Die Welt auf der Jagd nach der Fußballgöttin

Mit seinem Roman „Die Trophäe“ schreibt Fabio Stassi lateinamerikanisch-europäische Fußballgeschichte – und erzählt nebenbei das 20. Jahrhundert

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist der 31. Dezember 1999. Rigoberto Aguyar Montiel sitzt in der Amundsen-Scott-Station am Südpol, ihm gegenüber eine Reporterin. Bei sich hat er die Coupe Jules-Rimet, jenen legendären Weltpokal, den es seit 1930 bei Fußballweltmeisterschaften zu gewinnen galt und den diejenige Nationalmannschaft für immer sollte behalten dürfen, die ihn dreimal zu gewinnen vermochte. 1970 war es soweit: Brasilien wurde zum dritten Mal Weltmeister und die Trophäe kam zum brasilianischen Fußballverband. 13 Jahre später war sie gestohlen, diese Statue aus vergoldetem Silber, die einer die Arme ausbreitenden Frau mit Flügeln nachgebildet war, gestohlen aus einer Vitrine in Rio. Der offiziellen Version nach sollen die Diebe die Diosa, die Göttin, eingeschmolzen haben – aber wie es mit offiziellen Versionen so ist: sie sind unspektakulär und erzählen selten die Wahrheit. Manchmal muss man die offizielle Version „auf den Kopf stellen, um ihrem Kern und der Wahrheit auf die Spur zu kommen“, erklärt uns Rigoberto schließlich. Die inoffizielle Version ist es nämlich, die die Reporterin wissen will und diese inoffizielle Version ist die Geschichte von Rigoberto, die Geschichte von Rigobertos Leben und seiner 53 Jahre währenden Jagd auf die Göttin.

Fabio Stassi, italienischer Romancier, hat die Geschichte von Rigoberto geschrieben, „Die Trophäe“ heißt sein Roman im Deutschen, der schon 2010 – pünktlich zur inzwischen weithin vergessenen WM – erschienen ist, in Italien unter dem Titel „È finito il nostro carnevale“ („Unser Karneval ist vorüber“) bereits 2007, kurz nach dem Sommermärchen also. Stassi, 1962 auf Sizilien geboren, ist hauptberuflich Bibliothekar und schreibt nebenberuflich. Vier Romane hat er bisher in Italien veröffentlicht, sein jüngster ist „L’ultimo ballo di Charlot“ („Der letzte Tanz von Charlie“), ein schöner Roman über Charlie Chaplin, der im Herbst auch auf Deutsch erscheinen wird. „Die Trophäe“ ist sein zweiter Roman, zu einiger Berühmtheit ist er in Italien jedoch erst mit dem 2008 erschienenen „La rivincita di Capablanca“ („Die Revanche von Capablanca“), ins Deutsche übersetzt schon 2009 als „Die letzte Partie“, einem Schachroman, gekommen, der ihm mit dem Premio Palmi (renommiertester Literaturpreis Kalabriens) und dem Premio Coni immerhin zwei Literaturpreise einbrachte.

Mit „Der Trophäe“ nun widmet sich Stassi der Geschichte der Göttin, der Diosa, dem legendären Weltpokal, um dessen Verbleib sich in der Tat bis heute Legenden ranken. Rigoberto, sein Protagonist, ist besessen von dem Pokal – ist er doch ein genaues Abbild von seiner einstmaligen Geliebten Consuelo. Consuelo, Andalusierin, ist Kartenabreißerin in einem Kino irgendwo im Paris der Zwanzigerjahre, wo Rigoberto sie kennenlernt. Er führt sie aus, ein ganzes Monatsgehalt gibt er aus für einen flüchtigen Kuss zum Abschied, um am nächsten Tag zu erfahren, dass sie, kaum hat er sie nach Hause gebracht, mit irgendeinem Kleinkriminellen im Bett gelandet ist. Und überhaupt ständig mit allen Männern in ihrer Umgebung im Bett landet – ganz anders also, als man sich eine Göttin zunächst vorstellt. Unnahbar bleibt sie nur für Rigoberto – und für Ernest Hemingway, für den sie nebenbei die Muse spielt: sie muss nur neben ihm im Café sitzen und still sein. Hemingway ist ein Bekannter Rigobertos und er macht ihn eindringlich darauf aufmerksam, dass die perfekte Frau ohnehin nur Ärger bringe, weshalb er sie in Gottes Namen vergessen solle!

