Gretchen wird vulgär
Verena Güntners Texte spielen in Teenagerwelten und Teenagerköpfen
Von Kristina Petzold
Am Staatstheater Wiesbaden schlüpft Verena Güntner in die Haut von Fausts Gretchen – die unschuldige Opferrolle par excellence. In ihren Texten geht es dagegen um Titten, Fickwetten und die Teenager, die mit diesem Wortschatz groß werden. Wie Verena Güntner diese Diskrepanz unter einen Hut bringt, ist pure Spekulation. Vielleicht hat man als Schauspielerin die Freude an solchen Widersprüchen im Blut?
Die gebürtige Ulmerin studierte Schauspiel an der Universität Mozarteum in Salzburg und erhielt danach bis 2008 eine Anstellung als Ensemblemitglied am Bremer Theater. Später folgten Engagements am Staatstheater Wiesbaden und am Theater Bonn sowie ab 2003 auch Arbeiten für Rundfunk und Fernsehen. Eine ihrer größten Fernseherfolge ist die Hauptrolle in der Arte-Produktion „Paula Modersohn-Becker“ von 2007.
In den letzten beiden Jahren begann Güntner sich dazu auch noch ein weiteres Standbein aufzubauen: die Schriftstellerei. Kurz, aber effektiv könnte man ihre Autorentätigkeit zusammenfassen. Nur zwei Erzählungen erschienen bis jetzt, die aber jeweils sehr erfolgreich bei deutschen Literaturwettbewerben rangierten.
Mit „Es bringen“ stieg Verena Güntner in den erlesenen Kreis der Finalisten zum Open Mike Wettbewerb 2012 auf. Ihre Kurzgeschichte „Früher“ wurde mit dem dritten Platz des MDR-Literaturwettbewerbs gewürdigt. Beides führte zu Veröffentlichungen in Anthologien. Auf eine eigene Publikation wartet Verena Güntner aber immer noch – vielleicht ja nur noch bis nach dem Bachmannpreis.
Ihre Geschichten spielen in Teenagerwelten und Teenagerköpfen. Themen wie problematische und verletzende Erfahrungen in der Pubertät, Sexualität, Frühreife, die Suche nach Identität und Zuneigung, Enttäuschung und Anderssein reflektiert Güntner in oft roher, verstörender Sprache: „Ich kotz auf Sonnenuntergänge. … Ich laufe langsamer und setze mein geschmeidigstes Lächeln auf, ziehe am Reißverschluss meiner Jacke, halte sie auf und lass den Wind rein, drehe ein zwei Kurven. ,Hab sie gefickt‘, rufe ich, ,schöne Stöße‘. Die Jungs grölen. Milan hält die Hand auf: ,Kohle her.‘“
Immerhin wird diese Derbheit versuchsweise kontrastiert durch die Verletzlichkeit der Figuren. Die liest man nicht in sentimentalen Melancholie-Tiraden, sondern zwischen den Zeilen: „Doro sieht an sich runter, das rechte Hosenbein hängt schlaff über den Sitz. Es ist nicht ok, dass das Bein fehlt, es ist überhaupt nicht ok. Aber es fehlt nun mal, hat sich verzwitschert. Sie sieht hoch, sieht die Lichter im Tunnel weiter vorn aufscheinen. Zuhause wird sie sich Spaghettis machen. Mit höllenviel Parmesan.“
Die Jugendlichen werden von existentiellen Problemen bedrängt. Ihre Hilflosigkeit zeigt sich in der unreflektierten, harten Sprache und dem Schweigen über die eigentlichen Tragödien. Banalisierung ist Programm der Teenager, eine Verdrängungsstrategie hinter der harten Fassade. Dieses Schema spiegeln auch die Erzählungen. Verena Güntner nimmt keine Nahaufnahmen von ihren Figuren, zeigt keine tiefe Innensicht. Die Sprache bleibt dabei klar und schnörkellos. Den Dialog als wichtigstes Werkzeug ihres Erzählens lässt ihren Theaterhintergrund an Präsenz gewinnen. Allerdings wirken die Inhalte der Texte zu authentisch und zu selbsterlebt. Das ist nicht typisch Theater. Man könnte es so sagen: Verena Güntner schreibt für die Bühne, aber mit möglichst wenig Maske.
Vulgär und sensibel zugleich zu sein, ist wohl das gesteckte Ziel der Autorin. Das funktioniert zwar, aber es reicht nicht. Es ist nur eine von tausend Spielarten, die ein guter Schriftsteller beherrschen sollte. Und dabei noch nicht einmal die originellste. Wenn sich Verena Güntner für den Bachmannpreis etwas Neues einfallen lässt, um ihre Leser zu elektrisieren, kann man darüber nachdenken, Fan zu werden. Eher aber auch nicht.
Dieser Text gehört zu einer Serie von Artikeln von Studierenden aus Duisburg-Essen zum Bachmannpreis 2013.