Im Schatten der Laterne

Unter dem Titel „Nicht nur Lili Marleen“ würdigt eine Briefedition den vielseitigen Künstler Hans Leip

Von Anett KollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anett Kollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Frühjahr 1915 schreibt Hans Leip als junger Soldat die Verse von „Lili Marleen“, die 22 Jahre später in dem Gedichtband „Die kleine Hafenorgel“ veröffentlicht werden. Noch im Erscheinungsjahr komponiert Norbert Schultze ein Melodie dazu. Interpretiert von Lale Andersen und regelmäßig zum Tagesabschluss ausgestrahlt durch den Soldatensender in Belgrad wird das Lied zur Hymne und in dutzenden Sprachen zum sentimentalen Soldatentröster an allen Fronten. Greta Garbo singt es und auch Marlene Dietrich „mit ihrer eigenen und besten Übersetzung ins Englische“, wie der Dichter der Originalverse später anerkennt, bei ihren Auftritten vor den amerikanischen Streitkräften.

Noch heute spielt der Truppenbetreuungssender der Bundeswehr den Hit täglich zur gleichen Stunde. Und dennoch: „Mir wäre lieber, wenn eins meiner Bücher so publik wäre“, schreibt Hans Leip im Februar 1976 an seinen langjährigen Brieffreund Richard Schulz. Denn im Lebenswerk des 1893 in Hamburg geborenen Künstlers stehen die „Lili-Marleen“-Verse nur am Beginn eines kreativen Biografie, die neben weiteren Gedichten, Übersetzungen, Sachbüchern, Romanen und Autobiografien auch ein grafisches, bildhauerisches und malerisches Werk umfasst. „Ich richtete mich als rechter Maler ein“, erinnert sich Leip an die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, „ohne mich um Arts und Ismen zu kümmern“.

Es entstehen Porträts als Auftragswerke und expressionistisch beeinflusste Kunstblätter, auch Entwürfe für „Plakate, Zigaretten- und Puderdosen, Emailleringe und Firmeninserate“. Bald darauf erscheint sein bekanntester Roman „Godekes Knecht“, für den Leip 1924 den „Rheinischen Literaturpreis“ bekam und über den Thomas Mann notierte: „Ein brutaler Stoff, von Zartheit durchleuchtet, Leidenschaft der Handlung und des Wortes, sich speisend aus Ursprüngen, die dem modernen Empfinden romantisch anmuten möchten und dennoch erschreckend gegenwärtig ins Gemüt greifen“. Weitere schriftstellerische Arbeiten folgen, die wie der Erstling oft um maritime Motive kreisen, die den gebürtigen Hamburger auch in seiner neuen Heimat – nach dem Krieg ließ sich Leip in der Schweiz nieder – weiter beschäftigen.

Der jetzt von Jörg Deuter herausgegebene Briefwechsel zwischen Hans Leip und dem Esperantisten Richard Schulz zeigt die vielseitigen Facetten des Literaten und bildenden Künstlers. Die ausgewählten Dokumente, hauptsächlich aus den 1970er- und dem Anfang der 1980er-Jahre stammend, enthalten rückblickende und zeitgenössische Gedanken Leips zum Werk und zur eigenen Existenz als Künstler und korrespondierende Antworten des langjährigen Briefpartners. Die erste Begegnung der beiden liegt lang zurück. Weihnachten 1940 liest Leip auf Anregung des Studienrats Richard Schulz in Hamburg auf einer Schulveranstaltung einige seiner Gedichte. Besonders eins davon, „Unter den Sternen. Anno 1939“, geht dem 13 Jahre jüngeren Schulz lange nach, sodass er 1943 einen Brief an den verehrten Dichter schreibt.

Jahrzehnte später wird aus dieser Bekanntschaft ein freundschaftlicher Gedankenaustausch. Der Brief ist erhalten, und Jörg Deuter druckt ihn zu Beginn seiner Edition ab. Ähnlich kann man sich 30 Jahre später die erste Begegnung des Herausgebers mit Leip 1973 vorstellen. Deuter, damals 15-jähriger Gymnasiast, wendet sich nach der einschneidenden Lektüre von „Godekes Knecht“ schriftlich an den geschätzten Autor und findet in dem 80-jährigen einen aufgeschlossenen Ratgeber, Förderer und Tröster – „er hob mein Selbstgefühl beträchtlich“.

Mit der Edition der Korrespondenz seines Mentors erfüllt er nun ein persönliches Vermächtnis und leistet einen Beitrag, Leips Lebenswerk in seiner Vielfalt zu bewahren. Gleichzeitig räumt er dem Briefpartner Richard Schulz, der auch Lyriker und Grafiker war, und seiner späten Leidenschaft für die Plansprache Esperanto gebührend Platz ein, sodass der Austausch zwischen den vertrauten Zeitzeugen auch einen Einblick in die bundesdeutschen Kulturbefindlichkeiten der 1970er- und 1980er-Jahre liefert. Deuter ordnet die gewählten Briefauszüge nicht chronologisch, sondern nach Themen und Werken, was der Edition einerseits einen offenen, fragmentarischen Charakter verleiht und andererseits die Haltung der Briefpartner zu bestimmten Schwerpunkten herausarbeitet. Ein Aspekt, der immer wieder zur Sprache kommt, ist Leips „Innere Emigration“ zu Zeiten des Nationalsozialismus. Obwohl seit 1942 Träger des Kriegsverdienstkreuzes II. Klasse für seine Verdienste „als Werber der großen Ostidee des Reiches“ ist Leip überzeugter Pazifist und verfasst in den 1940er-Jahren subversive Gedichte wie das oben erwähnte „Unter den Sternen. Anno 1939“ in „kalligrafischer“ Mehrdeutigkeit. Als Hans Erich Nossak 1973 in seiner Dankesrede zum Alexander-Zinn-Preis Auswanderung oder Anpassung als einzige Wege künstlerischer Existenz in der Zeit des Nationalsozialismus behauptet, schreibt Leip in der Zeitschrift „die horen“ unter dem Titel „Wahrheit“ eine vehemente Verteidigung der „Inneren Emigration“, wie er sie selbst für sich in Anspruch nahm.

Anfang der 1980er-Jahre sorgte „Lili Marleen“ noch einmal für Trubel. Rainer Werner Fassbinders gleichnamiger Film verstörte seit der Premiere die Gemüter. „Den Lili Marleen Film zu sehen, reizt uns nicht“, so Leip. „Ich bin zufrieden, wenn nun endlich mein Gedichttitel Lili Marleen in allen gängigen Sprachen richtig (wie jetzt im Bereich des Filmrummels) geschrieben wird“, konstatiert er im Mai 1981 zwei Jahre vor seinem Tod.

Titelbild

Jörg Deuter: Nicht nur Lili Marleen. Hans Leip und der Esperantologe Richard Schulz in ihren Briefen von 1943 bis 1983.
Verlag Traugott Bautz GmbH, Nordhausen 2013.
274 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783883097947

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