Unschärfen und Unsicherheiten

In den Erzählungen aus „Der Engel Esmeralda“ zeichnet Don DeLillo eine Welt ohne Sicherheiten

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neun Erzählungen sind es, eingeteilt in drei Abteilungen, die Don DeLillo in seinem Band „Der Engel Esmeralda“ vorlegt; entstanden in den letzten 35 Jahren zeigen sie sowohl den Wandel in seinem Werk als auch ein durchgängiges Motiv seiner literarischen Welt: Es ist eine Welt ohne Sicherheiten, ohne vorhersagbare Reaktionen oder Ereignisse, ohne einen klaren Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung: „Warum hat er das so gemacht, was glauben Sie? […] So viel Schatten. Keine Farbe“, fragt der Protagonist aus „Baader-Meinhof“ sein Gegenüber angesichts des Bilderzyklus „18. Oktober 1977” von Gerhard Richter, der in mehr als nur einem Aspekt den Erzählungen DeLillos ähnelt. Die Unschärfen, Unsicherheiten und Unklarheiten teilen die DeLillo’schen Geschichten mit den Gemälden Richters – ebenso wie die Tatsache, dass sich das eigentlich Dargestellte dem Blick nicht gleich (wenn denn überhaupt) erschließt: „Auf dem Bild, wo die Särge durch eine große Menschenmenge getragen werden, hatte sie zuerst gar nicht erkannt, dass es Särge waren. Auch um die Menge zu erkennen hatte sie lange gebraucht.“

Nachdem die Erzählung wie eine moderne Version eines Schlegel’schen Kunstgesprächs beginnt, entwickelt sie sich schon bald zu einem bizarr-befremdlichen Kammerspiel über Hilflosigkeit und Verzweiflung: Die Frau und der Mann essen zusammen, es gibt etwas Smalltalk, beide sind sich offenbar nicht unsympathisch, er begleitet sie nach Hause, sie bietet ihm etwas zu trinken an. Als sie ihn jedoch bittet, zu gehen, weigert er sich – er will offenbar mehr, sie entflieht ins Badezimmer, schließt jedoch die Tür nicht ab. Dann hört sie ihn auf ihrem Bett masturbieren, als er die Wohnung schließlich verlässt, entschuldigt er sich bei ihr, während sie noch im Badezimmer ist: „Als sie am nächsten Morgen ins Museum zurückkehrte, war er allein im Ausstellungsraum, saß auf einer Bank in der Mitte, den Rücken zum Eingang und sah sich das letzte Bild des Zyklus an, bei weitem das größte und vielleicht das atemberaubendste, das mit den Särgen und dem Kreuz: ‚Beerdigung‘.“ Ende der Geschichte.

Sie bleiben undurchschaubar, die Figuren in DeLillos Geschichten, ihre Handlungsweisen und ihre Beziehungen erscheinen wie die Reaktionen von Probanden in höchst abstrakten Versuchsanordnungen, die sich dem Laien nicht oder doch nur sehr rudimentär erschließen. Darin sind die Erzählungen DeLillos, mag dieser Vergleich zugegebenermaßen vielleicht auch etwas banal sein, denen Kafkas nicht unähnlich; doch während in Kafkas Erzählungen noch die jeweils von undurchschaubaren Ereignissen überrollten Protagonisten (freilich stets vergeblich) versuchen, den Ursachen für ihre Situation auf den Grund zu gehen, indem sie herausfinden wollen, welches Verbrechens man sie denn wohl beschuldigt oder welcher Beamte ihnen unter Umständen helfen könne, so bleibt den Figuren in der Welt DeLillos – ebenso wie den Lesern – nichts anderes mehr übrig, als die Dinge so zu akzeptieren, wie sie dargestellt werden; offene Fragen werden dabei fast immer auch offen bleiben. Wenn etwa in „Schöpfung“ (1979), der ersten Geschichte des Bandes, ein amerikanisches Ehepaar und eine allein reisende deutsche Touristin aufgrund von überbuchten Flügen auf einer Karibikinsel stranden, die Ehefrau schließlich den einzigen noch verfügbaren Platz in einem Flugzeug erhält, und sich der zurückgebliebene Ehemann nun umgehend in eine erotische Affäre mit der Touristin stürzt, bleibt die Frage nach dem ‚Warum‘ ebenso ungeklärt wie der Verdacht unbestätigt bleibt, dass die beiden dieses amouröse Abenteuer eventuell von langer Hand geplant haben könnten.

