Wie erzählt man vom Krieg?

Julien Gracqs postum erschienene „Aufzeichnungen aus dem Krieg“ liegen nun in der deutschen Übersetzung von Dieter Hornig vor

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Julien Gracq, der in Frankreich zu den bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts gezählt wird, ist im deutschsprachigen Raum zwar kein Unbekannter mehr, aber wirklich angekommen im Bewusstsein einer größeren Leserschaft ist er noch nicht. Mit den von Dieter Hornig übersetzten „Aufzeichnungen aus dem Krieg“, die im französischen Original 2011, vier Jahre nach Gracqs Tod, erschienen sind, bietet der um Gracqs Werk sehr verdiente Droschl-Verlag aus Graz nun die Gelegenheit, Einblicke in die Werkstatt zu nehmen, in der das Gracq’sche Frühwerk entstanden ist. Damit soll nicht gesagt sein, dass diesen Texten noch etwas Unfertiges anhafte, im Gegenteil: Diese Erinnerungen an die Zeit der sogenannten „drôle de guerre“, also der Zeit zwischen der Kriegserklärung zwischen Deutschland und Frankreich im September 1939 und dem Beginn der deutschen Invasion im Mai 1940, zeigen den präzisen und bewusst unterkühlten Stil, der bereits Gracqs ersten Roman, „Au château d’Argol“ von 1938 (deutsche Fassung 1954, „Auf Schloss Argol“), auszeichnete.

Die beiden Texte, die der vorliegende Band versammelt, fanden sich in zwei Schulheften in Gracqs Nachlass, aus dem sie von dessen Verwalterin, der deutschen Gracq-Spezialistin Bernhild Boie, ediert und kommentiert worden sind. Der bei Kriegsausbruch 29 Jahre alte Louis Poirier, der sich für die Veröffentlichung des „Château d’Argol“ das Pseudonym Julien Gracq zugelegt hatte, berichtet in diesen beiden Heften in zwei verschiedenen Anläufen über seine Erfahrungen als Leutnant, der zwischen Mai und Juni 1940 eine Kompanie der sich zusehends auflösenden französischen Armee zu führen hatte. Die in den beiden Heften enthaltenen Texte sind nicht nur für sich genommen interessant, sondern auch, weil sie zwei spätere Werke Gracqs, „Das Ufer der Syrten“ („Le rivage des Syrte“, 1951) und „Ein Balkon im Wald“ („Un balcon en forêt“, 1958), in einer neuen Perspektive zu lesen erlauben.

Der erste der beiden Texte bietet unter dem Titel „Kriegserinnerungen“ und dem Namen „L. Poirier“ auf dem Umschlag tagebuchartige Aufzeichnungen in der ersten Person Singular, die vom 10. Mai bis zum 2. Juni 1940 reichen. Im zweiten Text werden ohne Titel die Ereignisse geschildert, die in den „Kriegserinnerungen“ unter dem Datum des 23. bis 25. Mai in wesentlich knapperer Form präsentiert werden, nun aber in der dritten Person Singular. Protagonist dieser Erzählung ist ein Leutnant G., durch den wir die Ereignisse größtenteils in interner Fokalisierung wahrnehmen. Beide Texte vermitteln einen Eindruck von den Fehleinschätzungen des Oberkommandos und der mangelhaften Vorbereitung, die dazu geführt haben, dass die französische Armee in kürzester Zeit den Kampf gegen die deutschen Invasoren aufgeben musste.

Obwohl zumindest die im Tagebuchstil verfassten „Kriegserinnerungen“ über weite Strecken den Eindruck unmittelbarer Wiedergabe des Erlebten erzeugen, sind die Aufzeichnungen frühestens ein Jahr nach dem Ende des geschilderten Zeitraums verfasst worden. Poirier war im Juni 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, aus der er erst im Februar 1941 wieder entlassen wurde. Ab April 1941 war er schon wieder im Schuldienst tätig, so dass er vor den Sommerferien 1941 kaum zum Schreiben gekommen sein dürfte. Dieser zeitliche Abstand scheint dazu geführt zu haben, dass Poirier/Gracq besonders intensiv über die medialen Bedingungen der Möglichkeit nachgedacht hat, die wahrgenommenen Ereignisse in literarischen Text zu überführen. Immer wieder finden sich Reflexionen über die Erinnerung an Fotografien oder andere Bilder, die sich zwischen die Ereignisse und den anschließenden Bericht darüber schieben. So erinnert sich Leutnant G. in der Erzählung, dass er „einen deutschen Soldaten sah, der das an einen Geranientopf gelehnte Foto seiner Verlobten fotografierte. Die Szene verwunderte ihn damals sehr und brachte seine Ideen durcheinander. Er begann sich dessen bewusst zu werden, dass unter den gültigen Bildern des Krieges die kitschigen nicht den letzten Rang einnehmen.“

Unmittelbar nach dieser Erkenntnis erscheint ihm dann ein sterbender deutscher Soldat „wie von einem Maskenbildner retuschiert“, die ganze Szene „erschien Leutnant G. plötzlich unerklärlich schlecht beleuchtet“. Die medialen Metaphern, die schon in den Tagebuchaufzeichnungen bemerkbar sind, verdichten sich in der Erzählung in so auffälliger Weise, dass man unterstellen könnte, dass Louis Poirier damit seine Versuche, in vermeintlicher Unmittelbarkeit über seine Kriegserfahrung zu berichten, aufgibt und nur noch in der ausdrücklich literarisierten und verfremdeten Form der Romane darauf zu sprechen kommt, die er dann aber konsequenterweise an Julien Gracq delegiert. Die beiden kurzen Texte bieten also eine hochreflektierte Ergänzung zu Gracqs bislang vorliegendem Werk, für deren Veröffentlichung man der Herausgeberin ebenso danken kann wie dem Übersetzer und dem Verlag der deutschen Fassung. Der im Vorwort von Dieter Hornig geäußerten Einschätzung, dass mit Gracqs Kriegsaufzeichnungen ein Text zur französischen Niederlage von 1940 vorliegt, der aufgrund seiner analytischen Schärfe und seiner stilistischen Prägnanz an die Seite von Marc Blochs „Étrange défaite“ (zuerst postum 1946, deutsch als „Die seltsame Niederlage“, 2002) und Claude Simons „La route des Flandres“ („Die Straße in Flandern“, 1960) zu stellen ist, kann man nur uneingeschränkt zustimmen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Julien Gracq: Aufzeichnungen aus dem Krieg. Tagebuch und Erzählung.
Übersetzt aus dem Französischen von Dieter Hornig.
Literaturverlag Droschl, Graz 2013.
192 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783854208389

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