Literatur ist ein Orakel

Antonio Tabucchi denkt in „Die Autobiographien der anderen“ über die Bücher und das Leben nach

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist schon seltsam: Da sitzt ein Schriftsteller monatelang an einem Buch, erzählt von Menschen, die er erfunden hat, lässt sie Sachen machen, die er sich ausgedacht hat oder die sie aus der Logik der Geschichte heraus von selbst tun – und dann bekommt er, wenn der Roman erschienen ist, einen Brief: „Sie haben mich beschrieben.“ So ging es auch Antonio Tabucchi. Ein Leser „schwört, mich vor zwanzig Jahren in Genua kennenglernt zu haben“ und meint, er habe „als Vorbild für meine Figur Spino gedient“. Oder jener Mann, der ihm, nachdem der Briefroman „Es wird immer später“ erschienen war, schrieb: „Ich schreibe Ihnen, weil Sie in Ihrem Buch, in einem der Briefe (aus Gründen der Diskretion sage ich jedoch nicht, in welchem), meine Geschichte erzählt haben. Sie haben eine Kurzform der Autobiographie verfasst, die ich selbst schreiben wollte, was mir allerdings nicht gelungen ist.“

Es ist eine vertrackte Sache mit der Literatur: Sie erzählt persönliche Geschichten, die sie eigentlich gar nicht weiß, von Menschen, die sie nicht kennt. In essayistischen Texten, die jetzt, ein Jahr nach seinem Tod am 25. März, gesammelt erscheinen, denkt Tabucchi noch einmal über dieses Phänomen nach. Und erzählt vor allem noch mehr Geschichten, die auch in seinen Romanen stehen könnten, die oft zwischen Phantastik und Realität schwanken. Von den Verflechtungen zwischen „Wirklichkeit“ und Literatur, von seinen Alpträumen, wenn er in seine eigenen Geschichten gerät, von seinem Vater, der ihn in einem Traum mit einem portugiesisch gesprochenen Satz dazu brachte, einen ganzen Roman in dieser Sprache zu schreiben – nur konnte sein Vater gar kein Portugiesisch, und am Ende seines Lebens konnte er auch gar nicht mehr sprechen.

Die Literatur ist nach Tabucchi eine Methode, der Realität vorzuschreiben, was sie zu sein hat. Aber dann verwickelt sich der Autor in seine Geschichten und das komplizierte Geflecht der Zeiten, weil plötzlich in der Realität etwas passiert, was er schon beschrieben hat, oder er jemanden trifft, von dem er erzählt hat, ohne ihn zu kennen, oder sich Erinnerungen zu großen Werken ausweiten, wie bei Proust, der tausende von Seiten schrieb, nachdem er eine in Tee getunkte Madeleine gerochen hat: Literatur wird zur Magie. Sie schenkt nicht nur Erkenntnisse über die Vergangenheit, die man durchlebt hat, „ohne dass wir bemerkt hätten, was genau uns zugestoßen ist und warum.“ Sie wirkt auch in die Zukunft: „Literatur ist manchmal blind“, schreibt Tabucchi, „und in ihrer Blindheit hat sie etwas von einem Orakel an sich.“ Und so sind auch die Geschichten nie zu Ende, denn sie verzweigen sich, zersplittern, breiten sich aus, wirken immer weiter, manchmal fühlbar, aber auch ohne dass wir es merken – und auch das ist die Magie der Literatur, wie Tabucchi in seinen klugen, sensiblen, skeptischen Essays mit den vielen Geschichten zeigt.

Titelbild

Antonio Tabucchi: Die Autobiographien der anderen. Über die Bücher und das Leben.
Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
136 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241343

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