Ein Stauner und Seher auf dem Zürgelbaum

Yaşar Kemals Roman „Salih der Träumer“ in einer deutschen Erstausgabe

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Quasi über Nacht, wie es dann im Nachhinein oft so lapidar heißt, wenn sich der Erfolg eingestellt hat, wurde auch Yaşar Kemal 1955 mit seinem Roman „Memed mein Falke“ berühmt. Der in Südanatolien geborene Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels des Jahres 1997 gilt zusammen mit Orhan Pamuk unbestritten als eindrucksvoller „Sänger und Chronist seines Landes“. Vor fünf Jahren wurde der damals 85-Jährige, der wegen seines politischen Engagements Haftstrafen verbüßen musste und zeitweise im Exil lebte, mit dem Kulturpreis des türkischen Staatspräsidenten ausgezeichnet. Am 6. Oktober dieses Jahres feiert Kemal seinen 90. Geburtstag.

1976, 21 Jahre nach seinem internationalen Durchbruch als Schriftsteller, publizierte Kemal unter dem Titel „Al Gäzüm Seyreyle Salih“ einen ebenso faszinierenden wie mäandernden Roman über den Stauner, Seher und liebenswürdigen Jungen Salih. Nun liegt dieser Roman, von Gerhard Meier wunderbar aus dem Türkischen übersetzt, erstmals auf Deutsch beim Züricher Unionsverlag vor. Der Verlag hat sich dankenswerterweise des umfangreichen Œuvres dieses Grandseigneurs der türkischen Gegenwartsliteratur intensiv angenommen.

Der knapp elfjährige Salih lebt mit seinen Eltern, seiner Großmutter und einer Schwester in einem kleinen Fischer- und Schmugglerdorf an der türkischen Schwarzmeerküste. Schulgeld können die Eltern nicht bezahlen, und so treibt sich Salih meist im Freien herum: „Wenn Salih morgens wach wurde, ging er sofort, ob Sommer oder Winter, zu den grauen Felsen vor der Insel Zeytin und setzte sich dort in seine Höhle.“ Wenn Salih nicht am Meer ist, sieht er stundenlang dem Schmied Meister Ismail oder dem Schreiner Dursun zu. Oft sitzt er auch am Hafen und hilft Netze flicken. Meist wartet er jedoch auf den Fischer Käpt’n Temel, der neben dem Schmied, in dessen Lehre Salih am Ende des Romans eintreten wird, und dem Schwager Mustafa der einzige Erwachsene ist, der dem Jungen zuhört, ihn ernst nimmt und ihm Verständnis entgegen bringt.

„,Den träumenden Salih sollte man dich nennen, so wie du alles anstaunst‘“, bemerkt Temel einmal: „Seit jeher tat Salih, sobald er nur etwas erblickte, weit die Augen auf, und von irgendeiner Warte, ob nah oder fern, starrte er, was sich ihm da bot, staunend an, als würde er hineinschlüpfen, würde seine Seele dafür hingeben, und was er an Kraft und Anteilnahme auch nur irgend aufbieten konnte, das verdichtete er in seinen Augen, und so wurde er mit dem Geschehen eins, und wurde Baum mit einem Baum, Vogel mit einem Vogel, Wolke mit einer Wolke, Fisch mit einem Fisch, Blume mit einer Blume, Ameise mit einer Ameise, und wurde Mensch mit einem geliebten Menschen.“

Für die meisten anderen ist dieser empathische Träumer und Stauner, der auch gerne vom Zürgelbaum aus den Hof des schmuggelnden Nachbarn Metin beobachtet, jedoch ein Taugenichts und Tunichtgut. Vor allem die tagein, tagaus am Webstuhl mit Schwiegertochter und Enkeltochter sitzende Großmutter, die seit Jahrzehnten auf den verschwundenen Ehemann Halil wartet und mit ihrer Boshaftigkeit die Familie im Griff hat, hasst Salih. Dabei bräuchte er eines Tages, als er am Strand eine Möwe mit gebrochenem Flügel findet, gerade von dieser mürrischen Frau Hilfe. Denn sie versteht sich auf Salben und Tinkturen, um damit alle möglichen Verletzungen zu heilen. Für seine „verschissene Möwe“ jedoch will sie ihre Salben nicht hergeben. So scheint die Möwe dem Tod geweiht.

Doch wie am Ende die Möwe überlebt, schwingt sich auch Salih – trotz aller Verletzungen, die die kindliche Psyche erdulden muss – auf, und erlernt das Schmiedehandwerk, eine poetologische Metapher für den gesamten Roman: „Das Schmieden“ heißt es etwa in der Mitte des Textes, „ist eine heilige Kunst, die aus uralter Zeit stammt, und für Lug und Betrug ist darin kein Platz“. Schließlich seien „Zorn und Erbostheit“, wie sie vor allem von der Großmutter ausgehen, „dem Volk der Schmiede“ unbekannt, „es lebt nur von Schöpfertum und Liebe“. Und der letzte Satz des Romans lautet: „Die Schmiedekunst ist eine heilige Kunst, schon seit dem Propheten David“, dem alttestamentarischen Sänger und Dichter.

Salihs Welt, ob in der Fantasie als Freund des Schlangenprinzen oder in der vom Hof aus zu beobachtenden Schmugglerwelt Metins mit ihren Bedrohungen, ist alles andere als eine heile Welt. Es ist eine Welt, die auch die sozialen Gegensätze, die Spannungen zwischen Arm und Reich thematisiert, die zugleich zu emotionalen Verletzungen, zu Deformierungen führen.

Yaşar Kemal hat mit „Salih der Träumer“ ein gleichermaßen fesselndes wie nachdenklich machendes Buch geschrieben, das auch fast vier Jahrzehnte nach seiner Erstpublikation berührende Einblicke in die türkische Geschichte und Kultur gewährt. Warum Yaşar Kemals Werke in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, macht auch dieser Roman deutlich.

Titelbild

Yasar Kemal: Salih der Träumer. Roman.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Unionsverlag, Zürich 2012.
400 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783293004474

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