Geradezu paradigmatisch wird das (vielleicht ja auch nur scheinbar) unmotivierte Handeln der Figuren in „Die Hungerleiderin“ (2011), der neuesten, nicht aber unbedingt stärksten Geschichte des Bandes, demonstriert: Zunächst bekundet der Protagonist, ein passionierter, oder eher schon obsessiver Kinogänger, der sogar seinen Job aufgegeben hat, um ins Kino gehen und sich Filmraritäten ansehen zu können, seinen dringlichen Wunsch nach Sinn und Ordnung: „Die Welt war da oben, eingerahmt, auf der Leinwand geschnitten, korrigiert und dicht gebündelt, und sie waren da unten, wo sie hingehörten, in der isolierten Dunkelheit, und waren, was sie waren, in Sicherheit.“

Die (vermeintliche) Sicherheit, die dem Protagonisten hier durch das Kunstprodukt Film gewährt wird, verwehrt DeLillo seinen Lesern jedoch vehement, wie der Fortgang der Geschichte zeigt: Der Mann sieht eine offenbar ebenso begeisterte Cineastin und beginnt sich auszumalen, wer sie sein könne und wie sie lebe; schließlich folgt er ihr während einer Vorstellung auf die Damentoilette eines Kinos und hält einen Monolog über seine Filmbegeisterung, woraufhin sie sich umdreht und geht. Er kehrt in seine Wohnung zurück, in der er noch immer mit seiner Ex-Frau lebt, sieht diese in einer Art Yogaposition und betrachtet sie nun ausgiebig: „Er bewegte keinen Muskel, saß einfach nur da und beobachtete. Das schien so schlicht zu sein, ein Mensch, der in einem Zimmer steht, eine Frage von Ruhe und Gleichgewicht. Aber mit dem Verstreichen der Zeit bekam die Position, die sie eingenommen hatte, eine Bedeutung, ja, sogar eine Geschichte, wenn auch keine, die er ergründen konnte. […] Er verlor jegliches Zeitgefühl, entschlossen, so lange absolut still zu stehen, wie sie es tat, sie stetig zu beobachten, gleichmäßig zu atmen, niemals auszusetzen. Wenn er auch nur blinzelte, würde sie verschwinden.“

Damit – man ahnt es schon – endet die Geschichte, und man wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit ebenso unergründlich finden wie der Protagonist die Körperposition seiner Ex-Frau. Die sicherlich gelungenste Erzählung des Bandes ist der eponyme „Engel Esmeralda“, die 1994 entstand und von DeLillo nachfolgend auch in seinen Roman „Underworld“ (1997) eingefügt wurde. Der Schauplatz der Handlung ist nicht wie in den meisten der anderen Erzählungen ein steril-surrealer Nicht-Ort sondern die Bronx in New York, die allerdings in vielerlei Hinsicht mehr als nur surreal erscheinen mag: „Ein Reisebus in Karnevalsfarben, und auf dem Streifen oberhalb der Windschutzscheibe ein Schild mit der Aufschrift South Bronx Surreal. […] Gracie lief fast Amok, sie streckte den Kopf aus dem Fenster des Kleinbusses und schrie: ‚Das ist nicht surreal. Es ist real, wirklich echt. Ihr macht es surreal, indem ihr hierkommt. Euer Bus ist surreal. Ihr seid surreal.‘“ Gracie und Edgar sind zwei Nonnen, die in der Bronx Missionsarbeit leisten; eines Tages sieht Edgar das zwölfjährige Straßenkind Esmeralda: „sie wirkte unbeholfen, aber hellwach, sah ungewaschen, aber irgendwie völlig sauber aus, erdsauber und hungrig und flink. Irgendetwas an ihr faszinierte die Nonne, etwas Verzaubertes, eine vorbildhafte standhafte Anmut.“ Edgars Versuche, sich Esmeraldas anzunehmen, scheitern jedoch; das Mädchen wird vergewaltigt und von einem Hausdach gestoßen. Doch nun geschieht das Wunder, oder wenigstens das, was alle für ein Wunder halten: Allabendlich erscheint ihr Konterfei im Scheinwerferlich der Pendlerzüge auf einer Reklamewand, doch als die Orangensaftwerbung, auf der sich das Wunder vollzogen hatte, entfernt wird und nur noch die weiße Wand zurückbleibt, bleibt auch das Wunder aus: „Als der erste Zug kam, in der Dämmerung, zeigten die Lichter nichts.“

