Eine unerzählte Geschichte
Ein Gespräch mit der Bachmann-Preisträgerin 2013 Katja Petrowskaja
Von Lisa-Marie George
In diesem Jahr geriet der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb besonders in den Fokus der Medien. Der ORF wollte ihn abschaffen, um Kosten einzusparen. Wer würde der letzte Gewinner oder die letzte Gewinnerin der begehrten Auszeichnung werden? Am Tag der Preisverleihung verkündete Dr. Wrabetz, Generaldirektor des ORF, dass der Bachmann-Preis nun doch weiterhin bestehen bleibe. Neue Sponsoren hätten sich gefunden. So wurde die Autorin Katja Petrowskaja in diesem Jahr nicht zur letzten, aber zur Bachmann-Preisträgerin 2013 gekürt. Mit dem Vortrag eines Auszugs aus ihrem Roman „Vielleicht Esther“ berührte sie Jury und Publikum gleichermaßen.
Die Journalistin und Autorin Katja Petrowskaja ist gebürtige Ukrainerin und kam mit 29 nach Berlin. Sie selbst sagt von sich, dass sie im Deutschen noch „minderjährig“ sei. Seit zwei Jahren schreibt sie die Kolumne „Die west-östliche Diva“ für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“. Schon länger veröffentlicht sie auch in anderen deutschen und russischen Medien ihre Texte.
Direkt nach ihrer Lesung beim Bachmann-Preis treffe ich Katja Petrowskaja in einem Klagenfurter Restaurant. Noch zwei Tage bis zur Preisverleihung. Es ist keine Interviewsituation, sondern ein Gespräch über das Schreiben in der deutschen Sprache.
LG: Ich finde es spannend, dass Sie aus einer sehr subjektiven Perspektive schreiben. Im Text „Die Kinder von Orljonok“ gibt es etwa eine Passage, in der Sie Ihr journalistisches Vorgehen hinterfragen und reflektieren. Das gibt es selten in journalistischen Texten. Ich finde es eine tolle Möglichkeit mit dieser Metaebene zu spielen und das dem Leser mitzuteilen. In Ihrem Wettbewerbstext, den Sie heute vorgetragen haben, reflektieren Sie ebenfalls die Verbindung von Fakten und Fiktionen. Kann man journalistisches und literarisches Schreiben trennen?
KP: Das ist eigentlich keine Frage für mich. Ich habe nie journalistisch in dem Sinn geschrieben, als dass ich ein Format bedienen wollte. Ich kann daher viele Sachen gar nicht machen. Eigentlich habe ich sehr wenig geschrieben. Egal ob es eine Rezension oder eine Reportage war, die Themen oder Genres der journalistischen Arbeiten wurden von mir selbst bestimmt oder ich habe sie bewusst ausgewählt. Ich wusste dann einfach, hier kann ich mich austoben oder ein Thema behandeln, über das ich gerne sprechen möchte. Ich habe jahrelang kleine Radiosendungen für verschiedene Medien auf Russisch über die Stadt Berlin gemacht. Über Filme, Festivals, Ausstellungen und so weiter. In diesem Format konnte ich etwas darüber erzählen, warum ein bestimmtes Ereignis als Phänomen interessant ist. Da musste nicht offensichtlich „Ich“ stehen, aber es war dennoch extrem subjektiv. Ich kann auch gar nicht anders, ich kann überhaupt keinen normalen Bericht schreiben. Das wollte ich immer lernen – irgendwann objektiv zu sein. Aber das hat nie wirklich geklappt.
LG: Trotzdem kann das ja auch zu einem Stilmerkmal werden. Es ist anscheinend eine Eigenschaft Ihrer Texte.
