Der Moralist als Außenseiter

Im Gespräch mit Timothy Snyder überschlägt der Historiker Tony Judt nochmals das 20. Jahrhundert

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 6. August 2010 verstarb der britisch-amerikanische Historiker Tony Judt an den Folgen einer rasch fortschreitenden degenerativen Nervenerkrankung. Es blieb ihm gerade noch Zeit, sein letztes Buch zu vollenden. „Nachdenken über das 20. Jahrhundert“ ist ein langes Gespräch zwischen ihm und seinem jüngeren Historikerkollegen Timothy Snyder. Die Form des Mündlichen erlaubte es dem zunehmend gelähmten Judt, die geplante, nicht mehr realisierbare Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts in den Grundzügen doch noch zu formulieren.

Ab Februar 2009 trafen sich die beiden zuhause bei Judt zu ihren Gesprächen. Es ging ihnen dabei nie um die theoretische Befestigung der vielfältigen Themen, vielmehr versuchten sie diese gedanklich zu entfalten, zu differenzieren und aus heutiger Optik nochmals abzuwägen. In der vorliegenden Buchform erhält dieses Nachdenken eine funkelnde Brillanz, die gerade das ideengeschichtlich Widersprüchliche im besten Sinn aufzuheben vermag.

Jedes der neun Kapitel setzt mit einer autobiografischen Skizze von Tony Judt ein, aus der sich dann das Gespräch herauslöst. Judt hat immer darauf bestanden, dass sich der Historiker weder persönlich noch moralisch in seinen Überlegungen verleugnen soll. In Anlehnung an die französischen „moralistes“ (als deren moderne Vertreter er Aron, Camus oder Isaiah Berlin speziell hervorhebt) nimmt er sich das Recht heraus, ohne neutralisierende Distanz die selbst erlebte Epoche zu analysieren und mit eigenen Ansichten in laufende Diskussionen einzugreifen.

Tony Judt kam 1948 in London als Kind einer jüdischen Familie zur Welt, welche Wurzeln in viele osteuropäische Gegenden in sich vereinte. „Meine Eltern legten keinen Wert darauf, ihrem Sohn eine jüdische Erziehung mitzugeben“, gleichwohl begleitete das Jüdische Judts Biografie. Nach einer kommunistischen Jugendphase begeisterte sich der Zwanzigjährige für den Zionismus, allerdings mit dem Vorbehalt, dass er seine akademische Zukunft nicht mit einem Leben als Orangenpflücker in einem Kibbuz eintauschen wollte. Aus dieser kritischen Position erkannte er schnell, dass ihm ein idealistisches, heiles Bauernleben vorgespiegelt wurde mit dem Ziel, ihn zu einem Verteidiger des israelischen Staates zu formen.

Sein Interesse für Kommunismus und Zionismus war echt und tief, dennoch verwarf er für sich die allein seligmachenden Ideenkonstrukte – ohne deshalb allerdings zu den glühenden Gegnern überzulaufen. Die eigene Erfahrung erlaubte es ihm, ihre Wirkmacht in seiner Arbeit analytisch zu durchdringen und historisch wie sozial zu verorten.

Nebst der Auseinandersetzung mit der zionistischen Idee und ihren gegenwärtigen Implikationen brilliert das Gespräch vor allem in der Auseinandersetzung mit den linken politischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Judt und Snyder, der sich notabene als ein höchst kompetenter Partner erweist, versuchen mit Leidenschaft und Akribie die ideengeschichtlichen Windungen und Wendungen im politischen Spektrum zwischen Sozialdemokratie, Sozialismus, Kommunismus und Marxismus zu entwirren. Kontrastierend dazu bringen sie auch die faschistischen Ideen der ersten Jahrhunderthälfte zur Sprache. Vorab in Frankreich, Italien und Rumänien demonstrierten Autoren wie Brasillach, Cioran oder die Futuristen mit extremer Rhetorik eine schillernde Ideen-Mixtur, die zwischen radikaler Modernisierung und reaktionärem Nationalismus schwankend nicht selten mehr Originalität verriet und pfiffiger formuliert war als die linken Theorien.

Im Laufe seines intellektuellen Lebens hat sich Tony Judt immer mehr zu einem „Pluralisten“ entwickelt, der ausgesprochen pointiert zu formulieren verstand und sich so nicht nur in der Historikerzunft als Außenseiter positionierte: „Für ihn sei dies schon immer eine sichere, sogar angenehme Position“ gewesen, wie er gerne bekräftigt. Deshalb erlaubte er sich auch – eine „Pflicht als Jude“ –, die gegenwärtige israelische Politik gegenüber den Palästinensern scharf zu kritisieren.

Den analytischen Zorn des Wahlamerikaners Judt trifft zuguterletzt auch die Bush-Administration, die, „demokratisch nicht gewählt“, das Land in einen unsinnigen Krieg getrieben hat. Die auf Unwahrheit fußende Kriegspropaganda einerseits, die auf soziale Segregation zielende neoliberale Politik andererseits werden von Judt und Snyder schonungslos hinterfragt. Gerade Letzteres hält der „Moralist“ Judt für verhängnisvoll, wie sich am Beispiel von abgeschotteten Gated Communities zeigt, deren Bewohner für sich in Anspruch nehmen, nicht mehr für die Kosten des Staates verantwortlich zu sein. „Was in dieser Haltung zu Schaden kommt, ist die Vorstellung von Gesellschaft als einem für alle verbindlichen Gemeinwesen.“

„Nachdenken über das 20. Jahrhundert“ ist gerade wegen der engagierten Gesprächsform höchst anregend zu lesen. Judt und Snyder behaupten nicht unwiderlegbare Positionen, sondern machen mit Leidenschaft und bestem Wissen den Prozess der ideengeschichtlichen Argumentation nachvollziehbar. Die Dinge bleiben so offen für weiteres Nachdenken, ohne dass man in allen Einzelheiten mit ihnen einverstanden sein muss. Wer mitliest, vergegenwärtigt sich selbst noch einmal ein Jahrhundert, das unmittelbar nachwirkt und zugleich weit entrückt erscheint.

Titelbild

Tony Judt / Timothy Snyder: Nachdenken über das 20. Jahrhundert.
Übersetzt aus dem Englischen von Matthias Fienbork.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
412 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241398

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