Ein Schelmenroman par excellence

Im Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ schockt Michael Köhlmeier seine Leser mit dem wahren Leben

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Köhlmeier, Jahrgang 1949, lebt als Schriftsteller in Wien und hat sechs Jahre nach „Abendland“ (2007) seinen zweiten monumentalen Roman veröffentlicht. „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ ist ein Schelmenroman par excellence. Sebastian Lukasser, bereits Köhlmeiers Alter ego in „Abendland“ und „Madalyn“, ermutigt diesmal einen Jugendfreund, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben und mischt sich immer wieder mit Ratschlägen ein.

András Fülöp, der Namen und Identität im Verlaufe seines abenteuerlichen Lebens mehrfach wechselt und als Joel Spazierer endet, wird 1949 in eine deutsch-ungarische Arztfamilie hineingeboren, die durch die politischen Unruhen Mitte der 1950er-Jahre aus Ungarn nach Österreich fliehen muss. Die fünf Tage und vier Nächte, die András, nachdem seine Familie vom Geheimdienst abgeholt wurde, als Vierjähriger in seiner eigenen Fantasiewelt alleingelassen überlebt, sollen sich nachhaltig auf sein Leben auswirken. Die Tiere auf der Decke, die ihm damals Schutz und Wärme bot, werden zu seinen Schutzengeln und Gesprächspartnern.

Von jüngster Kindheit an erreicht er mit seinem Lächeln, seinem lockigen Haar und den Sommersprossen stets alles, was er will. Er versteht es die geheimen Wünsche großer Menschen zu durchschauen und manipuliert sie mit der Krönung seiner Ja-Nein-Antworten: dem Weiß-nicht, das den Fragenden sich die gewünschte Antwort selbst geben lässt. Gleichzeitig beginnt er seine Karriere als Geschichtenerzähler oder Lügner, schickt ein Ich nach dem anderen in die Welt, ohne sich darüber Sorgen machen zu müssen, weil es diese Person ja in Wirklichkeit nicht gab.

Ob in den Hinterhöfen Wiens, am Hafen in Oostende, zu Fuß in den bayerischen Wäldern, im aus Köhlmeiers Roman „Die Musterschüler“ (1989) bekannten katholischen Internat Tschatralagant, im Gefängnis, einem Wiener Studentenwohnheim, in der Hauptstadt der DDR, in Mexiko, Paris oder New York – er lügt sich mit dem ihm sein Leben lang eigenen kindlichen Gemüt durchs Leben und die Weltgeschichte. Er ist Erpresser, Bankräuber, Einbrecher, Mörder, Fälscher, Dieb, Dealer, Automechaniker, Hausmeister, Zechpreller, Gigolo, Ehemann, Vater, Universitätsprofessor, ja er hätte sogar, in Nachfolge Honeckers, Staatsratsvorsitzender der DDR werden können.

Sein außerordentliches Gedächtnis für Dinge und Personen, die ihn interessieren und ihm nutzen können, und das „Talent, blitzschnell die verschiedensten Dinge ineinander zu verhäkeln“, lassen immer neue, Erfolg bringende Geschichten entstehen. Und „eine Lüge ohne Sinn und Ziel und Zweck“ ist für ihn das Hässlichste, was er sich vorstellen kann. Seine große Liebe gilt dem Geld und den Sprachen, beides eignet er sich auf unorthodoxe Weise an. Der vorliegende Roman entstand durch die Ambition des Protagonisten, über sein Leben Rechenschaft abzulegen. Und er selbst gibt zu: „Alles was Erinnerung ist, gerät unter das Regime der narrativen Transformation“: ein Freibrief für Ausschmückungen und kleine wie große Lügen.

Die Geschichten, die Köhlmeiers Protagonist erzählt, bekommen durch das Zwiegespräch von András mit seinem Schulfreund, dem Schriftsteller Sebastian Lukasser, einen erklärenden Rahmen. Auch mit dem Leser kommuniziert Joel Spazierer direkt: „Das Sentiment, das ich nicht aus den Zeilen herauskriege (merken Sie es?)“. Er sorgt sich um dessen Überblick, entschuldigt sich für das ungewohnte Chaos, weil Lukasser diesen Teil nicht korrigiert habe und fügt eine „barocke rhetorische Figur“ für die Beleseneren ein. Den eigenen Geschichten werden die anderer hinzugefügt; Buchtitel, die dem Protagonisten wichtig sind, sind mit Literaturangaben versehen. Selbst die Genre-Zuordnung des Werkes nimmt er im Text vor: „Ich habe mich inzwischen erkundigt, was ein Schelmenroman ist. Darin wird von einem Helden erzählt, der Schreckliches tut und Schreckliches erleidet, für ersteres nicht zur Verantwortung gezogen wird und an letzterem nicht zugrunde geht, weil eigentlich nicht sein Schicksal interessiert, sondern das seiner Zeit, womit alle Menschen gemeint sind – außer ihm.“

Neben den Machenschaften des ungarischen Geheimdienstes in den 1950er-Jahren, dem SED-Regime der DDR und einem Überlebensexperiment im Gefängnis schildert Köhlmeier gewohnt präzise die Abgründe des Alltags. Er schreibt über Prostitution, das Drogenmilieu, den kalten Entzug, theologisch-philosophische Grundsatzdiskussionen oder eine Herzinfarktselbsthilfegruppe und verblüfft immer wieder mit überraschenden Wendungen. So unglaublich jede einzelne Episode dem Leser erscheint, – wenn beispielsweise der Protagonist mit neun Jahren 46 Tage von der Familie in Wien getrennt bleibt und zu Fuß von Frankfurt bis fast nach Passau durch die Wälder streift, – so nachvollziehbar sind die Ursachen. Darin gleicht er dem Autor, beide sind Männer, denen die Leute alles glauben. „Lügen soll nicht Träumen von einem anderen Ich sein, sondern wohlkalkulierte Konstruktion eines solchen.“

Köhlmeier entführt in eine Welt des Fantastischen. Er lässt seinen Protagonisten mit einer Dreistigkeit durchs Leben vagabundieren, dass viele der gut recherchierten und kunstvoll ausgeschmückten, von historischen Fakten inspirierten Geschehnisse sowohl dem intellektuellen Bildungsbürger als auch dem nach Unterhaltung Suchenden reichlich Lesegenuss bieten. Lukasser bringt es wie so oft auf den Punkt: „Das sei genau das Tolle an der Literatur, dass sogar das furchtbarste Leben einem großartig vorkomme, weil es in einem Buch erzählt werde.“

Wer nach der umfangreichen, fesselnden Lektüre berechtigte Zweifel am Wahrheitsgehalt hegt, der sollte ruhig nachgoogeln. Als unehelicher Enkel Ernst Thälmanns in die DDR einzureisen – absurd? Nein, denn Wikipedia schreibt über Ernst Thälmann: „In einem neueren Buch findet sich der Hinweis, Irma sei ‚nicht die einzige Nachkommin ihres Vaters‘. Weitere Angaben werden dort aber nicht gemacht.“ Welches neuere Buch damit wohl gemeint ist? Ein Schelm, wer hierbei Böses denkt, aber so einem Erzähler auf den Leim zu gehen bliebe kein Einzelschicksal.

Titelbild

Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
650 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241787

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