Der fünfte König von Malle
Vito von Eichborn erinnert sich an seine Insel und daran, wie er den Fenchel entdeckte
Von Daniel Tobias Seger
Dass Mallorca – oder, wie es oft nur heißt: die ‚Ferieninsel‘ – wesentlich mehr zu bieten hat als überfüllte, deutschsprachige Strände, Schinken- und Bierstraßen, Sangriaeimer auf dem Ballermann und den rentengesicherten Lebensabend im Feinrippunterhemd und braunen Socken, das ist mittlerweile auch jenen griesgrämigen Zeitgenossen ans Ohr gedrungen, für die Malle eben immer nur Malle war: Billig- und Bumsurlaub, blödes Sich-am-Strand-rösten, Saufen, Schweinshaxe bei 35 Grad fressen, Deutsch sprechen.
Sieht man genauer hin, dann gibt es auf der ‚Ferieninsel‘ eine reichhaltige, dramatische und nachhaltig wirksame Inselgeschichte: über die Höhlen- und Talayot-Kultur, Eroberungen durch Römer, Vandalen und Araber, bis zur christlichen Rückeroberung durch einen 21-jährigen König und eine für Land und Kultur höchst produktive, wenn auch nicht immer leichte Königszeit. Da gibt es überzeugende ‚Kulturprominenz‘: Frederic Chopin an erster Stelle, aber auch Graf Keyserling, der in den 1930er-Jahren europäische Geistesgrößen zur ‚Woche der Weisheit‘ einlud; Samuel Beckett und Jorge Luis Borges waren da, aber auch Charles Chaplin und Winston Churchill, Anaïs Nin, Robert von Ranke-Graves und Thomas Bernhard. Und das ‚Man spricht Deutsch!‘ wird für den interessierten Urlauber zumindest zu einem ‚Ich versuche es mit Spanisch‘, auch wenn auf Mallorca eher das Katalanische und natürlich das Mallorquín zählt. Vielfalt statt Einfalt gilt auch für die Insellandschaft: Eben nicht Strand von oben bis unten, sondern herrliche Ebenen und Berge, die bewandert und durchradelt werden können.
Der Verleger Vito von Eichborn hat zwei Jahre auf Mallorca gelebt und jetzt ein kleines Bändchen vorgelegt, in dem er die vielen Gesichter der Insel in Geschichten und Geschichtchen sichtbar macht. Ernsthaft, belehrend, schnodderig, ironisch, belustigt, schwärmerisch – Eichborn findet immer den passenden Ton: Ein Ton der zu ihm und zur jeweiligen Geschichte passt. Ein authentisches Buch also durch und durch – und deshalb ein ideales Buch für den (Mallorca-)Urlaub, in dem jeder doch sein Paradies finden sollte („Mein Mallorca“), bevor es wieder zurückgeht in den nicht immer erfreulichen Alltag.
Insbesondere das Mallorca jenseits des Klischees hat es Eichborn angetan, wobei ihm bisweilen etwas viel Inselgeschichte unter die Feder kommt. Aber langweilig wird es dem Leser auch auf solchen Strecken nicht, da der Autor ein Meister der guten Mischung ist, die uns spielend von Ramon Llull über Erzherzog Salvator zum skrupellosen Unternehmer Juan March Ordinas und von dort zu Jürgen Drews führt. Das philosophische Erbe – Llull als Begründer der katalanischen Literatur und Vorreiter der europäischen Verständigung – ein gelehrter Herzog – dessen Gut heute Michael Douglas gehört – ein Geschäftsmann des 19. Jahrhunderts – Tabakschmuggler, Waffen-Finanzier der Faschisten, Naturfreund, 1962 in seinem Rolls Royce auf der Insel zu Tode gekommen – und ein Schlagerstar – dem Eichborn, im Gegensatz zu Dieter Bohlen und der ‚Katz‘ (Daniela Katzenberger), Respekt zollt – das alles auf wenigen Seiten zusammengerückt: Unterhaltsamer geht es kaum!
Und auch wenn der Kenner und Liebhaber in Eichborns Buch nichts völlig Neues über Mallorca erfahren wird, überraschende Einsprengsel gibt es durchaus: Wer hätte gedacht, dass in Palma, dem melting-pot der Insel mit an die 160 verschiedenen Nationen, die stärkste Einwandergruppe von den Argentiniern gestellt wird? Oder dass Mallorca, bezogen auf seine Gesamtfläche, die weltweit größte Klosterdichte aufzuweisen hat: 200 Stück, 69 davon öffentlich zugänglich! Wer hätte das gedacht!
Auch einige schöne Ausflugstipps hat Eichborn auf Lager: Für den Naturfreund etwa den Naturpark Albufera bei Port d’Alcúdia. Für den Kulturfreund die Stiftung Jacober, mit dem im maurisch-spanischen Stil erbauten Hauptgebäude Sa Bass Blanca und den übermannshohen, witzigen Tierskulpturen, ein Zaubergarten visueller Überraschungen. Und dann natürlich das Museum für Moderne Kunst Es Baluard in Palma, das Werke von Miró bis Kiefer in riesigen Räumen präsentiert und über ein wunderbares Restaurant verfügt, mit Weitblickterrasse über Palmas Bucht und Hafen.
Lesenswert ist Eichborns Erinnerungsbuch vor allem aufgrund der Geschichten, die der Verleger zum Besten gibt. Selbst Erlebtes und Gehörtes gleichermaßen, erzählt in kleinen Miniaturen, in denen die Licht-, aber auch die Schattenseiten der Insel zutage treten. Die Geschichte von einem Zauberer etwa, Mago Benar, der trotz vieler Rückschläge immer wieder einen Neustart wagt, bis nach 14 Jahren und 1200 Veranstaltungen nichts mehr geht: die moderne Spaßkultur verlangt nach neuen, ‚moderneren‘ Zerstreuungen – und die Animationschefs nach höheren Bestechungssummen. Es ist gut, dass Eichborn das Thema Korruption und Vetternwirtschaft auf Mallorca immer wieder anspricht und auch das Thema Armut nicht ausspart. Unter der wärmenden Sonne des Südens spüre man die soziale Kälte nicht mehr so. Ein wahrer Satz, findet Eichborn. Wo Licht ist – Spaß, Strand und Sangria – ist auch Schatten.
Und dann der Kontrast zwischen U- und E-Kultur auf der Insel. Die hat es dem Mühlenbesitzer mit zugelaufener Katze natürlich auch angetan, aber immer gemäß dem Motto: Leben und leben lassen. Den Ballermann mit seinem „Menschenzoo“, die Touristen, die „mit Dieter Bohlen Urlaub machen“, lösen bei Eichborn Gefühle des Horrors (sein Lieblingswort) aus: „Bedeckte und bare Busen konkurrierten mit muskulösen Bodys und Bierbäuchen um Aufmerksamkeit.“ Aber dann: „Wenn man erst mal eine Weile beobachtet zu zuhört, wird aus dem großen Affenstall ziemlich schnell eine unverkrampfte Nachbarschaftsstimmung.“ Wer wolle da den ersten Stein werfen? Eichborn ist es nicht! Zumal er die nicht selbstverständliche Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstironie besitzt: Da will der Herr Verleger in einem kleinen Dorf das gemütliche Lokal eines Freundes als Kulturbar sehen und wird vom Wirt ordentlich „auf den Topf gesetzt“: man wolle keinen Firlefanz und blödes Show-Publikum! „Mmprrmmpf, da saß ich auf dem Fettnapf“ – und die Kulturmission ist zu Ende.
Eichborn ist ein Original, der bei allem Inselgeist und allem Sich-als-Mallorquiner-Fühlen immer bereit und in der Lage ist, über sich selbst zu lachen oder sich über sich selbst zu wundern. Das fängt bei der Bepflanzung des Aschenbechers in seinem Uraltmercedes an und hört bei den unvermeidlichen kulinarischen Reflexionen auf. Da schwankt er zwischen teuren Restaurants, in denen die Tapas nicht fettig sind, und der Fleischtheke im Supermarkt („nicht die geschmacklose 08/15-Ware wie in Deutschland“), wobei es aber auch mal eine Pfälzer Leberwurst sein darf. Es gibt Tipps zum Hanfanbau („Nachmachen!“) und wir nehmen Anteil an Eichborns Entdeckung des Fenchels am Wegesrand: „Die haarförmigen Blätter sehen zwar aus wie Dill, aber ich war blamiert: Es ist Fenchel. Köstlich.“
Ein schönes, sympathisches Buch über Mallorca. Was den Verlag allerdings dazu bewogen hat, Motti, Zitate oder Textauszüge in einer kaum lesbaren Schreibmaschinenschrift einzubringen, bleibt sein Geheimnis. Aber der Ärger darüber verfliegt bei der Durchsicht des hilfreich kommentierten Literaturverzeichnisses und erst recht bei den Erzählungen Vito von Eichborns, der – mit uns – auch ein wenig daran glaubt, dass Mallorca das Modell für Utopia war.
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