Doch Rigoberto kann nicht. Denn plötzlich ist sie verschwunden, ohne ein Wort, einfach verschwunden. Mittags hatte sie noch dem jungen Lehrling Tristan Valmont (der Literaturkenner darf ruhig an den Verführer aus Laclos’ „Gefährlichen Liebschaften“ denken) aus der Goldschmiede Abel Lafleurs für einen Auftrag des Franzosen Jules Rimet, der einen Fußball-Weltpokal ins Leben rufen wollte und dafür eine Trophäe brauchte, Modell gestanden, und nun war sie einfach verschwunden. Rigoberto ist in heller Panik, auch der eilig herbeigerufene Inspektor Jules Maigret (der Literaturkenner muss immerhin ihn erkennen: als leicht unterkühlten Ermittler aus den Kriminalromanen von Georges Simenon) vermag kaum Licht ins Dunkel zu bringen: lediglich die Kleider der Flüchtigen werden gefunden im Atelier Valmonts, wo drei menschengroße Schmelzöfen noch warm sind und eine Badewanne mit erkaltetem Wasser in der Ecke steht. Als Rigoberto Consuelo wiedersieht, ist sie für die Welt das, was sie für ihn immer war: die Diosa. Aus Consuelo ist die Coupe Jules-Rimet geworden.

Für die Liebe seines Lebens reist Rigoberto nun dem Pokal nach, zu sämtlichen Weltmeisterschaftsturnieren zwischen 1930 und 1970, zu sämtlichen Weltmeistern, besessen davon, die Göttin eines Tages endlich rauben zu können. Seine Reisen führen ihn nach Brasilien, Spanien, Italien, Chile, Uruguay, Kuba, Mexiko, Frankreich, England, Russland, heimatlos fährt er von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent. „Ausländer“, sagt er, „hat für mich keine Bedeutung.“ Rigoberto ist der Migrant, der nirgendwo zuhause ist. Der Grund dafür ist jedoch nicht allein die Göttin, der eigentliche Grund ist seine Familie: „Im Laufe von zwei Jahrhunderten waren in meiner Familie mindestens elf verschiedene Sprachen, fünf Religionen, fünf Revolutionen, vier Kontinente, drei Inseln und vierzehn Emigrationen im Spiel.“ Sein Vater ist Brasilianer, seine Mutter aus Marseille, dazwischen liegt die Welt. Immer wieder zieht es Rigoberto indes nach Südamerika zurück, Brasilien ist das einzige Land, das ihn nicht als Ausländer behandelt, zumindest solange, bis die Militärjunta die Macht übernimmt und mit Mischlingen nicht mehr viel anfangen kann.

Die Göttin also sorgt keineswegs für eine Selbstentfremdung Rigobertos, indem sie ihn um die Welt hetzt, sondern sie bringt ihn zu sich selbst, sie lässt ihn sich selbst als Fluchtpunkte jener Geschichten seiner Familie erkennen, die in ihm wie in einem Brennglas zusammenlaufen. Und natürlich, überall dort, wo er ist, brennt es. Er nimmt am Spanischen Bürgerkrieg teil und trifft Eric Blair (George Orwell), ist dabei, als die Faschisten in Italien ihre Macht zelebrieren, er begegnet Hitler und später Charlie Chaplin, er kämpft mit Che Guevara, er hört Yves Montand zum ersten Mal „Les feuilles mortes“ intonieren, als kleiner 13-jähriger Junge. Und all dies tut er, weil er als Sportreporter, als der er sich ausgeben muss, dem Fußball und seinem größten Pokal nachreist.

Stassi hat mit der „Trophäe“ einen typischen Schelmenroman geschrieben, der trotz seines breiten Panoramas – er umfasst rund 50 Jahre nicht nur fußballerischer, sondern auch politischer Geschichte – mit nicht einmal 300 Seiten nicht ausufert, sondern im Gegenteil temporeich daherkommt, voraussetzungsvoll und anspielungsreich ist und historische Personen mit literarischen Figuren zusammenbringt. Rigoberto ist der clevere, sympathische Aufrührer, der die Weltgeschichte verändert, ohne dass sein Name in den Chroniken auftauchen würde. Dieser Topos ist sowohl in der Film- wie in der Literaturgeschichte bekannt.

Was aber ist dann die Besonderheit des Romans? Martin Halter hat in seiner Rezension kurz nach Erscheinen 2010 in der „FAZ“ geschrieben, Stassi führe einen „Ersatzkrieg mit politisch korrekten Fouls, Tricks für die Galerie und südländisch temperamentvollen carajos“, das bleibe „aber ohne zählbare Erfolge und literarische Fortune“. Was immer man davon halten mag, die Fußballmetaphorik in den Rezensionstext hinüberzuziehen, trifft diese Einschätzung zugleich den Punkt und verfehlt ihn doch: Halter hat recht, Stassi ist kein überragender literarischer Wurf gelungen, er hat sicher nicht den großen Roman des 20. Jahrhunderts geschrieben. Ihm ist jedoch etwas geglückt, was auf sehr eindrucksvolle Weise den Mehrwert der Literatur gegenüber dem Journalismus deutlich macht: die Engführung von Fußball, Politik und erzählerischer Fiktion, die der Italiener vollzieht, ist so nur literarisch zu gestalten. Das Panorama, das Rigoberto aufmacht, ist niemals, wie es Halters etwas einfallslose Fußballmetaphern glauben machen, bloß spielerisch, sondern im Gegenteil von einer Ernsthaftigkeit, die nachdenklich macht.

Seit den frühesten Anfängen war der Fußball immer mehr als ein Spiel: „noch etwas anderes war im Spiel, etwas, das mit Ruhm zu tun hatte“, heißt es im Roman. Der Fußball war immer ein politischer Ort in dem Sinne, dass er politische Fragen stellte, wenn das einstmalige Dritte-Welt-Land Brasilien auf eine europäische Mannschaft traf, wenn die neutrale Schweiz den faschistischen Italienern gegenüberstand. Jedes Schreiben über Fußball, jedes Tor, jedes Foul war auch immer politisch – und der Fußball selbst in diesem Sinne weltverbindend, wie die FIFA zu Recht, aber mit anderen Intentionen sich so gern auf die Fahnen schreibt, und gleichzeitig ein schonungsloses Vergrößerungsglas, das für den Moment einer Weltmeisterschaft all die Differenz und Ungerechtigkeit in der Welt offenlegt: „In Wahrheit ist nur das Elend global“, sagt Rigoberto.

Diese Qualität hat die mediale Veranstaltung Fußballweltmeisterschaft heute längst verloren. Die WM 2006 ist als „Sommermärchen“ in die Annalen eingegangen, als eine große schwarz-rot-gelbe Spaßveranstaltung, die bloß niemandem wehtun wollte. Möglichst bunt für die Kameras sollte die Weltmeisterschaft in Deutschland sein, ein kleiner Karneval der Nationen. Wiederholen wollte man das in Südafrika, dass sich keiner mehr an die WM dort vor drei Jahren erinnert, mag Zeichen genug sein. Mit der Manipulation der Fernsehbilder bei der vergangenen EM schließlich wurde die Stoßrichtung vollends klar: die Entpolitisierung des Fußballs.

