Wider das arme paradiesische Leben

Über Oscar Peers Roman „Eva und Anton“

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine junge Frau, offenherzig, mitfühlend und dabei höchst selbstbewusst, dringt in ein Dorf der Alpen ein, sorgt für Fröhlichkeit und dann für geistige Unruhe unter den Bewohnern, lässt es zu, dass zwei Männer sich ihretwegen gegenseitig umbringen – und verschwindet nach sechs Monaten wieder. Es ist eine tiefsinnige Geschichte: über den Kampf gegen Lethargie, über die Einsicht, dass zum Menschsein auch alle extremen Gefühle gehören, von Liebe und grenzenlosem Verstehenwollen bis zu Hass und Zerstörungsdrang. Eva, so heißt die junge Frau, holt die Leute aus ihrer emotionalen Armut heraus, so wie – die Deutung bietet sich an – die Eva der Bibel durch ihre Lust an der verbotenen Frucht die Menschen befreit hat, nämlich aus dem spannungslosen Einerlei des paradiesischen Daseins.

Eva fragt bei allem nach: Sie will von den Kindheitserlebnissen der Leute hören, sie untersucht die Bienenvölker, und sie erkundigt sich, „wie viele Kühe im Tag“ der Zuchtstier „bespringen“ könne. Eva bemerkt die körperlichen Beschwerden ihrer Mitmenschen und schließt von ihnen auf die seelischen Nöte und spricht über diese Erkenntnisse.

Das Buch ist zweisprachig, es bietet seinen Text auf Rätoromanisch und auf Deutsch. Schlägt man es auf, sieht man auf der linken Seite den rätoromanischen Text, rechts den deutschen. Auch wer nicht Rätoromanisch kann (wer in Deutschland kann schon diese bemerkenswerte Sprache; ich nicht), aber sich auskennt in zwei, drei anderen romanischen Sprachen, findet eine Freude daran, forschende vergleichende Blicke auf die beiden Fassungen zu werfen. Die Fassungen entsprechen sich nicht eins zu eins, mal ist die eine ausführlicher, mal die andere. „Man weiß nicht einmal, was sie sonst noch treibt“, diese Aussage fehlt im rätoromanischen Teil; dagegen ist der Satz „Sie hatte schönes Haar“ in seinem rätoromanischen Pendant viel länger. Einmal erkenne ich, indem ich zusätzlich nach links sehe, einen Druckfehler im Deutschen: nicht „ihre“, sondern „Ihre Migräne“ muss es heißen. Interessanterweise ist der Titel im Rätoromanischen länger: „Eva ed il sonch Antoni“. „Il sonch Antoni“ ist „der heilige Anton“, wie man auf der zweiten Seite erfährt. Ich nehme an, der Autor Oscar Peer, der mindestens zweisprachig und von Beruf Romanist ist, hat an seinem Werk abwechselnd mal in der einen Sprache, mal in der anderen gearbeitet und hat dann den einen Absatz von dieser in jene Sprache, den anderen Absatz von jener in diese Sprache übertragen.

Bedenkt man dieses linguistische Hin und Her und die feinen Differenzen zwischen den Versionen, so ist der Roman auch ein Werk über Sprachen und Sprachfertigkeit. Dazu passt, dass im Laufe des Geschehens sehr viel gesprochen wird. Worte können „zuströmen“, heißt es einmal, und bezeichnend ist diese Stelle: „‚Eva’, sagte der Arzt zu ihr, ,man redet fast nur von Ihnen. Sie sind in aller Leute Munde.’“ Worauf sie ganz ruhig antwortete: ‚Das war ich schon immer.‘“

Anton oder Antoni ist der protestantische Pfarrer des Dorfes, ein engstirniger Mensch, der sich ein lethargisches und sündenloses Dorf wünscht und am Ende, umerzogen von Eva, entdeckt, welche bizarren Formen ein erfülltes Dasein annimmt. Das Leben in seiner Großartigkeit kann „Wonne oder Qual“ sein.

Bei aller Brisanz, das Wesen des Menschen betreffend, hat der Roman auch altmodische Züge. Er spielt in den 1940er-Jahren, das Dorfensemble ist noch eine abgeschlossene Welt, und manchmal regieren geradezu mittelalterliche Vorstellungen: Eva hat „Zauberhände“, denen augenscheinlich alles gelingt, und sie sagt: Ich weiß manchmal Dinge, „die ich eigentlich gar nicht wissen dürfte“. Es ist eindeutig so, dass der Roman Vergangenes erzählen will, und dieses Eintauchen in die Vergangenheit nimmt dem Roman etwas von seiner eigentlichen, seiner emanzipatorischen Kraft. Immer aber reißt die klare Erzählweise mit.

Und auch die hier vorgeführte Zweisprachigkeit fasziniert. Die erwähnten „Zauberhände“ Evas heißen auf Rätoromanisch „mans müravglius“. Und was heißt da „vollbrüstig“? Man schaut nach links und bemerkt: „cun bellas tettas“. Hört sich gut an.

Titelbild

Oscar Peer: Eva und Anton. Rätoromanisch und deutsch.
Herausgegeben von Mevina Puorger Pestalozzi.
Limmat Verlag, Zürich 2013.
220 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783857917059

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