Der Mönch als Kater, der Bauer als Reformator

Die Edition der „Karsthans“-Texte durch Thomas Neukirchen

Von Nina HableRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Hable

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Leben Thomas Murners fiel in eine Zeit des Umbruchs. 1517 war Murner 42 Jahre alt, langjähriger Ordensbruder der Franziskaner sowie seit über zwei Jahrzehnten geweihter Priester. An den Universitäten hatte er sich den Magister der Freien Künste und 1506 den Doktor der Theologie erworben. Seiner kritischen Haltung den Missständen der Kirche gegenüber verlieh er zwar in Schriften wie der „Schelmenzunft“ (1512) Ausdruck, blieb aber immer ein Vertreter kirchlicher Strukturen und Institutionen, wodurch er mit anderen Gedankenströmungen der Zeit in Konflikt geriet.

Denn 1517 war auch das Jahr, das in späteren Geschichtsbüchern als Luthers Thesenanschlag zu Wittenberg Berühmtheit erlangte und einen bereits lange knirschenden Stein vollends ins Rollen brachte. Seit 1520 versucht Murner, sich mit öffentlichen Schriften gegen diesen Stein zu stellen, wie Thomas Neukirchen in seinem knappen, doch fundierten Nachwort umreißt. Murners Erfolg dabei blieb – wie die Geschichte lehrt – eher gering, das Echo, das er damit auf Seite der Reformatoren erzeugte, erweist sich aber als durchaus lesenswertes Thema: Thomas Neukirchen versammelt in seinem Band „Karsthans“ das literarische Œuvre einer Figur, die eng mit Murner, mit Luther und der Reformation in Zusammenhang steht und als Allegorie des reformoffenen Bauernstandes gelten kann. Fünf der sechs Texte stellen sich gegen Thomas Murner beziehungsweise argumentieren für die Reformation, nur einer – der vorletzte und zweitjüngste – stammt aus dem Lager der Gegenreformation und wurde von Thomas Murner selbst verfasst: Aus „Von dem großen Lutherischen Narren“, der in der damals beliebten Narrenliteraturmanier gehalten ist, wird der den „Karsthans“ betreffende Teil wiedergegeben, um den Rahmen des Buches und seines Titels nicht zu sprengen. Eine nachvollziehbare Entscheidung, die das Profil des Bandes schärft.

Die Zusammenstellung der Texte zeigt gut, wie die Figur des „Karsthans“ zu Murner in Kontrast gesetzt, zur Projektions- und Reflektionsfläche reformatorischen Gedankenguts wird und gleichzeitig den Subdiskurs um den Bauernstand bereits im Namen trägt. Der „Karsthans“ ist in seiner Funktion flexibel und für jede Gesprächssituation einzusetzen: Einerseits tritt er als interessierter Fragensteller, andererseits als lehrende und interpretierende Instanz auf, der aber in beiden Fällen seine gewaltaffine Natur quasi als running gag bewahrt. Murner, und damit die Seite der Gegenreformation, führt den von ihm überzeichneten „Karsthans“ hingegen als polemischen Konterangriff ins Feld. Die alte Gegenreformationsseite sieht sich zur Reaktion gedrängt, während die Reformation immer einen Schritt voraus zu sein scheint.

Dieses spannende Verhältnis zwischen den beiden Figuren beziehungsweise der realen Person Thomas Murners zum „Karsthans“ wird allerdings durch den Untertitel des Buches „Thomas Murners ‚Hans Karst‘ und seine Wirkung in sechs Texten der Reformationszeit […]“ etwas verzerrt. Behält man den Untertitel im Hinterkopf, so ruft er im Laufe des Lesens Verwirrung hervor, da Murner zwar in den Texten auftritt, sich aber die suggerierte Zugehörigkeit der Figur des Karsthans zu Murner nicht erschließt. Auch das Nachwort bleibt in diesem Punkt dürftig: Thomas Neukirchen zeigt zwar die den Texten vorangehende Beziehung zwischen Thomas Murner und ,Hans Karst‘ auf, doch diese erschöpft sich – bis Murner die Figur in seiner Schrift „Von dem großen Lutherischen Narren“ selbst aufgreift – scheinbar in drei, als Synonym für den Bauernstand belegten Nennungen des Namens. Dieser Befund ist zu schmal, um die literarische Figur des ‚Hans Karst‘ dem Murner zu eigen zu machen, besonders auch da Murner den Namen nicht selbst erfunden hat. Vielmehr erhob, und das zeigen auch die versammelten Texte, die Seite der Reformation den „Karsthans“ zur Folie ihrer Ideen, gaben ihm Form und ließen ihn schriftlich unter anderem eben gegen den Franziskanermönch zu Felde ziehen, dessen argwöhnischer Blick auf den Bauernstand, auf ‚Hans Karst‘ eben, wie auch dessen gegenreformatorischer Standpunkt einen hervorragenden Kontrastpunkt und fruchtbaren Boden für Hohn und Ironie bot.