Genau hiergegen stellt sich Stassis Roman mit seiner kompromisslosen Montage von Sport- und Politikwelt. Er stellt uns anhand der Fußballgeschichte vor Augen, dass eine solche Entpolitisierung scheitern muss, weil der Fußball immer politisch war und ist. Längst vergessen ist die Tatsache, dass der brasilianische Verein „Palestra Italia“ aus São Paulo dereinst aus antifaschistischem Protest seinen Namen in „Palmeiras“ änderte, dass Mussolini als Fußballhasser das Spiel als wichtigstes Propagandainstrument entdeckte, dass der brasilianische Präsident Emilio Médici zur WM 1970 massiv in die Mannschaftsaufstellung eingreifen wollte, weil ihm zu wenige Weiße und zu viele Schwarze im Kader waren. Es sind solche Anekdoten, die den Roman bereichern, jene Momente der Fußballgeschichte, die nicht in den FIFA-Chroniken auftauchen und kaum in den Sportberichterstattungen nach den Weltmeisterschaften. Stassi kennt sie alle, sein Rigoberto war dabei, als 1950 im legendären Maracanaço Brasilien vor dem Mythos nach (bis heute weiß es keiner genau) 200.000 Zuschauern im Stadion mit 1:2 gegen Uruguay verlor, er war dabei, als Garrincha 1962 für Brasilien quasi im Alleingang den Titel gewann – jener Garrincha, dessen linkes Bein von Geburt an sechs Zentimeter kürzer als sein rechtes war und der trotz dieser Behinderung als Brasiliens größer Fußballer neben Pelé gilt, der kaum seinen Namen aussprechen konnte und alle Gegenspieler nur João nannte. Tatsächlich ruhten auf ihm die Hoffnungen aller Favelas des südamerikanischen Landes und er war es, „der ein ganzes Land aus seiner Niedergeschlagenheit befreite“.

In solchen Figuren gelingt es Stassis Roman meisterhaft, am Fußball all die Hoffnungen, die die Benachteiligten und gesellschaftlichen Außenseiter mit ihm verbinden, aufzuzeigen und so sein Potential als Mediator sichtbar zu machen, hier vorrangig am Beispiel der Verbindung von Lateinamerika und Europa. Für das arme Brasilien ist der Fußball Mittel, um überhaupt Beachtung zu finden, er kann dabei helfen, so etwas wie ein nationales Selbstbewusstsein auszubilden. Und genau das ist der Umschlagpunkt, an dem er für das faschistische Italien genauso wie die brasilianische Militärjunta interessant wird als Propagandainstrument. Der Fußball wird so für die Ohnmächtigen zum Symbol der Hoffnung und für die Mächtigen zum Instrument der Macht – das ist seine doppelte Natur. In diesem Sinne ist er für die Welt genau das, was Consuelo im Roman ist: für Rigoberto die Göttin, für alle anderen ein leichtes Mädchen. Ob man ein solches Mädchen dann von Verlagsseite als Cover-Foto nehmen muss, sei einmal dahingestellt, vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, tatsächlich den Pokal selbst, die Trophäe eben, abzubilden und somit den Assoziationen mit einem seichten Liebesroman zu entkommen.

Natürlich ist diese „Trophäe“ jederzeit auch erzähllogisches Objekt, das die Handlungsstränge verbindet und antreibt. Sie ist jenes Scharnier, das den Roman zusammenhält und die wahnwitzige Reise durch das 20. Jahrhundert möglich macht. Immer stellt der Text damit seine eigene Konstruiertheit aus, wirkt ab und zu arg handwerklich, zeitweise gezwungen, aber das wird aufgewogen durch die wunderbaren Episoden aus der Fußballgeschichte und die erzählerische Leidenschaft, die Stassi seinem Rigoberto mitgibt. Als alternder Linker kann er die Geschichte des 20. Jahrhunderts als „Quintessenz einer Geschichte von Migration und Rückkehr“ erzählen, die selbstverständlich die Politik, die Literatur, die Musik und genauso den Fußball umfasst. Das macht den Roman für jeden Fußballinteressierten zu einer sehr lesenswerten Erfahrung – 2013 vielleicht noch mehr als 2010, gerade weil der Roman beweist, dass der Fußball tatsächlich mal etwas hatte, was ihm mit zunehmender Ökonomisierung mehr und mehr abhanden zu kommen scheint: so etwas wie eine Seele. Und dieses Wort ist an dieser Stelle genau so pathetisch gemeint, wie es klingt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Fabio Stassi: Die Trophäe. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Monika Köpfer.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2010.
284 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783036955407

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