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Sylvia Plaths wunderbarer Erzählband „Bibel der Träume“ ist auch nach 60 Jahren noch immer eine Offenbarung

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Schrift, mit der er sozusagen seinen Abschied als Professor der Klassischen Philologie einreichte, verkündete Friedrich Nietzsche, die Welt sei nur als ästhetisches Phänomen ewig gerechtfertigt. Das mag manchen zweifelhaft erscheinen. Sylvia Plaths Erzählung zeigen jedenfalls weit überzeugender, dass der Alltag nur als heiteres Phänomen erträglich ist, der ja nun zwar nicht eben ewig, aber doch auch ziemlich lange dauert. Recht eigentlich sogar ein Leben lang. Und selbst die große Tragödie des Lebens, sein Ende, ist alltäglich im Getriebe der Welt und mit den gleichfalls alltäglichen Beschäftigungen und Besorgnissen der anderen, denen dieses Ende früher oder später noch bevorsteht, verwoben. Plaths Erzählung „Der Tag, an dem Mr. Prescott starb“ führt dies – nicht zuletzt erheiternd – vor Augen.

Die Kurzgeschichte eröffnet den nun von der Frankfurter Verlagsanstalt neuaufgelegten Erzählband „Die Bibel der Träume“ der vor allem als Lyrikerin und vielleicht mehr noch als Verfasserin des Romans „Die Glasglocke“ bekannten Autorin.

Nicht nur die Eingangserzählung, etliche der 1952 erstmals erschienenen Short Stories handeln vom Tod, genauer gesagt, von verschiedenen Arten das Sterbens. Dem glücklich suizidalen, dem uneingestanden herbeigesehnten, dem traurig absehbaren oder dem überraschenden. Auch fällt ein Mann oder eine Frau auch schon mal im (Ehe-)Krieg der Geschlechter, der in den 1950er-Jahren bekanntlich noch mit anderen Waffen ausgetragen wurde als heutzutage. Und dass sich männliche Allmachtsphantasien als tödlich erweisen können, gehört sozusagen zum Alltagswissen.

„Der neunundfünfzigste Bär“ ist eine jener tödlich endenden Geschichten und zugleich eine der wenigen, die aus einer männlichen Perspektive erzählt sind. Sie handelt von der „hasenhaften“ Sadie, die sich – obwohl im Allgemeinen sehr ängstlich – selbst vor Bären nicht fürchtet, und ihrem männlichen Begleiter, der sich schmeichelt, sie vor ihrer eigenen Lebensunfähigkeit schützen zu müssen. Das Ende der Geschichte allerdings wird einer von beiden nicht erleben.

Andere Geschichten erzählen von der unbefangenen Vorfreude eines Kindes auf eine herannahende Katastrophe, das sich den Schrecken einer plötzlich hereinbrechenden Naturgewalt ebenso wenig vorzustellen vermag, wie Erwachsene diejenige einer anderen, die sich langsam über ihre Stadt zu legen beginnt.

Träume sind es, auch Tagträume, die etliche der Geschichten grundieren. Etwa die titelstiftende, deren Protagonistin als Sekretärin in einer psychiatrischen Anstalt tätig oder vielleicht auch deren Insassin oder beides ist. Jedenfalls aber ist sie der Passion des Träume-Sammelns erlegen. Wohl mehr als einmal träumt sie den „Traum aller Träume“, in dem Gedanken der Menschen nächtens in einem See zusammenfließen. „Das Wasser in diesem See stinkt und dampft natürlich von all dem, was die Träume, die dort über die Jahrhunderte versumpft sind, hinterlassen haben.“

„Das Wunschkästchen“ wiederum zeigt, was geschieht, wenn ein Mensch von der Fantasie verlassen wird. Er erleidet „eine unerträgliche, endlose Folge wacher, gesichtsloser Tage und Nächte.“ Nun versteckt Plath in der Geschichte zwar die wohl bekannteste Sentenz Gertrude Steins, dies jedoch keinesfalls mangels eigener Fantasie oder Ausdruckskraft. Vielmehr bestechen Plaths Erzählungen gerade immer wieder aufgrund ihrer Metaphern, die etwa die unwetterschwangere Luft „unbeweglich und schwerer als nasse Wäsche im Keller“ vor den Bürofenstern ihrer ProtagonistInnen hängen lässt, deren „Kreppsohlen quieken, als ob sie mit jedem Schritt auf lebende Mäuse treten würde“. Fallen Plaths Metaphern ‚weiblich‘ aus, wie etwa „der mütterliche Pulsschlag der See“, so ist dies dem Geschlecht der Figur zu danken aus deren Perspektive erzählt wird, nicht dem der Autorin. Die „geradezu peinliche Metapher über körperliche und seelische Abtreibung“ wird hingegen nicht von ungefähr einem Pfarrer auf der Kanzel in den Mund gelegt.

Den neun Erzählungen des Bandes folgen einige Tagebucheinträge und literarische Reflexionen der Autorin. „Meine Gedichte“, bekennt sie hier etwa, „beschreiben nicht den Terror von Massenvernichtung, sondern die Trostlosigkeit des Mondes über einer Eibe auf dem benachbarten Friedhof“. Dies trifft auf ihre Erzählungen nicht weniger zu. Und wenn sie den Unterschied zwischen einem Gedicht und einem Roman mit der Metapher erklärt, ersteres sei „konzentriert“ wie eine „geschlossene Faust“, während letztere einer „offene Hand, ausgreifend und entspannt“, gleiche, so spricht dies keineswegs gegen ihren eigenen Roman. Beide, Plaths Lyrik und ihre Prosa, sind uneingeschränkt zur Lektüre zu empfehlen.

Wenn abschließend dennoch eine Kritik vorzubringen ist, so gilt sie nicht der Autorin oder ihrem Werk, sondern dem Klappentext des vorliegenden Buches. Plath als „eine der bedeutendsten amerikanischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts“ zu bezeichnen ist eine Schande. Gerade so, als hätte sie sich mit ihren männlichen KollegInnen nicht messen können. Oder schlimmer noch, als spielten Autoren grundsätzlich in einer anderen Liga als ihre Kolleginnen, so dass sich von vorneherein jeglicher Vergleich verbiete.

Titelbild

Sylvia Plath: Die Bibel der Träume. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Julia Bachstein und Sabine Techel.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt, M. 2012.
240 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783627100209

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