In „Der Engel Esmeralda“ gelingt es DeLillo wie in kaum einer anderen Geschichte des Bandes die unvereinbaren Gegensätzlichkeiten und Widersprüchlichkeiten moderner Wohlstandsgesellschaften darzustellen, begegnen die beiden sich vor Krankheiten mit Latexhandschuhen schützenden Nonnen auf ihrem Weg durch die Bronx doch all jenen, für die der „American Dream“ fraglos ausgeträumt sein dürfte: „Sie sprachen mit zwei blinden Frauen, die zusammenlebten und sich einen Blindenhund teilten. Sie sahen eine Frau im Rollstuhl, die ein ‚Fuck New York‘-T-Shirt trug […] Sie sahen einen Mann, der Krebs hatte; er versuchte, Schwester Edgars Latexhände zu küssen.“

Mit beißendem Sarkasmus kommentiert Gracie das vermeintliche Wunder – „Das ist Sensationsmache. Die übelste Sorte Aberglaube aus der Regenbogenpresse. Grauenhaft. […] Das ist etwas für die Armen, sollen die sich dem aussetzen, es einschätzen und begreifen, in diesem Zusammenhang müssen wir das Ganze sehen. Die Armen brauchen Visionen, klar?“ – und mit beißendem Sarkasmus schildert der Autor die Auswüchse, die die abendlichen Wallfahrten annehmen: „Eine Frau wurde von einem Motorrad erfasst und zu Boden geschleudert. Ein Junge wurde hundert Meter weit, es sind immer hundert Meter, von einem Auto mitgeschleift, das einfach weiterfuhr. Fliegende Händler liefen an den Schlangen des stehenden Verkehrs vorbei und verkauften Blumen, Softdrinks und lebendige Jungkätzchen.“

Fraglos: Nicht immer gelingt es DeLillo – oder auch seinem Übersetzer – sich vor sprachlichen Fehlgriffen oder dem Formulieren abgeschmackter Lebensweisheiten zu schützen, wie etwa in einer Passage, in der Edgar über die Benutzung von schmutzigen Nadeln durch Drogensüchtige nachdenkt: „Edgar aber dachte über die Verlockung der Verdammnis nach, den kleinen Liebesbiss dieses Libellendolches. Wenn du weißt, dass du nichts wert bist, kann nur eine Wette mit dem Tod deine Eitelkeit befriedigen.“

Neben dieser Geschichte enthält der Band sicherlich auch Erzählungen wie „Hammer und Sichel“ (2010), eine etwas moralinsaure Parabel über die Auswüchse der Marktwirtschaft und der Finanzmärkte, die selbst wohlgesonnene Leser und Leserinnen wohl eher schnell überblättern werden. Insgesamt erweist sich „Der Engel Esmeralda“ somit als eine durchwachsene Sammlung, und mag der Klappentext – mit einem der Plastiksprache von Castingshows entlehnten Epitheton – Don DeLillo auch als „Ausnahmeschriftsteller“ bezeichnen, so werden wohl doch nicht alle Leser am Ende der Lektüre so euphorisch wie Martin Amis in seiner Besprechung des Bandes ausrufen können: „I love ,The Angel Esmeralda‘“.

Titelbild

Don DeLillo: Der Engel Esmeralda. Neun Erzählungen.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012.
247 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783462044584

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