Kein Trostbuch

Alexander Kluge erzählt „48 Geschichten für Fritz Bauer“

Von Reto RösslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reto Rössler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Krieg ist ein privilegierter Gegenstand der Bücher und Filme Alexander Kluges. Der Krieg, der den Takt politischer Ordnungen ebenso stört wie den Rhythmus individueller Biografien, der bestehende Beziehungen unterbricht und zugleich neue, unvorhersehbare Relationen zwischen Menschen und Dingen herstellt, der daher ebenso neue und eigene Orientierungs-, Unterscheidungs- sowie Kompensationsvermögen erfordert. Solche Wandlungen und Verschiebungen von Erfahrungsräumen lassen sich für Kluge am ehesten in der Vielheit und Heterogenität einzelner ,Lebensläufe‘ literarisch beschreiben.

Die 48 Geschichten dieses schmalen Buches erzählen aus unterschiedlichen Perspektiven von der Verfolgung und Flucht in der Zeit des Nationalsozialismus. Gewidmet ist es Fritz Bauer, dem bereits 1968 verstorbenen hessischen Generalstaatsanwalt, mit dem Kluge in jungen Jahren freundschaftlich verbunden war. Es ist das Verdienst der langjährigen Arbeit Bauers, als Jude während des NS selbst in die Emigration getrieben, dass ab 1963 die insgesamt drei Frankfurter Auschwitzprozesse möglich wurden. Mit ,Auschwitz‘ verbindet sich seit Adornos Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“ bekanntlich ein ästhetisches Darstellungsproblem, an dem sich der Adorno-Schüler Kluge seit seinen ersten Veröffentlichungen hinsichtlich der Suche nach einer nicht-illusionistischen Poetik authentischer Erfahrung abarbeitet.

Der Titel dieses jüngsten Buches – ein Teilzitat eines Mottos des Kunsttheoretikers und Avantgardekünstlers Bazon Brock – hat programmatischen Charakter und lässt sich ebenfalls als ein solcher Antwortversuch lesen. Viele der hierin erzählten Geschichten berühren ein Grundthema Kluges: die ,Macht‘ starker Gefühle. Sie erzählen von Gefühlen der Trauer, Not und Verzweiflung, die in höchster Intensität alle Handlungsmacht lahmlegen, aber ebenso von der Beharrlichkeit und Widerspenstigkeit eines Willens, der sich, angetrieben durch jenes starke Gefühl der Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang, zu behaupten versucht. Eine solche Rettung ereignet sich in einigen wenigen Geschichten tatsächlich, nicht aber gibt es – das wird in diesen ebenso deutlich – ein rettendes Prinzip der Geschichte. Als Schicksalsmächte erweisen sich hier vielmehr Konstellationen von Ereignissen. Es sind glückliche und unglückliche Umstände, die entscheiden und die keinen Zweifel darüber lassen: Dieses Buch ist kein Trostbuch.

Gleich die erste Geschichte „Durch einen ungewöhnlichen Zufall in Luft aufgelöst wie ein Gas“ beschreibt eine Verkettung günstiger, aber in ihrer Kombination letztlich zufälliger Ereignisse – die Benötigung freier Waggons für Nachschublieferungen an die Ostfront, eine Reihe fehlerhafter Kommunikationen bei der „Umladung“ der Gefangenen – die einer Gruppe von insgesamt 977 Personen auf halber Strecke, an einer Haltestation, die Flucht ermöglicht und sie so vor der Deportation nach Auschwitz bewahrt. Eine umgekehrte Konstellation stellt dagegen der Bericht über den Fall des Präsidenten des jüdischen Konsortiums in Frankreich und Pétain-Gefährten Jacques Hellbronner dar, der trotz bester Kontakte und eines Handlungszeitraums von 23 Tagen – so legt der Erzählerkommentar nahe – infolge von Unentschlossenheiten gleich mehrerer Beteiligter deportiert und vergast wurde.

Die von Kluges Film- und Fernsehproduktionen her bekannten Verfahren der Intertextualität beziehungsweise Intermedialität und der Montage bilden auch hier zentrale Konstruktions- und Darstellungsprinzipien. So etwa die Anordnung der einzelnen Geschichten, die zum einen syntagmatisch über einzelne, teils nebensächlich erscheinende Erzählelemente miteinander lose verbunden sind und die sich zum anderen paradigmatisch zu rekursiven thematischen Schleifen und Serien fügen. Auf der Mikroebene der Einzelgeschichten werden schließlich historische Dokumente – zugleich heterogene Textsorten: Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsberichte, Statistiken und Medizinische Gutachten – gekonnt mit fiktionalen Erzählelementen verschaltet.