KP: Ich habe mir auch überlegt, dass ich nicht über mein Schreiben für die Zeitungen in Deutschland sprechen kann, weil ich einfach nicht so viel gemacht habe. Okay, ich habe diese Kolumne bei der FAS seit zweieinhalb Jahren. Da gab es Texte, mit denen ich zufrieden bin und andere, die ich für nicht so gelungen halte. Insgesamt habe ich vielleicht 15 weitere Texte geschrieben, zum Beispiel zwei Rezensionen und drei „Katastrophentexte“, so nenne ich diese Artikel, über Tschernobyl, Babij Jar und den Überfall auf die Sowjetunion. Und auch einen Text über Schalamow, einen der großartigsten Schriftsteller überhaupt, der etwa 20 Jahre im Gulag war. Das ist so spannend. Oder auch einzelne Artikel über die sowjetische Kindheit, ein Porträt über Schostakowitsch; es war immer etwas, das mich bewegt hat. Einzelprojekte, die ich aber nicht als produktiv bezeichnen würde. Eigentlich kann man so nicht leben. Man braucht immer jemanden, der dich unterstützt. Ich denke, das Genre, welches ich bediene, hat etwas mit dem klassischen Feuilleton zu tun, dem Feuilleton der 1920er- und 1930er-Jahre. Es gibt keinen Stoff ohne dieses „Ich“. Dieser Stil wurde verlernt. Bei mir kommt das nicht aus der Schule oder von einer Tradition, sondern von der Unmöglichkeit her, es anders zu machen.
LG: Wie ist es für Sie, dass Sie jetzt als Teilnehmerin zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur eingeladen sind? Dabei spiele ich natürlich darauf an, dass Sie noch nicht sehr lange Deutsch sprechen. Was bedeutet es für Sie persönlich?
KP: Hierher eingeladen zu werden, ist für mich ein großes Geschenk, aber auch eine Skurrilität. Und es ist auch sehr berührend. Es ist Teil meines Vorhabens, beim Schreiben, besonders bei solchen Themen, dass ich meine Geschichte auf Deutsch erzähle. Denn es ist wirklich nicht wichtig, dass es meine Geschichte ist, sondern es ist wichtig, dass sie auf Deutsch existiert. Wenn man auf Russisch schreibt, dann könnte ein Anspruch auf diese Opferrolle entstehen. Es geht um jüdisch-sowjetische Geschichte während der Kriegszeit, und dann ist die Opferrolle in der Sprache impliziert. Wenn du diese Geschichte aber auf Deutsch erzählst, dann entsteht eine Art Entfremdung. Du bist nicht mehr prädestiniert, in der Opferrolle zu sein. Das ist für mich eine Art Öffnung und Rettung. Vielleicht ist es wirklich sehr pathetisch. Aber es ist mir wichtig, denn es ist wie eine Art Versöhnung auf einer anderen Ebene. Nicht durch politische Worte oder durch die Zusammenarbeit von Stiftungen, sondern eine Art Zurückkehren von bestimmten Akteuren. Allein die Tatsache, dass ich auf Deutsch schreibe, ist für mich so eine Unmöglichkeit und immer mit einer enormen Arbeit verbunden. An sich ist es einfach etwas anderes, wenn man hier nicht aufgewachsen ist.
LG: Wie empfinden Sie die mediale Inszenierung des Wettbewerbs?
KP: Es ist überhaupt nicht meine Art, dachte ich. Aber ich habe mich wahnsinnig über die Einladung gefreut. Ich denke, es gibt viele hervorragende deutschsprachige Autoren, die bewusst nicht an solchen Wettbewerben teilnehmen. Sie finden, das ist geschmacklos. Es ist auch vielleicht nicht ganz im Sinne von Ingeborg Bachmann. Dennoch geht es hier nicht nur um Geld oder den Literaturbetrieb, sondern auch um die Herausforderung, sich vor dem Publikum zu präsentieren. Alle haben ganz unterschiedliche Gründe, warum sie dabei sind. Für mich war es sehr merkwürdig. Deutsche Literatur und ich, das ist irgendwie wirklich lächerlich (lacht). Mein Text, den ich hier vorgetragen habe, war eigentlich schon sehr veraltet, und ich habe ihn wieder hervorgeholt. Ich hatte gar keinen Bezug mehr zu diesem Text. Ich habe mir sehr wenig vorher angeschaut, von dem, was hier passiert. Dann kam aber diese Phase, in der ich dachte: Wow, man steht dann da und liest etwas. Ich fühle mich auch immer auf eine Art Mission geschickt, ich weiß nicht welche. Und ich dachte, es ist doch irgendwie eine unglaubliche Situation, dass ich die Geschichte meines Vaters – eine unerzählte, unübersetzbare, unmögliche Geschichte – plötzlich hier vortragen werde. Ich dachte auch, ich werde vielleicht ganz falsch verstanden. Es hätte ja auch so aufgefasst werden können, dass ich hierher komme und die Menschen mit meinen moralischen Geschichten haue. Eigentlich ist es aber genau umgekehrt für mich. Ich sage: Ja, das ist zwar meine Vergangenheit, aber das Wichtigste ist, dass es unsere Geschichte ist.
