Peter Schlemihls wundersamer Autor

Zum 175. Todestag Adelbert von Chamissos

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

I.

Adelbert von Chamisso war einmal ein volkstümlicher Dichter. Einige seiner Gedichte und Balladen standen in Lesebüchern, vor allem Das Riesenspielzeug und Die alte Waschfrau. Sein Gedichtzyklus Frauenliebe und -leben ist nicht nur von Carl Loewe, sondern auch von Robert Schumann vertont worden. Peter Schlemihls wundersame Geschichte, sein noch immer bekanntestes Werk, ist schnell ein internationaler Erfolg geworden. 1814 zuerst erschienen, ist diese Erzählung unzählige Male wieder aufgelegt und schon früh ins Französische und Englische, Spanische und Italienische übersetzt worden. Bis heute verbindet sich Chamissos Name vor allem mit dieser teils realistischen, teils phantastischen Geschichte, die in Thomas Mann und Franz Kafka bewundernde Leser gefunden hat.

Im 20. Jahrhundert ist der Ruhm Chamissos jedoch nach und nach verblasst. Sein vielseitiges lyrisches Werk ist inzwischen weitgehend vergessen. Noch mehr gilt das für seine dramatischen Versuche und für seine Übersetzungen. Eine neue umfassende Ausgabe seiner Werke fehlt. Als Weltreisender und Wissenschaftler immerhin wird er gerade wiederentdeckt (vgl. die Rezension von Simone Schröder in dieser Ausgabe), wenngleich er noch nicht soviel Aufmerksamkeit erfahren hat wie vor einiger Zeit sein Zeitgenosse und Bekannter Alexander von Humboldt.

Chamisso war schon zu seiner Zeit ein Außenseiter in der deutschen Literatur, allerdings weniger durch den Beruf des Biologen, dem er im bürgerlichen Leben nachging, als durch seine Herkunft. 1781 als Louis-Charles-Adelaïde Chamissot de Boncourt in der Champagne geboren, musste er, während der Französischen Revolution, 1792 mit seiner Familie ins Exil. Nach Stationen in den Niederlanden und Deutschland fand sie schließlich in Preußen Zuflucht. Nachdem der junge Chamisso als Porzellanmaler zum Unterhalt der mittellosen Familie hatte beitragen müssen, wurde er Page am Hof der preußischen Königin Luise, danach Offizier, der durch die Befreiungskriege gegen Napoleon jedoch schnell in Gewissenskonflikte geriet. Er verließ die Armee, lebte eine Zeit lang ziellos, kehrte vorübergehend nach Frankreich zurück, schloss sich Germaine de Staël an, entschied sich jedoch nach einiger Zeit für ein Leben in Berlin und begann an der neugegründeten Universität Naturwissenschaften zu studieren. 1815 bis 1818 nahm er als Biologe an einer vom früheren russischen Außenminister finanzierten Expeditionsreise unter Otto von Kotzebue teil, einem Sohn des Dichters. Sie führte ihn über England nach Teneriffa, Südamerika, Kamtschatka, die Beringstraße, weiter nach Kalifornien, den Sandwich-Inseln, Manila und Russland. Mit dem Bemerkungen und Ansichten einer Entdeckungsreise überschriebenen, 1821 erschienenen Bericht über diese Reise erlangte er Ansehen als Wissenschaftler. Er wurde Kustos am Berliner Botanischen Garten, heiratete bürgerlich und starb am 21. August 1838, 57 Jahre alt, an Lungenkrebs.

Chamissos literarische Karriere verlief in drei großen Schüben. Peter Schlemihls wundersame Geschichte begründete seinen Ruf als Dichter, die Bemerkungen und Ansichten den als wissenschaftlichen Schriftsteller. Während Chamisso dem ersten Band wissenschaftlicher Prosa einen zweiten, das ungleich persönlichere Tagebuch seiner Weltreise, folgen ließ, hütete er sich, mit einer weiteren Geschichte seinen Ruhm als Erzähler zu gefährden. Lyrik schrieb er während dieser Zeit immer wieder – und immer wieder setzte er damit aus, selbstkritisch, wie er war. Erst durch die Gedichte, die er 1827 in den Anhang der zweiten Auflage des Schlemihl aufnahm, wurde er als Lyriker populär, vor allem mit Liebesliedern und Idyllen, Balladen und Erzählgedichten. Fast einhellig gelobt wird die formale Meisterschaft seiner Gedichte, fast ebenso oft getadelt ihre allerdings programmatische Deutlichkeit: Fast alle haben eine Botschaft, die dem Leser ausdrücklich mitgeteilt wird.

II.

Chamisso, der mit Friedrich de la Motte-Fouqué und E.T.A. Hoffmann, mit Karl August Varnhagen von Ense und dessen Frau Rahel befreundet war, wird meist der Berliner Romantik zugerechnet. Es ist aber schon gelegentlich bemerkt worden, dass er mehr noch als der deutschen der französischen Romantik nahestand. Sein großes Vorbild in den späteren Jahren war der Chansonier Pierre-Jean de Béranger, der für seine sozialkritischen Lieder bekannt geworden ist. Chamisso hat ihn zusammen mit Franz von Gaudy übersetzt und Themen und Stoffe von ihm für eigene Gedichte verwendet.

Diese Orientierung an einem französischen Autor ist für Chamisso kennzeichnend. Er war nicht nur in der französischen Literatur seit Rabelais ungewöhnlich belesen. Als Dichter hat er auch mit französischen Versen begonnen. Chamisso ist einer der ersten deutschen Dichter der Neuzeit, deren Muttersprache nicht Deutsch war – „ein Fremder, ein Ausländer“, wie Thomas Mann in seinem Essay über ihn geschrieben hat, der zwar „bis zuletzt seine Eingebungen laut auf französisch vor sich hinsprach, bevor er daran ging, sie in Verse zu gießen“, gleichwohl aber „deutsche Meisterdichtung“ schuf.[1] „Erstaunlich“ fand Thomas Mann, „daß das poetische Talent eines Ausländers im Erdreich der deutschen Sprache so glücklich Wurzeln zu schlagen vermochte“[2]. Doch sei, so weiter Thomas Mann, mittlerweile, „unter dem Druck einer allgemeinen Devotion vor der bindenden Macht des Blutes, der Fall Chamisso auch subjektiv kaum möglich“[3]. Nicht erst aus dem Abstand von 100 Jahren ist das ein bemerkenswertes Fehlurteil. Der ‚Fall Chamisso’ ist längst nicht – mehr – so ‚erstaunlich’, wie er Thomas Mann seinerzeit schien.

Eines der wichtigsten Zeugnisse des Nachruhms von Chamisso stellt der Preis dar, der nach ihm benannt worden ist. Die neuere Migranten-Literatur, die mit ihm ausgezeichnet wird, steht allerdings nicht in seiner Nachfolge (vgl. den Essay von Natalia Shchyhlevska in dieser Ausgabe). Chamisso hat keine literarischen Erben, nicht einmal nennenswerte Epigonen gefunden – schon gar nicht unter den deutschen Autoren türkischer, italienischer, polnischer, rumänischer, russischer oder israelischer Herkunft. Einer Literatur in seinem Namen werden sie vor allem zugeschlagen, weil sie mit ihm den Status des Migranten teilen, dessen Muttersprache eine andere als die deutsche ist. Darüber hinaus sind jedoch die Gemeinsamkeiten zwischen dem adeligen Exilanten des frühen 19. und den Kindern süd- und osteuropäischer Arbeitsmigranten des späten 20. Jahrhunderts begrenzt. Die Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die man mit Harald Weinrich gelegentlich, nicht ganz glücklich, als ‚Chamissos Enkel‘ bezeichnet hat, schreiben und denken nicht wie er.

Chamisso ist nicht der erste deutsche Schriftsteller gewesen, dessen Muttersprache nicht das Deutsche war. 1772, also 42 Jahre vor Peter Schlemihls wundersame Geschichte, erschienen anonym die Gedichte von einem pohlnischen Juden. Auch ihr Verfasser, Isachar Falkensohn Behr, war ein mehrsprachiger Migrant. Sein Lebensweg führte ihn von Litauen zum Medizinstudium nach Sachsen, später als Arzt zurück nach Polen und über Weißrussland in die Ukraine. Mit seinem Gedichtband ganz im Stil der Zeit[4] steht Falkensohn Behr am Anfang der deutsch-jüdischen Literatur. Wie er ist Chamisso ein deutscher Autor nicht-deutscher Herkunft, im Unterschied zu Falkensohn Behr ist er aber auch ein interkultureller Schriftsteller.

Wie kein anderer deutschsprachiger Schriftsteller seiner Zeit führte Chamisso nicht nur ein Leben zwischen den Sprachen und Kulturen. In seinem insgesamt zweisprachigen Werk ist auch ein seinerzeit singuläres Interesse an fremden Kulturen zu erkennen. Thomas Mann nannte ihn „befähigt, mit Kindern und Wilden gut Freund zu sein“[5]. Chamisso hatte schon als Franzose in Deutschland, was man heute als ‚interkulturelle Kompetenz’ bezeichnen würde. Er besaß nicht nur eine „außerordentliche […] Begabung für alle möglichen Sprachen, von der deutschen bis zur hawaiischen“[6], der er eine linguistische Abhandlung gewidmet hat. Auf seiner Weltreise hatte er auch Gelegenheit, diese interkulturelle Kompetenz auszubilden.

Sowohl das spätere Tagebuch der Reise wie die aus einzelnen Studien bestehenden Bemerkungen und Ansichten verraten, dass die Interessen des Botanikers Chamisso nicht auf die Biologie beschränkt blieben, vielmehr auch Geographie, Linguistik, Ethnologie, Anthropologie und Kultur-Anthropologie einschlossen. Immer wieder richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die ,Wilden‘, denen er begegnete – und die ihm keineswegs roh und unkultiviert erschienen. „Was […] der Indianer gemacht hat, wird nicht geschätzt“[7], stellte er lakonisch fest. Er selbst hat sich sehr wohl dafür interessiert. Nicht nur die Sprache, das Verhalten, die Lebensweise, die sozialen Ordnungen der Eingeborenen beschrieb er, auch ihre Lieder versuchte er festzuhalten.

Chamissos Weltreise hat seinen Ruf als Wissenschaftler begründet. Noch in seinem lyrischen Werk hat sie zahlreiche Spuren hinterlassen, etwa in seinen Versen In malaiischer Form oder in seiner Ballade Salas y Gomez. Eine kleine Abteilung in seinen Sonetten und Terzinen bilden drei Gedichte, die Indianern gelten: Der Stein der Mutter oder der Guahiba-Indianerin, Rede des alten Kriegers Bunte-Schlange im Rate der Creek-Indianer und Das Mordthal. Ihnen gemeinsam ist, dass sie, in heutiger Terminologie ausgedrückt, von Kulturkonflikten handeln: von Konflikten nämlich zwischen Indianern und Weißen. Dem Verständnis, ja der Sympathie für die Eingeborenen steht bei Chamisso die Verurteilung der weißen Eroberer gegenüber. Lange bevor eine politische Kritik des Kolonialismus ausformuliert wurde, hat er dazu erste Einsichten zusammengetragen. Genau vermerkt er etwa die wirtschaftliche Ausbeutung der Indianer durch Priester und Mönche auf den Philippinen, und ihre ,Umbildung‘[8] zu Spaniern auf den Maranen schildert er in wenigen, aber deutlichen Worten der Missbilligung.

III.

Als interkulturell interessierter Autor ist Chamisso neu zu entdecken – und das geschieht auch bereits. Zugleich ist er als ein deutschsprachiger Schriftsteller zu würdigen, der auch literarisch international dachte. Sein poetischer Horizont geht weit über die deutsche Literatur hinaus. Er hat u.a. aus dem Englischen, Dänischen und Französischen übersetzt, und seine Lyrik ist voll von Verweisen nicht nur auf die europäische Literatur. Hans Christian Andersens Lille Lise ved Brønden, Prosper Mérimées Mateo Falcone und Bérangers Ma Républic hat er neben vielen anderem nachgedichtet. Der Weltliteratur von Shakespeare bis Victor Hugo hat er Mottos, Motive und ganze Stoffe entnommen. Formen der malaiischen Volksliteratur sind in seinen Gedichten ebenso zu finden wie Formen der klassischen europäischen Literatur. Für Thomas Mann war er „in unserem Sprachbereich der meisterlichste Terzinenschmied“[9]. Tatsächlich hat keiner so virtuos wie Chamisso Erzählgedichte in Terzinen geschrieben. In diesem Sinn, dass er sich immer wieder auf andere als deutsche Literatur bezogen hat, ist er, ähnlich wie der von ihm verehrte Goethe, ein Autor der Weltliteratur.

Thomas Mann hat Chamisso als einen Bohemien mit Sehnsucht nach Bürgerlichkeit charakterisiert, die er am Ende seines Lebens als Beamter, Ehemann und Vater gefunden habe: „die alte, gute Geschichte“[10]. Mehr als ein Bohemien aber war Chamisso ein Emigrant, der lange nicht wusste, wohin er gehörte. Er musste seinen Weg zwischen Frankreich und Deutschland, Adel und Bürgertum, Literatur und Wissenschaft allein finden und hat dafür seine Zeit gebraucht. Seine Entscheidung für Berlin war aber weniger eine für Preußen, dessen Verwandlung in einen Militärstaat er schon früh kritisch beobachtete, als für deutsche Kultur in der Tradition der Aufklärung. Ihr fühlte er sich in seinem Schreiben wie in seinem Leben verpflichtet.

Chamisso weigerte sich nicht nur, während der Napoleonischen Herrschaft mit seiner Familie nach Frankreich zurückzugehen. Er schwor auch, nicht erst mit der bürgerlichen Heirat, seiner adeligen Herkunft ab. Er entwickelte sich, jenseits jeden Standesdünkels, politisch zu einem Liberalen, der über fast alles erstaunlich frei dachte – außer über die Rolle der Frau, die er denkbar traditionell begriff. Unübersehbar galt sein Mitleiden Außenseitern, Armen und Alten. Er war mit Juden befreundet, hat über Juden geschrieben, jüdische Stoffe aufgegriffen und seiner bekanntesten Figur einen jüdischen Nachnamen gegeben. Seit den 20er-Jahren schrieb er sozialkritische Lieder und Gedichte wie Der Invalide im Irrenhaus oder Der Bettler und sein Hund, die vielen als der Anfang der politischen Lyrik des Vormärz gelten. Sein Lied Die alte Waschfrau ließ er separat drucken und schenkte der porträtierten Alten den beträchtlichen Erlös.

Das einzig Gewisse im Leben sah Chamisso in der Veränderung. So wechselte auch er das Land, die Kultur, den Beruf, den Stand und blieb Neuerungen gegenüber aufgeschlossen, wiederum ähnlich wie Goethe sogar technischen. Sein weniger pathetisches als witziges Gedicht Das Dampfroß von 1830 steht am Beginn der deutschen Eisenbahn-Lyrik. Schon todkrank, unternahm Chamisso 1837 noch eine Zugfahrt und kaufte Eisenbahn-Aktien.

[1] Thomas Mann: Chamisso. In: Ders.: Gesammelte Werke in 12 Bänden. Band IX: Reden und Aufsätze 1. Frankfurt a. M. 1960, S. 35-57, hier S. 37.

[2] Ebd., S. 39.

[3] Ebd.

[4] Vgl. dazu Iasachar Falkensohn Behr: Gedichte von einem polnischen Juden. Mit einem Nachwort hg. von Andreas Wittbrodt. Göttingen 2002.

[5] Thomas Mann: Chamisso, S. 43.

[6] Ebd., S. 56.

[7] Chamissos Werke. Hg. von Hermann Tardel. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Leipzig o.J. (1907), Band 3, S. 385.

[8] Ebd., S. 396.

[9] Thomas Mann: Chamisso, S. 46.

[10] Ebd., S. 57.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz