Ganz großes Kino?

Holger Noltzes Liebeserklärung an eine scheinbar veraltete Kunstform

Von Tobias WeilandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Weilandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theodor W. Adorno zog einst einen Vergleich zwischen Hollywoodfilmen und Opern. So notierte er in seinem Aufsatz „Bürgerliche Oper“: „Es zeigt sich sich […], wie tief die Oper als Konsumgut ‑ auch darin dem Film verwandt ‑ mit Spekulationen aufs Publikum verfilzt ist.“Die lange Erfolgsgeschichte der Oper ließe sich demnach auf ihre große Publikumswirksamkeit zurückführen. Doch bereits zu der Zeit, als Adorno diese Zeilen schrieb, schien die Hochphase der Oper in Europa schon vorbei zu sein. Seitdem lässt sich der langsame aber stetige Niedergang dieser Kunstform beobachten. Untrügliches Anzeichen hierfür ist unter anderem das Begehren vieler Bonner Bürger ihre Oper abzuschaffen. Oper gilt häufig als Amüsement einiger weniger Privilegierter, das dann auch noch mit hohem Aufwand und immensen Kosten zu Buche schlägt. Mögliche Gründe für diese weitverbreitete Ansicht gibt es viele, wie etwa unsere angeblich amusische Bildungskultur, die oftmals beklagt wird.

Die Anfänge der Oper liegen im 17. Jahrhundert, ihren Zenit erreichte sie jedoch erst im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert durch Komponisten wie Mozart, Puccini und eben auch Wagner und Verdi. Deren Namen gehören immer noch zum gegenwärtigen „Allgemeinbildungsrepertoire“. Warum, so könnte man sich dennoch fragen, sollte man sich im 21. Jahrhundert noch eine vielstündige Vorstellung antun, an deren Ende ein Mensch in Schwanengestalt langsam um die Ecke gleitet (Wagner: „Lohengrin“), oder eine weiß gekleidete Dame ihren etwa 10-minütigen Todeskampf besingt (Verdi: „Otello“)?

Man muss sich selbstverständlich auf die Inhalte und Darstellungen der meisten Opern einlassen. Wer einen Fantasyroman mit der Feststellung: „Es gibt doch gar keine Elfen und Einhörner!“ beiseitelegt, wird wohl auch viele Opern als unerträglich kitschig und kurios abtun. Was ist es aber nun, was so viele immernoch insbesondere an Wagners und Verdis Opern fasziniert?

Holger Noltze wagt in seinem Buch „Liebestod. Wagner, Verdi, Wir“ zwei Erklärungen: Zum einen stecke noch mehr 19. Jahrhundert in uns, als wir glauben mögen, zum anderen sehnen wir uns „nach großen Gefühlen, die wir als Bewohner einer entfremdeten Moderne in uns [nicht mehr, T.W.] spüren“. So erklärt sich scheinbar auch das auf den ersten Blick irritierende „Wir“ im Untertitel seines Buches. Noltze zeichnet zwar ein lebendiges Bild des 19. Jahrhunderts, dies aber immer aus einem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts, indem er fragt, wie wir heute auf Inhalte von Opern wie „Parsifal“, „Maskenball“ oder „Tannhäuser“ reagieren und wie sie unser Leben bereichern können.

Sein 448 Seiten starkes Werk ist strenggenommen keine Doppelbiografie, die nur das Leben Wagners und Verdis nachzeichnet. Selbstverständlich ist ein Teil von Noltzes „Liebestod“ auch den Lebensumständen und Lebensläufen Wagners und Verdis gewidmet. Allerdings verschiebt sich nach etwa einem Viertel des Buches der Fokus auf die Analyse ihrer Werke bis 1883 und auf einen Vergleich deren musikalische Inhalte.

Beide Komponisten treffen sich, so Noltze, im Thema des Liebestodes, also des Todes durch Unerreichbarkeit der/s Angebeteten und Nicht-Erfüllung des Verlangens nach ewig währender Zweisamkeit. Noltzes Hauptaugenmerk liegt bei der vergleichenden Darstellung und Interpretation demnach auf den Endszenen ausgewählter Opern von Verdi und Wagner. Findet man dieses Thema zwar auch in zahlreichen Opern anderer Künstler, so gelten die beiden scheinbaren Antipoden Wagner und Verdi jedoch als Opernreformer par excellence: „Beide erfinden, auf je eigene Art, das musikalische Theater neu.“ Verdi überwindet spätenstens mit der Oper „Nabucco“ (1842) die herrschenden Konventionen, indem er sie überspitzt und einen Realismus, ja sogar Naturalismus in die bis dahin romantisch geprägten Inhalte einflicht. Für Verdi bedurfte es für eine große Oper stets eines plausiblen und überzeugenden Plots. Wagner gelingt dies hingegen mittels pompöser Instrumentation und übernatürlicher Einschläge in die reale Welt, so wird unter anderem im „Parsifal“ das Gralswunder beschworen und in „Tristan und Isolde“ ordentlich Zaubertrank eingeschenkt. Ermahnte Verdi seine Librettischreiber wiederholt zu Kürze und Prägnanz, was zu einem seiner wesentlichen Wirkungsmittel wurde, so findet man bei Wagner ausufernde Gesangspassagen, die sich im Kern auf drei Sätze komprimieren lassen würden, sofern man dies wollte.

Beide Komponisten griffen in fast allen ihren Werken den Liebestod als Fluchtpunkt auf, der Punkt, an dem sich die Geschichte zuspitzt und die Tragik scheinbar ihren Höhepunkt erreicht. Der Tod, der Protagonistin, des Helden oder sogar beider, geht nur selten auf körperliche Gebrechen, wie Schwindsucht (Verdi: La Traviata) zurück. Viel öfter ist es der Mord, oder noch schlimmer, der Freitod der Verliebten. Noch eben versicherten sich beide Verliebten singend ihrer tiefen Zuneigung, da drohen schon im Hintergrund Totschläger, Mörder und Intriganten, die das junge Glück zerstören wollen. Da werden Dolche gestoßen, da wird gewürgt und Gift verabreicht. Hin und wieder droht den Liebenden der Tod sogar durch die eigene Hand. Ganz gleich, ob der Zaubertrank gereicht oder selbst getrunken wird, ob von fremder Hand erdolcht oder langsam und schmerzvoll an einer Stress-Kardiomyopathie (Gebrochenes-Herz-Syndrom) dahinsinkend, das Ende ist der Liebestod. Nicht nur im Alltag ist bereits die Aussage „Ich liebe dich“ heikel und riskant, wehe aber, beide finden, wenn auch nur kurz, zueinander. Dann ist ihr tragisches Schicksal bereits besiegelt, denn Liebe in der Oper, so Noltze, ist immer unbändiges Verlangen, das größer ist, als alle Liebeserfüllung im Diesseits. Die Liebe ist in der Welt unlebbar und findet ihre große Erfüllung erst im Tod. Er ist die Finallösung im romantischen Überschwang. Der Maßstab der wahren Liebe ist Treue, die ewig nur im Tode währen kann. Tod und Liebe, dass sind laut Noltze, die „Themen der Oper von Anfang an, und sie sind untrennbar miteinander verbunden“.

Niemand verstand diese Verschmelzung aber so darzustellen, wie Verdi und Wagner, die mit ihren je eigenen Mitteln die klaffende Lücke zwischen Alltagszwängen und überbordender Sehnsucht nach tiefen Emotionen beim Publikum zu schließen wußten. Erst die beiden vermochten es, die Idee des Liebestodes so radikal mit den Mitteln der Musik auf die Bühne zu bringen. Das Publikum erhält so einen Einblick in die tiefen Abgründe der menschlichen Existenz. Wagner und Verdi schafften Illusionen und emotionale Utopien, die ihresgleichen suchen, ihnen aber bis heute vom Publikum abgenommen werden. In der Oper ist alles möglich, denn, so Noltze: „Wir glauben alles, solange die Musik spielt.“

Das Opernhaus ist bis ins 21. Jahrhundert ein Ort der Utopien geblieben. Utopien, die uns laut Noltze, nicht nur dazu veranlassen, uns mit vergangener Kunst zu beschäftigen, sondern uns auch in deren Folge ermöglichen, uns aus der „als öde empfundenen Gegenwart herauszuträumen“. Infolgedessen ließe sich mit Fug und Recht behaupten: Oper ist ganz großes Kino, allerdings nicht im abschätzigen Sinne Theodor W. Adornos.

Holger Noltze legt mit „Liebestod“ zum 200-jährigen Geburtstag Guiseppe Verdis und Richard Wagners ein ausgezeichnetes Stück Musikliteratur vor. Hin und wieder läuft er in seinen Ausführungen dabei Gefahr sich in Details zu verlieren. Versteht er es zwar sehr kleinschrittig seine Analysen vorzunehmen, so bedarf es zu deren Verständnis dennoch einiger musiktheoretischer Grundkenntnisse. Ein erhellendes Glossar fehlt leider.

Noltzes „Liebestod“ ist dennoch eine äußerst gelungene Einführung in die Welt der Oper und in das Werk Verdis und Wagners, in der es der Autor auf charmante Weise vermag seine Begeisterung für das musikalische Theater zu transportieren.

Titelbild

Holger Noltze: Liebestod. Wagner, Verdi und der Traum vom großen Gefühl.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013.
445 Seiten, 26,99 EUR.
ISBN-13: 9783455502626

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