LG: Wird Sie das Juryurteil in der weiteren Arbeit an Ihrem Roman „Vielleicht Esther“ beeinflussen?
KP: Ich bin eigentlich in einer gefährlichen Situation, weil mein Roman noch nicht fertig ist. Viele, die hier teilnehmen, haben ihren Roman schon abgeschlossen. Ich fühlte mich plötzlich wie in einer Falle. Bei mir ist es so, dass ich mich sehr schwer mit dem Schreiben tue. Manchmal kommt es einfach und manchmal sitzt man drei Monate da und es gibt keine gute Seite. Eigentlich stehen die einzelnen Passagen, aus denen ich den Text für heute zusammengesetzt habe, im Roman getrennt. Es gibt dazwischen zum Beispiel noch einzelne Abschnitte über Babij Jar. Ich habe es sehr überarbeitet. Jetzt weiß ich nicht, wie es weitergehen soll. Ich sehe auch diese Abschweifungen im Text. [Anm. d. Red.: Paul Jandl hatte die Zusammensetzung der einzelnen Versatzstücke als lose kritisiert.] Mein Text pendelt zwischen einer fast publizistischen Erzählweise und einer Art Delirium. Das ist für mich im Moment noch ein sehr wackeliges Gerüst.
LG: Wie wichtig ist es Ihnen, beim Bachmann-Wettbewerb einen Preis zu gewinnen?
KP: Ich brauche zwar Geld, aber ich finde, es wäre mir persönlich zu viel. Wahrscheinlich werden mich viele falsch verstehen und sagen: Diese Frau hatte einen Bonus durch das Thema und für die Öffentlichkeit ist es dann nicht gut, wenn ich diesen Preis bekomme. Es wäre schon nett, irgendeinen der Preise zu gewinnen. Ich habe bei der Lesung die Menschen gesehen und ich weiß, dass es mich berührt hat. Und es ist auch erlaubt, dass diese Geschichte andere Menschen berührt. Daher wäre es schön, etwas zu bekommen. Aber aus ganz vielen Gründen fände ich es nicht okay, wenn ich den Hauptpreis erhalte. Es gibt hier andere Autoren, die meine Favoriten sind. Ich hoffe, dass etwas Stilleres oder Skurrileres den Bachmann-Preis bekommt. Scham spielt da bei mir auch eine Rolle.
LG: War die Arbeitsweise von W. G. Sebald ein Vorbild für Ihren Text?
KP: Sebald ist ein sehr wichtiger Autor für mich. Ich gehe schon in seine Richtung. Er ist so eine große Figur für mich, dass ich ihm kaum entkommen kann. Mir gefällt dieser lange Atem und der Weg ins Nirgendwo. Ich kann mit Fiktion nicht arbeiten. Alles was ich gemacht habe, arbeitet mit einem kleinen Stück der realen Geschichte. Aber ich bin ein kleines Tier im Vergleich mit Menschen, die Literatur machen. Das ist keine Koketterie, sondern es geht darum, dass ich mir das nicht ausgedacht habe. Man kann sagen, dass die eigene Biografie ein Geschenk für die Fantasie ist. Für mich ist das meine Palette.
LG: W. G. Sebald hat ja leider hier beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb nichts gewonnen, aber er war dennoch ein erfolgreicher Schriftsteller.
KP: Gewinnen sagt gar nichts. Verlieren sagt genauso wenig. Es gibt also keine Kriterien. Die Menschen müssen selbst einen Geschmack entwickeln.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen