Das berühmteste deutsche Gedicht
Eine Besichtigung
Von Dieter Lamping
Von der Liebe zu Ranglisten bleibt auch die Lyrik nicht verschont. Immer wieder werden die altbekannten Fragen aufgeworfen: Wer ist der berühmteste deutsche Lyriker? Welches das berühmteste deutsche Gedicht? Zumindest die erste Frage müsste eigentlich gar nicht mehr gestellt werden, weil längst bekannt sein dürfte, wer der berühmteste deutsche Dichter ist: Goethe natürlich. Die Argumente dafür sind oft vorgetragen worden, und sie haben sich noch immer nicht erledigt. Keiner, so fasste Marcel Reich-Ranicki das Urteil 2009 zusammen, hat so viele Gedichte geschrieben, die „bis heute lebendig“ geblieben seien. Sie stammen „aus allen Epochen seines Lebens: Schon der halbwüchsige Goethe schrieb Gedichte – und es sind darunter auch Meisterstücke. Noch der Achtzigjährige verfasste Verse, und sie muten bisweilen geradezu jugendlich an.“ Dem ist nicht viel hinzuzufügen – außer dem Hinweis, dass auch kein anderer deutscher Lyriker von späteren so oft zitiert, kommentiert und parodiert worden ist.
Schwieriger zu beantworten ist die andere Frage: Welches das berühmteste deutsche Gedicht sei. Wenn es gilt, sie zu beantworten, sind viele Leser befangen. Sie urteilen von ihren Vorlieben her und neigen dazu, die Gedichte, die ihnen am schönsten erscheinen, auch für die berühmtesten zu halten. Doch sogar wenn man von den eigenen Vorlieben absieht, kann man sich noch irren. Ich hätte, befragt, zwei Gedichte Goethes genannt: „Heidenröslein“ oder „Wanderers Nachtlied“ („Über allen Gipfeln“). Ich musste mich, ungefragt, jedoch eines Besseren belehren lassen. In der von Hans Braam zusammengestellten Sammlung „Die berühmtesten deutschen Gedichte“ finden sie sich zwar in der Spitzengruppe, aber nicht an der Spitze. Braam hat das bekannteste deutsche Gedicht durch die Auswertung von 200 Anthologien ermittelt. Goethe belegt u.a. die Plätze 2 bis 5, mit „Der Erlkönig“ an zweiter und „Wanderers Nachtlied“ an vierter Stelle. „Heidenröslein“ findet sich, fast abgeschlagen, auf Rang 44. Den ersten Platz behauptet ein anderes Gedicht: „Abendlied“ von Matthias Claudius.
Auch wenn man an dieses Gedicht nicht gedacht hat, überrascht das Ergebnis nicht. Vor 135 Jahren, 1778, ist das „Abendlied“ zuerst erschienen, im „Musen-Almanach“ auf das Jahr 1779. Seitdem ist es unzählige Male nachgedruckt worden, bis auf den heutigen Tag. Man begegnet ihm immer wieder. In neueren Anthologien wie dem „Großen Conrady“ ist es ebenso vertreten wie im „Evangelischen Gesangbuch“. Auch in zwei älteren, ganz unterschiedlichen Sammlungen wie Rudolf Borchardts „Ewiger Vorrat deutscher Poesie“ und Karl Kraus’ „Lyrik der Deutschen“ ist das „Abendlied“ zu finden – aber nicht „Wanderers Nachtlied“. Kraus hatte dafür sicher andere Gründe als Borchardt.
Das „Abendlied“ ist jedoch nicht nur ein Liebling der Kenner. Man lernt es früh, spätestens in der Schule, und für seine auch danach anhaltende Popularität gibt es eine Reihe von Anzeichen. Von großen Komponisten ist es vertont worden, etwa von Max Reger und Carl Orff, vor allem aber von Franz Schubert, und große Sänger haben es in seiner Version vorgetragen, etwa Dietrich Fischer-Dieskau. Allerdings haben sich, und das ist ein noch verlässlicheres Zeichen, auch weniger begnadete, dafür umso bekanntere Sänger des „Abendlieds“ angenommen. Zuletzt hat Herbert Grönemeyer versucht es zu singen.
