Deutschland – keine „Insel der Glückseligen“

Hans-Ulrich Wehler beschreibt eindrücklich die soziale Ungleichheit in Deutschland

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Steuer-Affäre um Uli Hoeneß hat die politische Diskussion um Steuerhinterziehung und Steuerflucht wieder in Gang gesetzt und die Welt der Superreichen wohl ein kleines Stück weit ins Wanken gebracht. Gegen die Steueroasen, für mehr politischen Druck gegenüber Steuerflüchtlingen und – solang es nicht anders geht – für den Kauf von „furchteinflößenden Datenträgern mit Kontoinformationen“ spricht sich auch der renommierte Historiker Hans-Ulrich Wehler in seinem neuesten Buch „Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland“ aus.

Wehlers Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass entgegen den Behauptungen vieler heutiger Soziologen nicht Pluralismus, sondern härteste „Hierarchie der Klassenformationen“ die deutsche Gesellschaft kennzeichnet. Dieser „verblüffenden Realitätsblindheit“ setzt er seine eigenen Untersuchungen über die zerklüftete deutsche Gesellschaftslandschaft entgegen. In mehreren Kapiteln untergliedert er die Ungleichheit und analysiert diese – unter anderem die Einkommensungleichheit, die Ungleichheit der Bildungschancen, die Ungleichheit bei Gesundheit und Krankheit, die Ungleichheit zwischen West und Ost und sogar die Ungleichheit auf den deutschen Heiratsmärkten. Anhand zahlreicher Beispiele und statistischer Daten belegt der Autor die „maßlose Konzentration“ von Reichtum in den Händen einer Minderheit sowie die soziale Ungleichheit und bescheinigt den Gesellschaftsstrukturen in Deutschland in diesen und in weiteren Bereichen eine hohe „Invarianz“, „scharf markierte“, unüberwindbare Grenzen, Segregation und Exklusion.

Wehlers Versuch einer Widerlegung der gängigen Propaganda von der gerechten und „gleichmäßigen Verteilung des Wohlstands“ sowie von der „friedlichen“ Koexistenz verschiedener „Lebensstile“, die uns heutzutage mit „glitzernden Wortkaskaden“ überschwemmt, ist löblich. Hierzu rehabilitiert er den Klassenbegriff und bedient sich mit Vorliebe der Theorie der Stratifikation von Max Weber und des Habitus-Begriffs Pierre Bourdieus. Schon früh in seinem Buch erklärt der Historiker Wehler aber die gesellschaftliche Hierarchisierung zu einer „anthropologischen Konstante“: „Alle historisch bekannten Herrschaftsverbände werden durch Systeme der Sozialen Ungleichheit geprägt. Immer weist ihre Sozialstruktur eine hierarchische Ordnung auf. Insofern ist das Stratifikationsgefüge von Gesellschaften eine anthropologische Konstante.“ Der gut geschriebene, kenntnisreiche theoretische Vorspann „Sozialhierarchie und Hierarchietheorien: Die soziale Ungleichheit“ dient also nur dazu, die soziale Gleichheit als unmöglich und die Hierarchisierung der Gesellschaft als ein unaufhebbares Faktum zu erweisen.

Nach diesem Einstieg ist die weitere Argumentation im Buch leicht vorhersehbar. Der gegenwärtig tobende „Turbokapitalismus“ sei „blindwütig“ und „grenzenlos habgierig“ und wird von Wehler empört ausschließlich dem Neoliberalismus in die Schuhe geschoben. Adjektive wie „dramatisch“, „atemberaubend“, „erstaunlich“, „verblüffend“, „bizarr“, „krass“, „eklatant“, „drastisch“, „obszön“ und so weiter häufen sich, wenn im Buch von der Verschärfung der sozialen Ungleichheit und von den Verbrechen der dafür schuldigen politischen Akteure die Rede ist. Vieles in diesem Buch hört sich klischeehaft an – so die zur Genüge bekannte Wahrheit von der „Selbstbedienungsmentalität“ und den in die Höhe schießenden Gehältern von Topmanagern. Klischeehaft und nur dürftig auf drei Seiten begründet ist auch das zweimal vorkommende Diktum: „Wer arm ist, muss früher sterben“. So gesellen sich zu Wehlers Absicht, über die verheerende Situation sozialer Ungleichheit „zu informieren und aufzuklären“, die Anklage gegen den deregulierten Markt, die Wirtschaftsoligarchie und den Neoliberalismus sowie die Klage über die „dramatischen Folgen“ der von ihnen verursachten Krise. Ein gelegentlicher sarkastischer Hieb geht aber auch in die andere Richtung, beispielsweise wenn der Autor – ohne weitere Erklärungen – der „Linkspartei“ vorwirft, dass sie sich „vor den Karren des blinden antisozialdemokratischen Hasses von Oscar Lafontaine“ habe „spannen“ lassen.

Zuweilen wundert sich Hans-Ulrich Wehler, „wie lange die kritische öffentliche Meinung eine derart krasse Verletzung der Gerechtigkeitsvorstellungen hinzunehmen bereit ist“ oder „warum sich bisher so wenig Widerstand gegen diese maßlose Einkommens- und Vermögenssteigerung geäußert hat“. Bei aller Vagheit und Unfruchtbarkeit dieser Fragen vor dem Hintergrund der zentralen Annahme des Buches, dass die Ungleichheit unausrottbar sei, sind dies wohltuende Momente, denen jedoch eine eintönige und wenig aussagekräftige Apologie des Staates entgegensteht.

Für Hans-Ulrich Wehler ist der Staat „der mächtigste Akteur“, auf dessen Kräfte er vertraut und dessen Interventionen er nicht nur billigt, sondern unentwegt fordert. Der Sozialstaat ist ihm aber auch das letzte Refugium nach der „Fata Morgana des komplett deregulierten Marktes“ und nach dem „radikalen Scheitern“ der Utopie von der klassenlosen Gesellschaft. Wehler unterbreitet die Vision einer Gesellschaft, in welcher der Staat durch „steuerpolitische Remedur[en]“ für Gerechtigkeit sorgt und „Reichtum korrekt zur Besteuerung“ vorgelegt wird. Für den Fall der Nichtbefolgung dieser Linie kündigt er dem Leser Unheil an: „Wird diese Intervention [des Staates] nicht endlich umfassender in Gang gesetzt, bleibt nur Resignation übrig – verbunden mit extremen sozialen und politischen Folgekosten.“

Wehlers Lob des „Interventions- und Sozialstaats“ schließt zudem ein, dass dieser Staat etwa beim Thema Zuwanderung von aller Schuld freigesprochen wird, während die „fatale Entscheidung“, Unmengen an armen und ungebildeten Gastarbeitern aus Anatolien ins Land geholt zu haben einzig und allein den Arbeitgebern beziehungsweise den Unternehmen zugeschrieben wird. Die Analyse der „ethnisch-kulturellen Ungleichheit“ gehört ohnehin zu den schwächsten und widersprüchlichsten Kapiteln in Wehlers Buch. Wenn der Autor hier leidenschaftlich gegen die EU-Aufnahme der Türkei plädiert und den „strategischen Overstretch“ der EU beim EU-Beitritt einiger osteuropäischer Länder moniert, während er andere osteuropäische Länder heraushebt, widerspricht er seiner eigenen grundsätzlichen Forderung nach Inklusion und belässt zugleich seine Inklusions- und Exklusionskriterien im Dunkeln: „Dagegen ist die Zuwanderung aus den osteuropäischen EU-Ländern, insbesondere aus Polen und Ungarn, in jeder Hinsicht willkommen.“ Woher und nach welchen Kriterien rekrutiert Wehler seine „Leistungselite“, um seinem „Ideal einer offenen Leistungselite“ zu entsprechen? Wer hat zu ihr Zugang?

Mit seiner Überschätzung des Staatsapparats als Garant der Gerechtigkeit hat Hans-Ulrich Wehlers „Appell an die Maxime der Sozialen Gerechtigkeit“ gar keinen Sprengstoff zu bieten. Neben der wenig erbaulichen Feststellung, „dass zwar auch die staatliche Intervention nur in erkennbaren Grenzen zum Erfolg führt, dass es aber zu ihr keine wirkliche Alternative gibt“, steht auch das entmutigende Schlussergebnis: „Als realistische Politik kann daher nur die Abmilderung einer allzu krass ausgeprägten Hierarchie gelten.“

Palliativmedizin statt Therapie. Und ein enttäuschendes Buch.

Titelbild

Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
190 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406643866

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