Band mit Aufsätzen und Interviews der großen feministischen Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich erschienen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Margarete Mitscherlich, eine der bekanntesten deutschen PsychoanalytikerInnen starb im Sommer 2012 kurz nach Vollendung ihres 95. Lebensjahres. Bis zuletzt hatte sie an der Publikation eines Bandes mit Aufsätzen und Interviews gearbeitet. Es war ihr nicht mehr vergönnt, ihn fertig zu stellen. Karola Brede, mit der sie die Herausgabe des Bandes plante und die aufzunehmenden Manuskripte auswählte, hat den Teil der Arbeiten, an welche die Autorin selbst nicht mehr letzte Hand anlegen konnte, überarbeitet, sodass das Buch nun, kein Jahr nach dem Tod der Autorin, dem Publikum unter dem Titel „Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht“ vorliegt.

Vermutlich war es auch Brede, die die Texte unter vier Rubriken geordnet hat: „Frauen“, „Geschlechter“, „Individuelle und kollektive Trauer“, „Margarete Mitscherlich, geb. 1917, Psychoanalytikerin“, deren erste mit einem Text über die als „Liebende“ und „Paar“ apostrophierten PhilosophInnen Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre eröffnet wird. Beide Charakterisierungen sind zutreffend, wobei die Liebe beider nicht nur dem und der jeweils Anderen galt. Gemeinsam mit ihren – nicht selten wesentlich jüngeren – wechselnden weiblichen Geliebten bildeten sie eine „wahrhaft inzestuöse Familie, in der nur die ‚Eltern‘“, also de Beauvoir und Sartre, einander „rückhaltlos“ über das Liebesgeflecht informierten. „Den verführerischen und verführten ‚Kindern‘ gegenüber bestand selten Offenheit.“

Wie kaum anders zu erwarten, befasst sich ein Großteil der Texte jedoch weniger mit der Philosophie und ihren VertreterInnen als viel mehr mit der Psychoanalyse, der bekanntlich selbst immer ein philosophisches Moment innewohnt. Hier gilt Mitscherlichs Interesse neben dem von ihr sehr verehrten Sigmund Freud vor allem einer Reihe Psychoanalytikerinnen. So stellt sie „einige Überlegungen“ zu den prominenten Theoretikerinnen Anna Freud, Lou Andreas-Salomé und Helene Deutsch an, von denen Mitscherlich die erste persönlich bekannt war. Freuds Tochter wiederum war mit Andreas-Salomé nicht nur bekannt, sondern ungeachtet des nicht eben geringen Altersunterschieds befreundet. Sie verband eine Nähe, die sie sich mithilfe gegenseitiger Besuche und einer intensiven, die räumliche Entfernung überbrückenden Korrespondenz über Jahrzehnte hinweg bis zum Tode Salomés bewahrten. Wie Mitscherlich darlegt, waren tatsächlich alle drei Frauen „in vielem miteinander verbunden“, obwohl sich ihre Biografien „kaum miteinander vergleichen lassen“.

Einer von ihnen, Helene Deutsch, widmet Mitscherlich noch einen zweiten Beitrag, genauer gesagt, ihrer Autobiografie. Mitscherlich, selbst zeitlebens eine dezidierte Feministin, zeigt sich irritiert darüber, dass die frühere „engagierte Sozialistin“ und Autorin eines Grundlagenwerks zur „Psychologie der Frau“ sich nie näher mit der Frauenbewegung befasste oder sich ihr gar verbunden fühlte. Gleichwohl verteidigt sie Deutsch gegen feministische Kritikerinnen, welche die Psychoanalytikerin „heutzutage“, also 1975, dem Jahr in dem der Text erstmals erschien, als „Vertreterin einer reaktionären Frauenideologie – mit der Idealisierung der Mutterrolle im Zentrum etc. – ansehen.“

Deutsch, so widerspricht sie, könne „gewiss nicht zu den konservativen oder gar reaktionären Frauengestalten ihrer Zeit gerechnet werden“. Auch sollte nicht vergessen werden, „wie sehr solche Vorstellungen einerseits zeittypisch sind, andererseits von der persönlichen Lebensgeschichte geprägt werden“. Mitscherlich wiederum „scheinen manche Kampfziele und Ideale der Feministinnen unserer Zeit nicht minder zeitgebunden“ und zudem allzu „defensiv“. Angesichts der Zeitumstände, es war die Hochphase der zweiten Welle der Frauenbewegung, konnte es nicht ausbleiben, dass Mitscherlich auf Alice Schwarzers damals soeben erschienen Bestseller „Der kleine Unterschied“ zu sprechen kam. Schwarzer, moniert sie, haben während der von ihr geführten Interviews des Bandes offenbar nicht realisiert, „was sie eigentlich mit diesen Frauen macht, in welcher Weise sie sie beeinflusst“. Dennoch, so räumt sie ohne weiteres ein, vermittele Schwarzers Buch „manches Wissenswerte über die Haltung der Frau in unserer Zeit“. Auch der damals sehr vehement ausgetragenen Streit um den „Mythos vom vaginalen Orgasmus“ klingt an, den die Dänin Anne Koerdt mit einem kurzen Text diesen Titels losgetreten hatte. So weit wie Koerdt hatte Helene Deutsch einige Jahrzehnte zuvor zwar noch nicht gehen mögen, doch war schon sie der „Überbewertung des ausschließlich vaginalen Orgasmus“ entgegengetreten und hatte das auf Freud zurückgehende „Meinungsdiktat vom rein vaginalen Orgasmus als Zeichen wahrer Weiblichkeit“ kritisiert. Es sind dies zwar die Formulierungen Mitscherlichs. Die Erkenntnisse, die sich in ihnen ausdrücken, gehören jedoch bereits Helene Deutsch.