Literarisches Schreiben bedeutet für Kluge – wie für seine literarischen Vorläufer Alfred Döblin und Walter Benjamin – zuallererst das Sammeln und Zusammenstellen von Einzelmaterialien und Einzelfällen, wie sie die Wirklichkeit bereitstellt. Diesem Wirklichkeits- und Authentizitätsmodus korrespondiert eine Erzählhaltung, die man – wiederum mit Döblin – als „steinernen Stil“ bezeichnen könnte. Im emotionslosen sachlich-nüchternen Blick von außen handelt es sich weniger um Erzählungen im eigentlichen Sinne, als vielmehr um Beschreibungen von Abläufen und Ereignisketten. Aber zugleich wird dieses Pathos der Distanz – auch das kennt man von Döblin und Benjamin – immer wieder von einer epischen Erzählstimme durchbrochen – so etwa im Falle der unterbliebenen Rettung Jacques Hellbronners: „Rätselhaft, daß nichts geschah. Es hätte genügt, die Helbronners nach Theresienstadt statt nach Auschwitz zu schicken. Leo Baeck, Paul Epstein, David Cohen, Abraham Asscher, Zvi Koretz wurden nach Theresienstadt oder Bergen-Belsen deportiert, die meisten von ihnen überlebten.“

Derartige epische Kommentierungen, vielfach zu einem Minimum hin verdichtet, wie auch die prägnanten, oft moritatenhaften Titel der Geschichten, stellen Relationen zwischen den Texten her und lösen zugleich die Faktizität des Materials auf, indem sie auf die Möglichkeit seines prinzipiellen Anders-Sein-Könnens hinweisen. Es zeigt sich deutlich: Keines dieser Ereignisse ist mit Notwendigkeit erfolgt, sie alle – ob historisch belegt oder fingiert – erzählen sich selbst als kontingente Geschichten.

Innerhalb dieses konstellativ erzeugten Möglichkeitsraums der Geschichte lassen sich zwei einander antagonistisch entgegenstehende Themenschleifen ausmachen, die man unter dem gemeinsamen Nenner „Orientierungstechniken in Zeiten des Krieges“ zusammenfassen könnte. Auf der einen Seite finden sich Geschichten, die von den bürokratischen, wissenschaftlich-statistischen, technisch-architektonischen wie auch sprachlich-terminologischen Praktiken erzählen, die die Organisation und Planung von Abläufen und nicht zuletzt die Regulation und Kalkulation zufälliger und unvorhersehbarer Ereignisse möglich machten. Massenerschießungen von KZ-Häftlingen, im Akkord durchgeführt und mit betrieblicher Genauigkeit getaktet oder etwa die schriftliche Anfrage des Krakauer Instituts für Rasse- und Volkstumskunde um die zeitweilige Schonung des rapide abnehmenden „Untersuchungsmaterials“ beschreiben an konkreten Einzelfällen die Handlungsmacht, die aus der Herstellung scheinbar objektiver Tatsachen resultiert, wenn sich durch sie Formen des Mitgefühls in menschliche Gleichgültigkeit verwandeln.

Dieser objektiven Ein- und Zurichtung der Welt, im Massenmord endend, kontrastiert andererseits eine Serie subjektiver Orientierungstechniken, vermittelt durch Gefühle. Intensive Gefühle bilden in unübersichtlicher Lage nicht nur notwendige Unterscheidungsvermögen. Sie sind zugleich auch primäres Vermögen der Selbstbehauptung – entgegen ungünstiger Umstände. Da ist etwa die Geschichte der Flucht einer wohlhabenden sephardischen Kaufmannsfamilie des Jahres 1492 vor den katholischen Häschern. In einer Verkettung von Ausweglosigkeiten – der Verfolgung über mehrere Länder hinweg, dem Verlust des Vermögens, der Gefangennahme durch einen Piratenkapitän – vermag es hier allein ein rabiater Wille der „klugen Tochter“, die ungünstige Lage in eine günstige zu verwandeln und schließlich die Rettung der Familie zu bewirken.

Gleichzeitig erweisen sich Gefühle bei Kluge allerdings als moralisch indifferent. Dies zeigt in einer der Geschichten etwa der Bericht von einer interdisziplinären Konferenz an der Columbia University des Jahres 2012 zum Thema „Betriebsmanagement und Zeitgeschichte“, auf der ein Ereignis des Jahres 1943 aufgerollt wurde, bei dem eine Gruppe von nur 25 entschlossen auftretenden SA-Männern, entgegen bereits getroffener „Schutzabkommen“, die Verhaftung von 1.259 römischen Juden durchsetzen konnte. Der energische Wille einer kleinen Gruppe, potenziert durch die „Energie einer Befehlskette“, so der Konsens der Forschergruppe um Anselm Haverkamp, wirkte hier zerstörerisch.

Die primäre Darstellungs- und Ausdrucksform starker Gefühle, die in dieser für sich ebenso praktisch werden können, ist für Kluge die Kunst: die Oper, der Film und ebenso die Literatur. In den „Frankfurter Poetikvorlesungen“ von 2012 hat Kluge die Verhältnisse von Wirklichkeit und Fiktion, aber auch von Theorie und Praxis – durchaus im Geist der Frühromantik – nicht als Trennungs-, sondern als Wechsel- und Vermittlungsverhältnisse beschrieben. Poesie = (verdichtetes) Gefühl = Denken = Theorie = Praxis. Das kann man – am Ort alter Wirkungsstätte – wohl abermals als wohlwollende Antwort des Schülers an seinen Lehrer verstehen. „Der Tod muss abgeschafft werden, diese Schweinerei muß aufhören…“ – so lautet der erste Teil des titelgebenden Brock-Mottos. Der Dichter kann das nicht, aber er kann durchaus – konstellativ, dokumentarisch und aus der Authentizität originärer Erfahrung heraus – darüber erzählen. Keine Trostgeschichten. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter.

Titelbild

Alexander Kluge: "Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter". 48 Geschichten für Fritz Bauer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
118 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423509

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