Königstochter, jüngste, mach mir auf

Endlich: Nach 14 Jahren setzt Klaus Theweleit seinen „Pocahontas“-Zyklus fort

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war noch im alten Jahrtausend und der Bundeskanzler hieß Gerhard Schröder, als Klaus Theweleit mit einem Doppelschlag einen neuen Zyklus von Untersuchungen eröffnete. Nach den „Männerphantasien“ (2 Bände) und dem „Buch der Könige“ (bisher ebenfalls 2 Bände) arbeitete er nun an einem Komplex, der sich um die Indianer-„Prinzessin“ Pocahontas gruppierte. Bei der ersten Ansiedlung der Briten in Virginia ab 1607, so geht die Geschichte im Allgemeinen, wurde einer ihrer Anführer namens John Smith von der Tochter des Indianerhäuptlings Powhatan vor der Hinrichtung bewahrt – weil sie ihn liebte. Später reiste der verletzte Smith nach London zurück. Pocahontas glaubte, er sei gestorben, ließ sich taufen und nahm den Namen Rebecca an, heiratete den Tabakpflanzer John Rolfe, hatte ein Kind mit ihm, reiste nach England, begegnete dort Smith wieder, tief bewegt, und starb während der Abreise.

Sie liegt in Gravesend begraben, nahe der Themsemündung. Das hätte eine von vielen Episoden der Kolonialgeschichte sein können, wenn nicht aus der Kolonie Virginia die Keimzelle der heutigen USA geworden wäre. Selbst die Puritaner, die auf Plymouth Rock landeten und Massachusetts gründeten, waren eigentlich nur auf dem Weg dorthin. Man kann hinter viele, ja fast alle Details der Pocahontas-Erzählung ein Fragezeichen setzen, aber sie ist bis heute einer der zentralen Gründungsmythen des Landes. Theweleit nimmt den Mythos als Ausgangspunkt seiner weit ausgreifenden, assoziativen Untersuchung, in der sich mehrere Cluster ineinander schieben: Da wäre die Frage nach dem Grund des Sieges der Weißen über die Native Americans auf dem ganzen Kontinent, trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit; die Frage der US-amerikanischen Nationalidentität; die Frage, warum so viele Indianer und vor allem Königs- oder Häuptlingstöchter mit den Invasoren kooperiert haben.

Dass ausgerechnet Theweleit zu diesem Thema schreibt, ist keine Überraschung. Bereits seit den „Männerphantasien“ feiert er Amerika als Herkunftsort einer kulturellen Befreiung, vor allem seine Popmusik und sein Kino. 1942 geboren, ist er Teil einer Generation, die dies in den 1950er- und 1960er-Jahren genauso erlebt hat. Damit hat er manches klarer gesehen als Anhänger jenes Antiamerikanismus, der seinen bisher letzten Boom in Deutschland mit dem Protest gegen den Irakkrieg von 2003 erlebte, aber gern Phrasen und Bilder benutzte, die man Wort für Wort in verstaubten Traktaten aus der Weimarer Republik finden kann. Und dass so ein Projekt in Deutschland entsteht, ist erst recht kein Zufall, denn wo sonst in Europa hat – dank Karl May – der Mythos von der „edlen Rothaut“ so sehr Wurzeln geschlagen? (Ich habe Angehörige der kanadischen First Nations lachen sehen, als ich ihnen die Handlung von „Winnetou I“ erzählte.)

Anfang und Ende dieses Pocahontas-Zyklus ließ Theweleit 1999 erscheinen. Im ersten Band „Pocahontas in Wonderland (Po)“ erzählte er die eigentliche Geschichte von Pocahontas und behandelte ihre Rolle als Gründungsnarrativ der USA. Ein großer Teil dieses Bandes behandelte aber auch das erste Echo der Kolonie Virginia in der europäischen Literatur, William Shakespeares letztes Stück „The Tempest“. Frank Kermode machte 1958 als einer der ersten darauf aufmerksam, dass anhand des „Monstrums“ Caliban und seines kolonialen Beherrschers Prospero, das Schicksal der um 1610 äußerst gefährdeten Kolonie Virginia behandelt wird. Spätestens mit Stephen Greenblatts „Shakespearean Negotiations“ (1988) setzte dann ein regelrechter Boom postkolonialer Studien zum Stück ein, der sich bis in den Beginn des neuen Jahrtausends zog. Theweleit war also keineswegs der erste, der auf diese Verbindung stieß, aber derjenige, der sie im deutschsprachigen Raum bekannt machte. Den vierten Band „You Give Me Fever (Tas)“ bildete das close reading von Arno Schmidts 1953 erschienener Erzählung „Seelandschaft mit Pocahontas“. Auf der Handlungsebene passiert dort nicht mehr als eine Urlaubsromanze am Dümmer, einem norddeutschen See zwischen Bremen und Osnabrück. Nur nennt Ich-Erzähler Joachim Bomann die von ihm geliebte Selma Wientge „Pocahontas“, was bei genauer Lektüre ein ganzes Netzwerk von Assoziationen und Anspielungen von John Smith bis James Fenimore Cooper freisetzt. Theweleit feiert in „Seelandschaft mit Pocahontas“ nicht weniger als ein Manifest der sexuellen Befreiung im westlichen Nachkriegsdeutschland unter amerikanischen Vorzeichen, Utopie einer wirklichen Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, auch wenn die absolute Liebe bei Schmidt nur wenige Tage Bestand hat. Demnach war es kein Wunder, dass Schmidt ausgerechnet aufgrund dieses Textes wegen Pornografie und Gotteslästerung angeklagt wurde (und freigesprochen, aber nur aufgrund der Tatsache, dass es sich hochoffiziell um ein Kunstwerk handelte).