Einzelne Verse („Der Wald steht schwarz und schweiget“ oder „Kalt ist der Abendhauch“) haben für populäre Filme und Bücher, Krimis im einen wie im anderen Fall, als Titel herhalten müssen. Am 23. Juni 2013 titelte der SPIEGEL: „Der Super-Mond ist aufgegangen“. Der Super-Mond ist der hellste Vollmond des Jahres. Sogar eine moderne Parodie auf das Gedicht ist bekannt geworden: Peter Rühmkorfs „Variation auf ‚Abendlied’ von Matthias Claudius“. Gleichfalls parodistisch hat Dieter Hildebrandt es in einer seiner Kabarett-Nummern Helmut Kohl aufsagen lassen. Axel Hacke hat sich auf das „Abendlied“ für seine Humoreske „Der weiße Neger Wumbaba“ bezogen. Wer einen Vers aus dem Gedicht zitiert, hat gute Aussichten, auf Resonanz zu stoßen.
Man muss zugestehen, dass der erste Platz kein unwürdiges Gedicht trifft. Karl Kraus hat von Claudius, dem „Dichter des Abendliedes“, gesagt, dass er „nicht Goethes Umfang und Größe, aber tiefere lyrische Augenblicke als selbst er erreicht hat“. Und bei anderer Gelegenheit hat er sogar geschrieben: „nie stand ein Wald so schwarz und still, nie stieg der weiße Nebel so ‚wunderbar’ wie in dem ‚Abendlied’“.
Das „Abendlied“ gilt als Schlaflied. Man kann es allerdings auch anders lesen: nicht als ein Lied über den Abend eines Tages, sondern eines Lebens. Auf jeden Fall ist es ein religiöses Gedicht, dessen Vorlage bekannt ist: Paul Gerhardts „Nun ruhen alle Wälder“. „Abendlied“ beginnt als ein Naturgedicht („Der Mond ist aufgegangen“), geht über zur Reflexion, wendet sich dabei erst der Welt („Wie ist die Welt so stille“), dann dem Menschen zu („Wir stolze Menschenkinder/ sind eitel arme Sünder“), wird anschließend zum Gebet („Gott, laß uns dein Heil schauen“) und endet mit einer Fürbitte („Verschon’ uns Gott! mit Strafen/ und laß uns ruhig schlafen/ und unsern kranken Nachbar auch“). Die Abendstimmung lässt das alles zu.
Der Sprecher beschreibt in einfachen, geradezu schlichten Worten, was er sieht: Mond und Sterne, Wald und Wiese, Dämmerung und Nebel. Die Bilder werden ihm zu Gleichnissen: für die Wunder unserer Welt, die wir schnell übersehen, und für die Grenzen unserer Welt, über die wir nicht hinauszuschauen vermögen. Das bewegt ihn dazu, sich in Demut zu üben: „laß uns einfältig werden/ und vor dir hier auf Erden/ wie Kinder fromm und fröhlich sein!“ Menschen sind für den Sprecher Kinder – Kinder Gottes zwar, aber eben Kinder, die eitel und verführbar sind, unwissend und ziellos. Sie können nur auf Gottes Güte und Vergebung hoffen – und auf einen „sanften Tod“. Das sind fromme Wünsche, die noch dem Ungläubigen gefallen. Weltfrömmigkeit, Menschenfreundlichkeit und Gottvertrauen mischen sich in ihnen. Damit lässt sich gut schlafen.
Für Claudius sind die Welt und der Mensch in Gottes Hand. Wer das weiß, muss bescheiden, dankbar und freundlich werden, Irrwege meiden und sein Heil in Gott suchen. Auch dieses Bild des guten Christenmenschen ist ein frommer Wunsch. Es ist schön genug, um beliebt zu werden – aber zu schön, um wahr zu sein. Man muss aber, wenn man Claudius nicht unrecht tun will, dieses Gedicht mit zwei anderen zusammen lesen: mit „Der Mensch“ und „’s ist Krieg! ’s ist Krieg!“. Sie haben es nicht unter die hundert bekanntesten deutschen Gedichte geschafft, lassen aber von seinem Menschenbild nicht weniger als das berühmtere erkennen.
Man kann das „Abendlied“ Kindern zur Nacht singen. Man kann es, als gläubiger Erwachsener, für sich lesen, auch bei Tageslicht, als eine sanfte Ermahnung. Man kann, als Ungläubiger, in ihm schöne Gefühle besichtigen, die es einmal gegeben hat – oder von denen man wünscht, dass es sie gegeben habe. Vielleicht hat wenigstens der Dichter sie empfunden. Auf jeden Fall gibt es sie im Gedicht, wie vieles, was besser ist als die Wirklichkeit.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu .
Literaturhinweise
Marcel Reich-Ranicki: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Johann Wolfgang Goethe. Herrlich wie am ersten Tag. 125 Gedichte und ihre Interpretation. Frankfurt a.M. 2009, S. 19-25. Zitat S. 19.
Karl Kraus: Die Sprache. Schriften Band 7. Hg. von Christian Wagenknecht. Frankfurt a.M. 1987. Zitate S. 203 und 285.