Notizen aus Tatooine

Über Gerhard Henschels „Abenteuerroman“

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anfang der 80er – zuerst Meppen, gefolgt von Norderney, einer Kaserne in Holland, dann Bielefeld, schließlich die Aussicht auf Bochum: Dies sind die Stationen von Gerhard Henschels „Abenteuerroman“. Und was für Abenteuer das sind, die Protagonist Martin Schlosser auf beinahe 600 Seiten zu bestehen hat! Zuerst macht er Abitur und trägt Zeitungen aus, dann jobbt er einen Sommer lang auf einer Nordseeinsel, wird zum Bund eingezogen, verweigert, wird Zivi bei der Arbeiterwohlfahrt, reist, kifft, trinkt, und plagt sich am Ende mit der Frage, ob er studieren soll oder nicht.

Soll er außerdem mit seiner Schulfreundin Heike zusammenbleiben oder lässt er sich auf Abwege verleiten? Abenteuer im traditionellen Sinn sind dies also wahrlich nicht, oder aber solche, die jede/r in den je eigenen Variationen zu bestehen hat. Der Reiz des Buches liegt also wahrlich nicht in einer überbordenden Handlung. Trotzdem habe ich mich festgelesen und den „Abenteuerroman“ verschlungen. Aber warum? Weil die Figuren nicht umsonst Gerhard Seyfrieds Comic „Invasion aus dem Alltag“ lesen. Minuziös hält Henschel das Fluidum der bundesdeutschen Provinz der frühen 1980er-Jahre fest, wie er zumindest für eine bestimmte Generation kennzeichnend war: Dies ist eine linke Mittelstandsjugend der Zeit, inklusive ihrer Lektüren, Redensarten und Flugblätter, authentisch und mit Liebe zum Detail festgehalten.

Martin Schlosser trägt einen fiktiven Namen, aber sonst scheint wenig erfunden an dieser Figur. Auch nicht der Schauplatz Meppen, der zudem einfach passt: Provinzieller geht niedersächsische Provinz kaum noch, und das will wirklich etwas heißen. In Episode IV von „Star Wars“ erzählt Luke Skywalker den beiden notgelandeten Robotern C3PO und R2D2 sinngemäß, wenn es einen Ort gebe, der am weitesten vom Zentrum des Universums entfernt sei, dann sei es sein Heimatplanet Tatooine. Und Meppen ist sozusagen das Tatooine Niedersachsens. Was nicht heißt, dass Göttingen oder Osnabrück wesentlich besser wegkämen, ganz zu schweigen von den westfälischen Schauplätzen Bielefeld und Löhne. Aber gerade die Abgelegenheit dieser Orte macht sie so geeignet für die Archivierung des vergangenen Provinzalltags, die eigentlich im Zentrum von Henschels Roman steht. Und als solcher ist er nur Teil und Fortführung des autobiografischen Zyklus, den er bereits 2002 mit dem Briefroman „Die Liebenden“ über das Kennenlernen seiner Eltern begann und über den „Kindheitsroman“ (2004), den „Jugendroman“ (2009) und den „Liebesroman“ (2010) weiterführte. Als nächstes soll ein „Bildungsroman“ folgen.

Henschel erzählt in kurzen und kürzesten Szenen, deren Technik an Walter Kempowskis „Deutscher Chronik“ geschult ist; nicht umsonst hat Henschel mit „Da mal nachhaken“ (2009) ein Buch über den Rostocker Autor verfasst. Die Parallele liegt auf der Hand: Beide Zyklen versuchen eine Epoche über ihren Alltag zu archivieren. Aus Redensarten, Werbespots, politischen Ereignissen samt Kommentar der Figuren und selbst Liedertexten baut der Autor ein kleinteiliges, am Ende aber doch umfassendes Bild seiner Zeit. Iris Radisch hat Henschels Projekt in der Zeit mit den ähnlich angelegten Zyklen von Peter Kurzeck und Andreas Maier verglichen, die in ihren vielbändigen Werken ebenfalls das westdeutsche (in diesen Fällen: hessische) Provinzleben der Vergangenheit zu archivieren suchen. Auch ins Oberschwaben Karl-Heinz Otts ist es von hier nicht allzu weit.

Was Henschel dabei näher an Kempowski denn an die anderen Gegenstücke rückt, ist nicht nur seine Montagetechnik, sondern auch der Humor, der bei Henschel allerdings offener, manchmal auch derber zutage tritt als in der „Deutschen Chronik“. Damit – und das ist durchaus Absicht – entblößt sich der Erzähler Martin Schlosser auch schon einmal selbst, etwa, wenn er an der Treue seiner Freundin Heike zweifelt und gleichzeitig selbst mit allerlei Affären liebäugelt. Und noch eine Parallele zur „Deutschen Chronik“: Beide Zyklen eignen sich für eine distanzlose Lektüre, bei der man über den Kunstcharakter des Textes hinwegliest. Hat man die beschriebene Zeit miterlebt, kann man nicken oder sich auf die Schenkel klopfen, sagen: genauso war es. Ist das schon Westalgie? Und wenn der begeisterte Leser Martin Schlosser kommentiert, was er im Deutsch-Leistungskurs liest, taugt das vielleicht nicht für die Frankfurter Anthologie. Hinter der vermeintlichen Naivität verbirgt sich aber oft genug genau das, was schon immer einmal gesagt werden musste: „In Deutsch war Rilke dran. Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen… Zur Strafe für diese Gedichtzeile hätte er dazu gezwungen werden sollen, zehn Jahre lang in einem Obdachlosenasyl das Klosett zu putzen.“ Ist das „pennälerhaft“? Sicher. Aber die Figur, die diese Sätze äußert, ist ein Pennäler. Und die Vorstellung, sie würde uns mit „korrekten“ Lesarten kanonischer Texte bedienen, ist sowohl grauenhaft als auch unglaubwürdig.

Selbst wenn man den Falklandkrieg und Helmut Kohl furchtbar fand – man erkennt die Dinge wieder und freut sich über sein eigenes Wiedererkennen. Ähnlich kritiklos wurde allerdings auch Kempowski lange Zeit gelesen und war damit für eine „seriöse“ Literaturkritik persona non grata. Noch befeuert durch die glatten, gefälligen Verfilmungen von „Tadellöser & Wolf“ und „Ein Kapitel für sich“, lasen viele in den 70er an 80ern seine Romane als nostalgische Feier historischer Zeiten, in denen die Zeitgeschichte neben dem schnurrigen Ton fast zur Nebensache wurde. Wie kunstvoll das gemacht war, merkten viele erst, nachdem das „Echolot“ erschienen war, auch eine monumentale Montage, die eben bloß aus Fremdtexten bestand.

Die Gefahr (wenn es denn eine ist) besteht also darin, dass der Text sich in einer reinen Aufzählung des damals Bestehenden erschöpft, das dann von einer ebenfalls in dieser Zeit sozialisierten Leserschicht identifikatorisch gefeiert wird. Dies tut der „Abenteuerroman“ aber nur bedingt. Deutlich wird das, wenn man ihn mit einem schon etwas älteren Text vergleicht, nämlich Florian Illies’ „Generation Golf“ (1999). Auch Illies will diese Zeit minuziös dokumentieren, mitsamt ihrer Zauberwürfel und Kiefernholzregale. Doch Illies feiert diese Zeit tatsächlich. Über das Personalpronomen „Wir“ gemeindet er seine Leser vorbeugend ein und konstruiert jene Generation, die sein Text doch zuallererst abbilden will. Mit dem unscheinbaren Personalpronomen stiftet er eine Gemeinschaft und legt seinen Lesern zumindest sehr, sehr nahe, das Beschriebene doch genauso zu sehen wie er. Ob das nun das titelgebende Golf Cabrio ist oder der Erfolg von „Wetten, dass…?“, bleibt ziemlich wurscht. Illies feiert die alte Bundesrepublik kritiklos, wenn man mal von Kritik an miesepetrigen Gutmenschen (also allen links von der FDP) absieht, zu denen er bestimmt auch Martin Schlosser gezählt hätte.

Nicht so Gerhard Henschel. Martin Schlossers Leben ist eben nicht auf eine bestimmte Lesart hin angelegt. Zwischen Erzähler und Hauptfigur gibt es zwar keine kritische Distanz, auch der zeitliche Abstand des Erzählens wird nur ein einziges Mal thematisiert. Aber der Humor der Erzählung führt dazu, dass sie zumindest ironisch gebrochen ist. Henschels „Abenteuerroman“ ist auf jeden Fall einer der komischsten Texte der letzten Jahre. Der Rezensent kann zudem sagen: Das Buch entfaltet einen ungeheuren Sog. Aber ich bin selbst in der niedersächsischen Provinz aufgewachsen und gehöre beinahe der gleichen Generation an wie Protagonist und Erzähler. Und das ist vielleicht der entscheidende Punkt, um den auch diese Rezension nicht herumkommt: wie beurteilt man ein Buch, mit dem man sich identifiziert?

Titelbild

Gerhard Henschel: Abenteuerroman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2012.
573 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783455403619

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