Ein vielversprechender Anfang also, aber dann passierte vierzehn Jahre lang – nichts. Das heißt, es erschienen in regelmäßigen Abständen Bücher des Autors, aber kein neuer Band zu den „großen“ Zyklen, weder zum „Buch der Könige“, dessen erster Band nun auch schon 25 Jahre zurückliegt, noch zu „Pocahontas“. Erst seit diesem Frühjahr liegt nun das „Buch der Königstöchter (Ca)“ vor, das – so suggeriert es der Titel – ein Bindeglied zwischen den beiden Clustern bilden könnte. In seinem Nachwort erklärt Theweleit die lange Pause mit einer zehnjährigen Professur in Karlsruhe, die ihm vom konzentrierten Schreiben abgehalten habe. Der Kern dieses neuen Bandes scheint erst einmal weit weg von Pocahontas zu führen, nämlich in die griechische Antike. Vor allem anhand der Figur der kolchischen Königstochter Medea, die zum griechischen Helden Iason und seinen Argonauten überläuft und ihnen das Goldene Vlies verschafft – nur um später von dem von ihr geliebten Heros verlassen zu werden.

Hier, so Theweleit, wird der Urtypus einer bestimmten Art griechischer Mythen erzählt, für den auch Alkmene, Leda und viele andere stehen: Griechischer Mann göttlicher Herkunft schwängert einheimische Königstochter und legitimiert damit seine Herrschaft über das jeweilige Territorium. In den Mythen würde sich demnach die reale Landnahme der indogermanischen Einwanderer vor etwa 3.500 Jahren spiegeln. Die literarischen Zeugnisse, selbst bei Homer und Hesiod, mit denen die überlieferte griechische Literatur beginnt, wären nur spätere Widerspiegelungen. Das heißt nicht, dass die Erzählung immer die gleiche bliebe. Theweleit macht erhebliche Akzentverschiebungen zwischen den verschiedenen Medea-Versionen von Euripides, Ovid oder Seneca aus, die jeweils vom politischen und sozialen Kontext aus zu lesen sind. In diesem Licht ist auch Vergils „Aeneis“ vor allem ein Medea-Remix: Der aus Troja geflüchtete Aeneas darf die karthagische Königstochter nach dem Willen der Götter gerade nicht schwängern. Erstens muss er sich später in Latium niederlassen, wo seine Nachkommen Romulus und Remus den Kern des späteren „Imperium Romanum“ gründen müssen, und zweitens muss die Verbindung zwischen Rom und seinem früheren Erzfeind Karthago als unmöglich erscheinen: Eine Herrschaftserzählung für Kaiser Augustus, poetische Legimitation der bisherigen römischen Geschichte.

So weit, so überzeugend. Ungewöhnlich ist aber der Versuch, dieses Modell auf die Neue Welt zu übertragen, auch wenn Theweleit es mit Pocahontas und der Aztekin Malinche versucht, Dolmetscherin für Hernan Cortés bei der Eroberung Mexikos. Mit guten Argumenten versuchen die Postcolonial Studies sich von eurozentrischen Erzählungen fernzuhalten: Bedeutet die Übertragung europäischer Mythen nicht, die Eigenwertigkeit zu verkennen, die den kolonisierten Kulturen zukäme? Aus heutiger Sicht trifft das sicher zu. Die Vertreter dieses Arguments verkennen aber, dass die Eroberer mit genau diesen Vorstellungen im Kopf in der Neuen Welt eintrafen, und ihre Wahrnehmung des Unbekannten vor allem mit Hilfe der biblischen und antiken Erzählungen strukturierten. Das führte etwa dazu, dass frühe Reisebeschreibungen noch über hundert Jahre lang von Fabelwesen wimmelten, die Sir John Mandeville, ein fiktiver Reisender des 14. Jahrhunderts, für Asien beschreibt, obwohl man seit Vespucci wusste, dass es sich nicht um Indien, sondern um eine bisher völlig unbekannte Landmasse handelte. Aus Sicht der ersten englischen Siedler konnten Pocahontas und Medea durchaus noch beieinander liegen. Auch Shakespeares Stück überblendet ja mühelos Karthago, Virginia und Roanoke Island vor der Küste des heutigen North Carolina, wo Ende des 16. Jahrhunderts eine ganze englische Siedlergruppe spurlos verschwand, von den Native Americans getötet oder Teil ihres Stammes geworden.

Wie immer liest und schreibt Theweleit assoziativ, nicht an die Regeln der philologischen Zunft gebunden. Das entfaltet seine hypnotische Wirkung, wie schon in anderen Bänden aus seiner Tastatur. Trotzdem wirkt das „Buch der Königstöchter“ an manchen Stellen disparat. Denn hier werden nicht nur antike Mythen und ihre Auswirkungen auf die Kolonisation Amerikas behandelt, sondern auch neue, aus Perspektive der Native Americans geschriebene Korrekturen der traditionellen Pocahontas-Erzählung, und ausführlich wird die Rolle Malinches beim Sieg über Moctezuma gewürdigt. Virtuos ist das Ende des Bandes, in dem Theweleit James Camerons „Avatar“ (2009), den bisher erfolgreichsten Film der Geschichte behandelt, und in ihm – eigentlich wenig überraschend – eine Adaptation der Pocahontas-Erzählung entdeckt. Auch hier die Romanze zwischen der Prinzessin Neytiri, statt nur blaublütig sogar blauhäutig, und dem edlen „amerikanischen“ Überläufer Jake Sully, der sogar die Initialen mit John Smith teilt. Nur handelt es sich um die Kritik, die Umkehrung, denn die amerikanische Figur wechselt das Lager und hilft, die Kolonisten vom Planeten Pandora fernzuhalten. Besonders luzide ist Theweleits Beobachtung, dass der Film einen gigantischen Widerspruch enthält: Einerseits feiert er in Camerons überwältigend schönen, von Roger Deans Albumcovern inspirierten Landschaften naiv den Mythos des Edlen Wilden gegen eine „böse“ technische Zivilisation. Andererseits verhüllen die atemberaubenden Bilder, dass Cameron sie mit Hilfe eben derselben Technologie hervorgebracht hat, die die Voraussetzung heutiger militärischer und neokolonialer Unternehmungen ist.

Das ist treffend beobachtet und für sich genommen überzeugend, aber manchmal hat man – wo wir schon bei Filmen sind – bei der Lektüre nur dieses Bandes das Gefühl, den Mittelteil einer monumentalen Blockbuster-Trilogie vor sich zu haben: In der ersten Einstellung kommen die Helden von links ins Bild, in der letzten wandern sie rechts wieder hinaus, und die Hälfte aller Zusammenhänge bleibt verschwommen. Liest man das Buch aber im Kontext der Tetralogie, wird klar, dass es dafür zwei Gründe gibt. Zum einen steht im Mittelpunkt tatsächlich nicht so sehr eine Erzählung, sondern der beschriebene Cluster von Themen: Amerika, Kolonialisierung, Geschlechterverhältnisse und Fragen der kulturellen „Überlegenheit“. Zum anderen ist das „Buch der Königstöchter“ bis zu einem gewissen Grad immer schon auf den ersten Band „Pocahontas in Wonderland“ bezogen, den es ausformuliert und erläutert. Und andersherum erhellt sich das „Buch der Königstöchter“ durch die Lektüre des ersten Bandes. Leider ist er derzeit vergriffen, aber Stroemfeld kündigt dankenswerterweise eine Neuauflage an.

Eigentlich fehlt im Bild, wenn Theweleit schon immer wieder auf Neil Youngs Song „Pocahontas“ (1979) anspielt, dessen episches „Cortez the Killer“ (1975), in dem er das Aztekenreich vor Ankunft der Spanier als verlorenes Paradies beschwört. Aber vielleicht kommt das ja noch in „Hon“ an die Reihe. Man darf gespannt sein auf den vierten Band, der für 2014 angekündigt ist, und der sich vor allem mit gängigen Kolonialismustheorien auseinandersetzen soll. Halten Autor und Verlag diesen Termin ein, es wäre Anlass für ein Fest.

Titelbild

Klaus Theweleit: Buch der Königstöchter. Von Göttermännern und Menschenfrauen; Mythenbildung, vorhomerisch, amerikanisch.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2012.
736 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783878777526

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch