Stiefel knallten lauter als sonst

Ein Schriftstück aus dem Nachlass von Horst Bienek belegt dessen späte, aber intensive Beschäftigung mit seinen Jahren im Arbeitslager Workuta

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Horst Bienek (1930-1990) hat sich vor allem mit seiner Gleiwitzer Familiensaga einen Namen gemacht. In vier Romanen war er in das Oberschlesien seiner Kindheit zurückgekehrt, hatte das Neben- und Miteinander der Deutschen und Polen beschrieben, das er selbst erlebte.

Als 15-jähriger sah sich Bienek in der Nachkriegszeit gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Er lebte in Ostberlin, begeisterte sich für Literatur, Kunst und Kultur – eine Leidenschaft, die ihn zeitlebens begleiten sollte. Aus heiterem Himmel wurde er als 21-jähriger am 08. November 1951 in Ostberlin verhaftet. Es folgten Haft, Verhöre und eine Verurteilung, ohne dass er einen Anwalt hinzuziehen hätte dürfen. Das Urteil belief sich auf zwanzig Jahre Gefängnis. Der Vorwurf: Spionage!

Der vorliegende Text aus dem Nachlass von Horst Bienek belegt, dass sich der Schriftsteller zu seinem Lebensende hin erstmals diesen Geschehnissen in reflektierter Weise stellte, um sie in literarischer Form aufzuarbeiten. In seiner pointierten Weise der Beschreibung nimmt Bienek die Leser mit in die nächtliche Zelle und zu den Verhörräumen. Absurde Situationen, die den Deliquenten einschüchtern und Angst erzeugen sollten. Das Gerichtstribunal stellte eine Farce dar, bei der Franz Kafka noch hätte dazulernen können.

Konktakte zur Außenwelt waren nicht erlaubt, selbst die Wochentage waren den Häftlingen nicht bekannt. Und dann setzte Unruhe ein: „Stiefel knallten lauter als sonst. Ein Laufschritt war zu vernehmen. Die Posten riefen sich etwas zu, was wir nicht verstanden. Es waren russische Wörter, die mußten etwas zu bedeuten haben“. Auch Bienek wurde aus seiner Zelle geführt und einem Transport zugeteilt. Dass es letztendlich nach Russland ging, ahnten die Gefangenen erst während der Fahrt in der Eisenbahn. Die erste Station war das berüchtigte Butyrka-Gefängnis in Moskau. Hier finden sich Häftlinge aus den verschiedensten Ländern und aus allen sozialen Schichten. Die Butyrka, schreibt Bienek, „war ein Querschnitt durch die Sowjetunion und aller der von Stalins Geheimpolizei NKWD beherrschten Länder“.

Mit einem neuen Transport, der wochenlang unterwegs war, gelangte Bienek mit seinen Schicksalsgenossen in das verrufene Workuta, das am Polarkreis liegt. Entsetzt stellten die Gefangenen fest, dass in der Baracke Wanzen waren: „Die Pritsche war dick mit Wanzen besetzt, wie eine Bienentraube“.

Es folgten endloses Schuften im Bergwerk unter widrigsten Bedingungen, Hunger, Quälereien und maßlose Niedertracht. Besonders hatten die politischen Häftlinge wie Bienek unter den kriminellen Häftlingen zu leiden, deren Skrupellosigkeit sich auch die Wachmannschaften zunutze machten.

In diesem Umfeld exzessiver struktureller Gewalt gediehen Korruption und moralische Verwahrlosung. Der junge Bienek sieht sich zudem drohender sexueller Gewalt ausgesetzt, der er nur dank der Unterstützung einiger Kameraden entgeht.

Bemerkenswert ist die Vielzahl an Charakteren, die Bienek unter diesen widrigsten Umständen dennoch kennenlernt. Neben Anhängern der polnischen Heimatarmee Armia Krajowa, die gegen die Deutschen gekämpft hatten und von der Roten Armee später entwaffnet und entweder hingerichtet oder nach Sibirien geschickt worden waren, lernte Bienek Mitgefangene aus dem Baltikum kennen und einen Stations-Arzt, der gut Deutsch sprach und gerade gegenüber den Deutschen sehr aufmerksam war: „Ich glaube, er konnte immer noch nicht begreifen, warum die Deutschen die Juden ausrotten wollten. Aber er sprach davon, daß die Russen antisemitisch seien, es schon immer gewesen waren, und daß der NKWD jetzt wieder neue Pogrome vorbereitet“.

Nach fast vier Jahren kommt Bienek frei und siedelt sich in Westdeutschland an. Es ist bemerkenswert, dass Bienek in seinen Romanen, Erzählungen und auch Gedichten eine literarische Heimkehr in seine oberschlesische Kindheit aufbereitete, über seine Erlebnisse im sowjetischen Arbeitslager Workuta aber kaum ein Wort verloren hatte.

Die politischen wie auch literarischen Ereignisse in den Ländern des „real existierenden Sozialismus“ hatte er hingegen intensiv verfolgt und in kritischen Artikeln, Rezensionen und Stellungnahmen kommentiert. Bienek war ein Brückenbauer aus Leidenschaft, der sich den verfolgten und zurückgedrängten Stimmen aus Mittel- und Osteuropa widmete. Er war der erste Gastdozent für Poetik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der im Wintersemester 1986/1987 fünf Vorträge gehalten hatte, die seine Erlebnisse reflektierten und in ihrer künstlerischen Verarbeitung auslotete. Unter dem Titel „Das allmähliche Ersticken von Schreien“ waren diese aktuellen wie brisanten Vorlesungen über „Sprache und Exil heute“ 1987 als Buch erschienen. Es waren jene elektrisierenden Jahre, in welchen in der Sowjetunion Michail Gorbatschow die Richtmarken „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestrojka“ (Umbau) ausgegeben hatte, nach denen eine radikale Reform des „realen Sozialismus“ durchgeführt werden sollten.

Als erstmals ganz offiziell anlässlich der Feiern zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution von Verbrechen die Rede war, die unter Stalins Herrschaft begangen worden sind, wandte sich Horst Bienek an die Öffentlichkeit. In einem Offenen Brief vom 07. November 1987 an den Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, forderte er seine Rehabilitierung.

Leider war es Horst Bienek wegen seines frühen Todes nicht mehr vergönnt, den Aufhebungsbeschluss der Obersten Militärstaatsanwaltschaft vom 01. September 1994 erleben zu dürfen. Dort wird unter Hinweis auf die spärlichen Anschuldigungen festgestellt, „daß Bienek, Horst unbegründet aus politischen Gründen verurteilt wurde“. Erst jetzt war Bienek offiziell rehabilitiert!

Titelbild

Horst Bienek: Workuta.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
80 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312302

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