Wie ein Licht aus längst vergangenen Tagen

José Saramagos „Claraboia“ ist ein beeindruckendes Porträt der portugiesischen Gesellschaft zu Zeiten der Salazar-Diktatur

Von Eleonore AsmuthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eleonore Asmuth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist am beeindruckendsten, fragt man sich unweigerlich, wenn man Saramagos unlängst und posthum veröffentlichen Roman „Claraboia“ in den Händen hält: Die rührende Skizze einer Lissaboner Hausgemeinschaft in Portugal um die Mitte des 20. Jahrhunderts, die der fast noch jugendliche Autor mit unfassbarem Einfühlungsvermögen und einem melancholischen Schreibstil zeichnet, oder die Tatsache, dass „Claraboia“, dessen Niederschrift bereits mehr als 60 Jahre zurückliegt, erst heute dem breiten (internationalen) Lesepublik zugänglich gemacht ist? Es gibt eine Geschichte hinter der Geschichte, die dieses „einst verlorengegangene und wiedergefundene Buch“ (so wie es Saramago und seine Lebensgefährtin immer nannten) erzählt und es lohnt sich, von beiden zu berichten.

Claraboia – dieses wohlklingende portugiesische Wort bedeutet übersetzt so viel wie „kleines, rundes Dachfenster“ und durch ein solches lugt der Leser, wenn er Saramagos Erzählungen lauscht. Tag für Tag, über einige Monate hinweg, öffnet der junge Saramago die Fenster und Türen zu einem Mietshaus, irgendwo in Lissabon. In Form von kleinen Episoden lernt der Leser nach und nach alle Bewohner kennen: den Schuster Silvestre und seine liebevolle Frau Mariana, die Schwestern Isaura und Adriana, die sich zusammen mit Mutter und Tante eine Wohnung teilen, Anselmo, seine Frau und die gemeinsame Tochter Maria Claudia oder auch die hübsche Dona Lídia, Geliebte eines wohlhabenden Unternehmers. Die Charaktere, ihre Sorgen und Nöte, Hoffnungen und Ängste tragen das Buch.

Mit großer Schlichtheit erzählt der Autor von den Alltagsproblemen der Hausbewohner und zeichnet so ein authentisches Bild der portugiesischen Gesellschaft um die Mitte des 20. Jahrhunderts, die seit den 1930er-Jahren durch die autoritäre Diktatur António de Oliveira Salazars geprägt war. Wie bei einem Puppenhaus schaut Saramago in die Wohnzimmer dieser einfachen Leute und porträtiert ihre Lebenssituation. Dabei schlüpft der Autor innerhalb einer Szene nicht selten in verschiedene Rollen, erzählt eben noch aus der Sicht der pubertierenden Tochter Maria Claudia, dann aus der Perspektive des sorgenden Vaters. Hinzu tritt der ständige Austausch der Hausbewohner, die sich zu Klatsch und Tratsch im Treppenhaus treffen und nicht selten über ihre Nachbarn lästern oder anrüchige Vermutungen äußern. Durch diese multiperspektivische Erzählstruktur wirken die Geschichten ungemein dicht, natürlich und unverfälscht.

Als schließlich ein neuer Untermieter, Abel, Einzug in das Wohnhaus erhält, gerät auch die wohlgeordnete Welt der Hausgemeinschaft ins Wanken. Auf die Frage des Zugezogenen, ob die Nachbarn denn nette Leute seien, antwortet Silvestre, der älteste Mieter im Haus, nüchtern: „Die einen mehr, die anderen weniger. Letztlich so wie überall…“. Doch gerade diese Normalität macht Saramago – indem er sie ins Zentrum rückt – zu etwas Exklusivem.

„Claraboia“ erzählt aber auch die Geschichte des jungen José Saramago, dem späteren Literaturnobelpreisträger von 1998, der das vermutlich 1953 fertiggeschriebene Manuskript einem Verlag vorlegte und ein halbes Jahrhundert lang keine Antwort erhielt. Erst 1999, als Saramago gerade an „Das Evangelium nach Jesus Christus“ schrieb, hörte er erstmals vom Verlag, der das bei einem Umzug gefundene Manuskript gerne veröffentlichen wollte. Vermutlich immer noch tief verletzt und enttäuscht über die damalige Ablehnung und Respektlosigkeit, mit der er und „Claraboia“ behandelt wurden, entschied er, dass der Roman zu seinen Lebzeiten nicht erscheinen werde.

Die unglaubliche Geschichte vom einst verschollenen Erstlingswerk des berühmten portugiesischen Schriftstellers, die seine Lebensgefährtin Pilar del Río anrührend in wenigen Seiten dem Roman voranstellt, macht deutlich: „Claraboia ist das Geschenk, das Saramagos Leser verdienen.“

Titelbild

José Saramago: Claraboia oder Wo das Licht einfällt. Roman.
Übersetzt aus dem Portugisischen von Schweder-Schreiner.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013.
350 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783455404395

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