Abgesehen vom leicht fehl gelaufenen Untertitel liegt aber eine schöne Edition vor: Die Übersetzung der frühneuhochdeutschen Texte in ein modernes Deutsch durch Thomas Neukirchen ist fundiert und fügt sich gängiger Darstellungspraxis: Auf der linken Seite findet sich die diplomatische Edition der frühneuhochdeutschen Drucke inklusive der Marginalien und Holzschnitte, auf der rechten die neuhochdeutsche Übersetzung. Diese öffnet die Ausgabe auch für Menschen, die nicht tagtäglich mit der deutschen Sprache des 16. Jahrhunderts zu tun haben und macht die Figur des Karsthans einem größeren Publikum zugänglich. Die stellenweise in den Texten auftauchenden lateinischen Phrasen und Zitate werden von Thomas Neukirchen gleich mit übersetzt. Das hilft vor allem beim ersten, 1521 gedruckten Text „Karsthans“ über etwaige Kenntnislücken im Lateinischen hinweg und lässt die Leserin und den Leser am Spiel zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen, zwischen höflicher Falschübersetzung und tatsächlichem frech-kritischem Inhalt teilhaben, ohne dabei den Lese- oder Textfluss zu stören.

Die große Bandbreite der verwendeten Stilmittel der Rhetorik, Bibelzitate, Zitate aus den Schriften der Kirchenväter wie zum Beispiel des Hl. Ambrosius oder von Theologen wie Origines gewähren Einblick in den damaligen Diskurs und die rege Diskussion um Reformation und Gegenreformation, um biblische, interpretatorische und institutionelle Fragestellungen. Zur plakativen Verdeutlichung ihrer Standpunkte operieren die Texte dabei teilweise auch mit Holzschnitten, die an jenen Stellen eingebettet worden sind, an denen sie auch im Original zu finden sind.

Die Lektüre gestaltet sich dementsprechend aber ohne grundlegende Kenntnisse der Zeit, ihrer Debatten und auftretenden Figuren als schwierig, doch die Edition will auch kein Einstiegswerk sein. Die Apparate am Ende jedes Texts geben gute Informationen zur Quelle und Druckgeschichte, zu Ausgaben und Sekundärliteratur, wie auch Anmerkungen zum Text selbst: Erklärungen eines Ausdrucks etwa oder Angaben über die zitierten Bibelstellen. Das kurze, aber kundige Nachwort bietet einen Abriss über Thomas Murners Leben und die Entstehung der im Band edierten Texte und macht Lust auf eingehende Beschäftigung mit „Karsthans“ und der Zeit der Reformation.

Einen faden Nachgeschmack hinterlässt einzig der Setzer, auf den sich Thomas Neukirchen beziehungsweise der Universitätsverlag Winter Heidelberg wohl nicht verlassen konnten: Selten sieht ein Hurenkind – also eine allein stehende Zeile – so verloren aus wie auf Seite 152. Und auch an anderen Stellen des fast 300 Seiten dicken Buches springt sie, wie auch ihr Geselle, der Schusterjunge, in den Blick der Leserin und des Lesers. Diese handwerklichen Mängel der Buchdruckerkunst just in einem Werk zu finden, das sich mit frühen Drucken beschäftigt, ist schmerzlich mitanzusehen. Alles in allem aber handelt es sich beim vorliegenden Buch um eine schöne und gelungene Edition von sechs, für die Reformationszeit höchst interessanten Texten, die sich um eine spannende Figur versammeln: Thomas Neukirchens „Karsthans“ ist für alle an dieser Zeit Interessierten und bereits grundlegend damit vertrauten Leserinnen und Lesern einen Blick und eine vertiefende Lektüre sicher wert.

Titelbild

Thomas Neukirchen (Hg.): Karsthans. Thomas Murners "Hans Karst" und seine Wirkung in sechs Texten der Reformationszeit.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2011.
298 Seiten, 55,00 EUR.
ISBN-13: 9783825359768

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