Reguläre Kriegsbeute

Erich Mühsams Tagebuchhefte der Jahre 1911 bis 1914 sind erschienen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erich Mühsam, der große Antimilitarist – ein Kriegsgewinnler? Nach der Lektüre seiner Tagebuchhefte von 1914 muss man sagen: zumindest in Sachen Sex. Beispiel Asta Schmidt: Lange hat die 17-jährige Verkäuferin in einem Münchner Zigarrengeschäft den Avancen des Anarchisten widerstanden, plötzlich, am 17. September, spricht sie Mühsam von sich aus an – um kurz darauf, wie ausgemacht, an seine Zimmertür zu klopfen. Nach dem Grund für ihren Sinneswandel gefragt, gibt ihm das „fast noch halbwüchsige Mädel […] die naive ehrliche Antwort […]: ‚Die Männer sind jetzt so dünn gesät.‘ Also reguläre Kriegsbeute. Aber süß, – ganz süß.“

Dieser Erich Mühsam, der sich der Nachwelt im Spiegel seines erstmals vollständig publizierten Diariums präsentiert, war bislang unbekannt. Mit der stilisierten Rückschau in seinen „Unpolitischen Erinnerungen“ von 1927 hat der gelebte Anarchismus, den er in seinen Heften ungeschminkt offenbart, wenig gemein. „Mein Leben ist so mannigfach, meine Beziehungen sind so zahlreich, meine Bilder gehen so schnell vorüber, daß das, was andern ein dauerndes Erlebnis bliebe, an mir abgleitet und verloren ginge, schriebe ichs nicht gleich auf.“

In der Rolle eines begierig lauschenden Komplizen erfährt das Tagebuch von all den „Episoden und Abenteuerchen“ des Dichters und Dramatikers, immer ganz nah am Hier und Jetzt („Jetzt erwarte ich Lotte – wollte ich schreiben, da trat sie ein.“). Und ebenso von seinen Illusionen und Lebenslügen – jedenfalls bis zu dem Moment, als selbst für Erich Mühsam der Blick in den Spiegel zu schmerzhaft wurde.

Die von Chris Hirte und Conrad Piens besorgte Gesamtausgabe schreitet planmäßig voran, mittlerweile liegen die Bände 2 und 3 für die Jahre 1911 bis 1914 vor. Längst hat sich Mühsam als Dichter und Anarchist einen Namen gemacht, Heinrich Mann lobt seine Monatsschrift „Kain“ 1912 als „die wertvollste Zeitschrift, die existiert“. Wenn er nicht gerade im Café Stephanie Frank Wedekind, Franz Blei, Otto Gross oder den jungen D. H. Lawrence trifft, frönt Mühsam seiner Spielsucht oder wartet in seiner Pension nervös auf diverse Peppis, Friedas und Maxis. Nicht nur der Leser, auch das „bärtige Ungeheuer“ selbst verliert bald den Überblick, schon wegen seiner Marotte, „jede Frau willkürlich mit irgendeinem Vornamen anzusprechen, was dann zur Folge hat, daß mich die Weiber mit falschen Namensangaben frozzeln.“

Übermächtig ist indes inzwischen seine Sehnsucht, „mein Schicksal dauernd mit dem eines sehr geliebten Weibes (zu) vereinigen“, sprich zu heiraten – ein überraschend bürgerlich anmutendes Bedürfnis. Auf seiner Suche nach der Einen spielen Mühsam ein ums andere Mal seine Wunschträume einen Streich. Margot Jung etwa, die Ehefrau des Expressionisten Franz Jung, nutzt Mühsams Helfersyndrom gnadenlos aus und verspottet ihn noch hinter seinem Rücken im Caféhaus. Erst Jenny Brünn vermag ihn von dieser Amour fou zu kurieren.

Mit der jungen Anarchistin, und, nicht minder wichtig, Tochter eines jüdischen Bankiers, scheint er endlich die richtige Kandidatin gefunden zu haben. Der Verächter aller Konvention ist sogar bereit, sich den Bräuchen einer traditionellen jüdischen Hochzeit zu fügen – schließlich würden seine und Jennys Eltern von nun an ihr Leben finanzieren, wie er seiner Verlobten erläutert: „Daß ich sie liebe, sei eine Sache für sich. Die Heirat, die reine Formsache sei, wünsche ich im Interesse eines freieren Lebens, es würde eine eigentliche Geldheirat sein.“

Doch ist auch dieser Traum, den „Dalles“, die ewige Geldnot, endlich los zu sein, schnell zerplatzt. Vor allem, dass sein Vater erwartet, der Sohn solle zuerst auf eigenen Füßen stehen lernen, empört ihn – zwinge er ihn damit doch, seinem Erzeuger auch künftig ein baldiges Ende zu wünschen. „Mögen spätere Leser dieser Blätter diese Empfindung für Rohheit halten. Ich weiß, daß die Ehrlichkeit, mit der ich sie ins Bewußtsein hole, anständig ist.“ Dass seine Verlobte bereit wäre, zur Not auch gegen den Willen der Eltern zusammen zu leben, führt jedoch zum deprimierten Abbruch der Aufzeichnungen. Das bequeme Selbstbild, Opfer seines Vaters zu sein, aufzugeben, ist Mühsam nicht bereit; alle Lebenslügen und blinden Flecke kann halt auch er sich nicht eingestehen.

Erst zwanzig Monate später, in der Nacht vom 3. auf den 4. August 1914, holt er das Heft wieder hervor. An der unentschiedenen Situation mit Jenny hat sich zwar nichts geändert. Aber sonst ist freilich nichts mehr, wie es war. Der Kriegsausbruch stürzt Mühsam in eine geistige Krise; das Tagebuch wird zum Ort, an dem er um Orientierung ringt – und zum Ventil für all die Gedanken, die der zunehmend Vereinsamende öffentlich nicht mehr aussprechen kann. Treffend nennen die Herausgeber Mühsams Aufzeichnungen eine in ihrer Subjektivität und ihrem Detailreichtum einmalige „Weltkriegschronik“, die den Leser das Gefühlschaos dieser Zeit nacherleben lässt.

Vor allem die Sorge um seine Verlobte in der von der russischen Armee besetzten Stadt Eydtkuhnen stiftet in seinem Denken Verwirrung: „Und – ich, der Anarchist, der Antimilitarist, der Feind der nationalen Phrase, der Antipatriot und hassende Kritiker der Rüstungsfurie, ich ertappe mich irgendwie ergriffen von dem allgemeinen Taumel, entfacht von zorniger Leidenschaft, wenn auch nicht gegen etwelche ‚Feinde‘, aber erfüllt von dem glühend heißen Wunsch, daß ‚wir‘ uns vor ihnen retten! Nur: wer sind sie – wer ist ‚wir‘?“

Bis Mühsam gedanklich wieder auf festem Grund steht, vergehen Monate – Monate, in denen er im wilden Wechsel mal den einseitigen Hurra-Patriotismus der deutschen Zeitungen geißelt, mal die Zerstörungskraft der deutschen Waffen als „fabelhaft“ feiert und mal angesichts seiner immer unzuverlässigeren Potenz verzweifelt. Sein Angebot, in einer Apotheke zu arbeiten – immerhin hat er eine Apothekerlehre absolviert –, wird abgelehnt, offenbar aus Angst, er könnte Leute vergiften: „Dazu plagt man sich über drei Jahre, den Leuten Menschlichkeit zu predigen, damit sie einen selbst – und grade wegen dieser Mühe – für einen Verbrecher halten. Mein Trost ist, daß es Tolstoj jedenfalls ebenso ergangen wäre, und Jesus Christus erst recht.“

Titelbild

Erich Mühsam: Tagebücher. Band 2. 1911-1912.
Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens.
Verbrecher Verlag, Berlin 2012.
375 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426789

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Titelbild

Erich Mühsam: Tagebücher. Band 3. 1912-1914.
Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens.
Verbrecher Verlag, Berlin 2012.
390 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426796

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