Jenseits des Dualismus
West-östlicher Dialog in höchst angenehmer Form: François Chengs „Fünf Meditationen über die Schönheit“
Von Caroline Mannweiler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn Deutschland weitgehend unbekannt, gehört François Cheng in Frankreich zum erlauchten Kreis der Académie Française und damit zu den Autoren, deren Werk nicht zwingend ästhetisch bahnbrechend, dafür aber in jedem Fall kulturpolitisch fruchtbar ist. Für den 1929 in China geborenen, aber seit seinem 19. Lebensjahr in Frankreich lebenden Cheng gilt dies in besonderer Weise. Denn in einer Zeit, in der China in den Medien zwar omnipräsent ist, allerdings fast ausschließlich als aufstrebende Wirtschaftsmacht mit Defiziten in der Wahrung der Menschenrechte präsentiert wird, tut es gut, Stimmen wie der François Chengs in seinen „Meditationen über die Schönheit“ zuzuhören. Und dies nicht aus dem eskapistischen Grunde, dass es manchmal einfach wohltuend ist, sich mit so scheinbar weltabgewandten Themen wie der Schönheit zu beschäftigen, sondern weil Cheng für seine Ausführungen eine sehr gelungene Form gefunden hat, die Verständnis befördert, ohne es zu erzwingen. Statt chinesische und europäische Konzepte begrifflich auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, geht Cheng vielmehr beschreibend und assoziativ vor, was seinen Gegenständen Anschaulichkeit verleiht und den Leser in eine angenehme Entdeckerposition versetzt.
So mag dahingestellt bleiben, wie lange „westliche“ Leser Texte wie die Chengs auf sich wirken lassen müssen, ehe sie in taoistischen Konzepten wie der „mittleren Leere“ intuitiv keine Leere, keinen Mangel sehen, sondern eine Sphäre, die den Austausch zwischen ying und yang und damit Bewegung und Fülle überhaupt erst ermöglicht. Aber solche Begegnungen und Wirkungen zu suchen, darauf machen Chengs Meditationen große Lust. Denn gerade bei Begriffen wie der „mittleren Leere“ spürt der dualistisch geprägte Leser, dass er begrifflich und imaginativ an seine Grenzen gerät, dass aber gerade diese Erfahrung der Grenze den Beginn eines Verständnisses darstellt. Etwas wahrzunehmen, obwohl man es nicht versteht, obwohl es „fremd“ bleibt, dazu verhilft Cheng seinen Lesern und dazu verhilft uns – womit wir mitten im Thema wären – die Schönheit.
Nun mag man Schönheit für kein sehr zeitgemäßes Thema halten, worauf Cheng selbst hinweist, doch gerade im Hinblick auf das viel beschworene interkulturelle Verständnis bietet es durchaus bemerkenswerte Perspektiven. So etwa, wenn Cheng Schönheit an die Einmaligkeit der Lebewesen bindet. Schönheit als Einmaligkeit des Augenblicks, als Vergänglichkeit – all dies sind wahrlich keine unbekannten Vorstellungen. Cheng jedoch legt das Hochaktuelle dieser Sichtweise frei, wenn er ausführt, dass das Ausbilden dieser Einmaligkeit und das Staunen über sie gerade keinen Narzissmus mit sich bringt, sondern im Gegenteil für andere öffnet: „Jede wahre Einmaligkeit verlangt nach anderen Einmaligkeiten, sehnt sich nach anderen Einmaligkeiten.“
Wobei es gerade der Einfluss des chinesischen Denkens sein mag, der es Cheng ermöglicht, im Ausbilden der individuellen Einzigartigkeit, im Erblühen – die Rose als Symbol der Schönheit durchzieht die Meditationen – nichts von isolierendem Individualismus zu erkennen, sondern ein Streben, das mit der Umwelt vereint. Denn wiewohl Cheng das Erblühen, das Streben nach Erfüllung des Lebens im Symbol der Rose auch in der europäischen Literatur aufsucht, so scheint doch der „zum Offenen“ drängende, verbindende Charakter der Schönheit in den chinesischen Konzepten deutlicher: Cheng, selbst Kalligraf, erläutert in diesem Zusammenhang ein Ideogramm, das sich aus den Bedeutungen „schön tönender Stein“ und „dauerhafter Gesang“ zusammensetzt, wobei „dauerhafter Gesang“ mit dem Begriff des Duftes assoziiert ist. Dass es der Duft der Rose ist, der ihr Ewigkeit verleiht, sie am unsichtbarsten, aber auch am dauerhaftesten mit dem, was außer ihr liegt, verbindet, mag man gewiss auch in Claudels „Lobgesang an die Rose“ lesen, den Cheng zitiert.
Doch ist dies mit der chinesischen Vorstellung vergleichbar, nach dem die Schönheit eines Dinges in seinem „yi“ liegt, in seiner „unsichtbaren Essenz“, seiner „Würze“, seinem „Duft“, seinem „Widerhall“? Einer unsichtbaren Essenz, die man sich zudem nicht statisch vorstellen darf, sondern bewegend?
Cheng hält sich mit solchen Fragen der Vergleichbarkeit nicht auf. Natürlich sucht er nach Verknüpfungen, nicht zufällig erwähnt er Bergsons „durée“, die in gewisser Weise auch eine „unsichtbare Essenz“ zu erfassen versucht, nämlich die Erlebbarkeit von Zeit. Doch ist es nicht Chengs Ziel, chinesische und europäische Vorstellungen einander gegenüberzustellen, um dann zu entscheiden, was die eine Kultur zu denken im Stande ist und was nicht. Vielmehr lädt er den Leser immer wieder ein, etwas zu denken, was er so noch nie gedacht hat: Eine Seele, die nichts ist als „zum Rhythmus gewordener Atem“; einen Atem, der alles beseelt und die Leere bewegt; eine Transzendenz, die im Dazwischen liegt – Konzepte, die gewiss abstrakt blieben, würde Cheng dem Leser keine Bilder bieten, die den Begriffen einen sinnlich erfahrbaren Hintergrund geben.
Eines der eindrücklichsten Bilder ist dabei das des Berges Lu, an dessen Fuß François Cheng aufgewachsen ist, und der im chinesischen Ausdruck „Nebel und Wolke des Berges Lu“ für wahre Schönheit steht. Eine Schönheit, die nie alleine im Objekt liegt, sondern sich ereignet: Wenn ein Blick das Aufscheinen des Berges wahrnimmt, das Aufscheinen aus dem Nebel oder den ziehenden Wolken, Wolken, die zu Regen verwandelt auf den Berg prasseln und in den Fluss strömen, ehe sie verdunsten und wieder zu Wolken werden.
Man könnte das, was diese „Szene“ ausdrückt, wohl mit dem sehr modischen Begriff der „Ganzheitlichkeit“ umschreiben. Aber wie es mit Modebegriffen so ist: sie sagen nicht viel. Sie sagen vielleicht so viel wie eine Postkarte mit einem Sonnenuntergang über Schönheit zu sagen vermag. Wer hier größeren Bedarf hat, möge es mit François Chengs Meditationen versuchen.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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