Zwar befasst sich Mitscherlich in den vorliegenden Texten mehrfach mit dem Hitler-Faschismus und dem Umgang Nachkriegsdeutschlands mit dessen Verbrechen. Das Thema, das in fast alle ihre Texte eingewoben ist, aber ist eben der Feminismus. Dass Mitscherlich auch hier mit Kritik, da wo sie ihr angebracht erscheint, nicht hinter dem Berg hält, versteht sich. Ein vernichtenderes Urteil als dasjenige, das sich in Mitscherlichs Wort von der „Esoterik des Differenzfeminismus“ ausdrückt, lässt sich aus dem Munde der Wissenschaftlerin kaum denken. Auch wendet sie sich vehement und wohlbegründet dagegen, dass „Macht an sich von den meisten Frauen verteufelt“ werde. Denn ohne Macht werde man „nichts ändern können“. Es gehe also nicht darum, Macht schlechthin zu kritisieren, sondern vielmehr „darum, was man mit Einfluss oder Macht erreichen will, welche Ziele man verfolgt.“ Allerdings verkennt sie keineswegs die ernüchternde Möglichkeit, „dass Frauen Macht ähnlich nutzen wie die jetzigen ‚Machthaber‘“. Und dass Frauen ideologische Mittäterinnen der Männer sein können, erkennt Mitscherlich ohnehin. Denn „indem sie deren Idealisierung ihrer Mütterlichkeit und Aufopferung für die Familie teilen, tragen sie zur Verewigung der gesellschaftlichen Macht der Männer bei“. Auch die „so viel gerühmte weibliche Friedfertigkeit“, „die es in dieser Unkompliziertheit natürlich sowieso nicht gibt“, sei „kein Allheilmittel gegen männliche Gewalt oder gegen männliche Selbstidealisierung“. Immerhin aber haben die beiden Wellen der Frauenbewegung – einige sprechen sogar von dreien – schon manche Patriarchalismen aufgebrochen, wenn gleich noch viel zu tun bleibt.

Einer noch „ungebrochen patriarchalischen Zeit“ wendet sich Mitscherlich in ihrem Aufsatz „Gretchen gestern und heute“ zu. Mit Gretchen ist zunächst einmal Susanna Margaretha Brandt gemeint, deren Schicksal von Goethe im „Faust“ aufgegriffen wurde. Anfang 1772 war die junge Frau in Frankfurt, der Heimatstadt des damals 22-Jährigen, als Kindsmörderin hingerichtet worden. Mitscherlich hat sich in die Prozessakten vertieft. Eine Lektüre, die den Eindruck erweckt, dass in der Mainmetropole zur Zeit der Aufklärung noch immer das Mittelalter vorherrschte. Anhand der Archivalien zeigt Mitscherlich, dass die Hingerichtete „ein Opfer der Vorurteile, der Einfühlungslosigkeit, der Frauenverachtung einer ungebrochen patriarchalischen Zeit“ war, und schlägt einen Bogen zu einem Prozess, den ein deutsches Gericht Ende des 20. Jahrhunderts gegen eine damals 15-jährige Türkin führte. Sie hatte ihre Schwangerschaft vor ihrer Familie verborgen und warf das soeben geborene Kind aus dem Fenster der Toilette, als ihre Mutter herein wollte. Klaus Forster, der als Richter dem gegen die Jugendliche geführten Prozess vorsaß, wies das Ansinnen von Verteidigung und Jugendgerichtshilfe, die Angeklagte psychologisch betreuen zu lassen, mit der Bemerkung: „Wir können schließlich nicht jedem Türken eine Therapie bezahle“ zurück und kommentierte die Aussicht, dass das Mädchen in einem Internat von Nonnen zur Hauswirtschafterin ausgebildet werden könnte mit den abschätzigen Worten „Jetzt müssen als Klosterschwestern schon Musliminnen ausbilden“. „Wir sehen“, kommentiert Mitscherlich ihrerseits, „die Zeiten haben sich nicht allzu sehr geändert“ .

Es kann nicht überraschen, dass in einem Band, den jemand an seinem Lebensabend zusammenstellt, auch ein Text über das Alter nicht fehlt. So auch im vorliegenden Fall. Sie sei „nicht mehr Herr“ ihres Körpers, klagt die in den letzten Jahren zunehmend gebrechlicher gewordene Grand Old Lady der Psychoanalyse. Daher müsse sie nun „umso mehr Lust am Denken haben“. Den Lesenden des Bandes wiederum ist es eine Lust, ihr beim Denken über die Schulter zu schauen.

Titelbild

Margarete Mitscherlich-Nielsen: Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.
266 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100491176

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