Die letzte Leidenschaft

Hans Pleschinski setzt Thomas Mann in seinem Roman „Königsallee“ ein Denkmal

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Jahre nach seiner auch von literaturkritik.de gelobten Edition des Tagebuchs des Herzogs von Croÿ wartet Hans Pleschinski in diesem Jahr wieder mit einem neuen Roman auf. In „Königsallee“ entfaltet er ein reizvolles Spiel mit realweltlichen und literarischen Bezügen: Im August des Jahres 1954 befindet sich der inzwischen 79-jährige Thomas Mann mit seiner Frau Katia und der Tochter Erika auf einer Vortragsreise durch die noch junge Bundesrepublik, unter anderem, um aus seinem jüngsten Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil“ zu lesen. Der Zufall will es, dass sich der Weg des Nobelpreisträgers gerade im Hotel Breidenbacher Hof an der Düsseldorfer Königsallee mit dem Klaus Heusers kreuzt, der einst eine von Manns großen „Leidenschaften“ war und das Vorbild für den Joseph der „Josephs-Romane“ abgab. Im Roman ist Heuser zusammen mit seinem aus Indonesien stammenden Lebensgefährten nach langen Jahren in Ostasien für einen Besuch bei seiner Familie an den Niederrhein gereist. Die beiden nehmen sich ebenfalls ein Zimmer im Grand Hotel – das heißt eigentlich zwei Zimmer, denn etwas anderes ist in der Sittenwelt der westdeutschen 1950er-Jahre nicht zu denken. Um diese – fiktive – Konstellation spinnt Pleschinski seine Romanhandlung. Vor allem Erika Mann sucht eine Begegnung Heusers mit ihrem Vater zu verhindern, um dessen emotionales Gleichgewicht nicht zu gefährden.

Es ist der Autor selbst, der seinem Leser mitteilt, dass sein Roman, „soweit ich es erkunden konnte und es mir erforderlich schien, auf tatsächlichen Gegebenheiten“ beruhe. Diese ,Gegebenheiten‘ sind grundsätzlich keine Neuigkeiten für die Thomas-Mann-Forschung, obwohl Pleschinski bei seinen Recherchen auch auf Aufzeichnungen und Dokumente aus dem Nachlass des 1994 verstorbenen Klaus Heuser zurückgreifen konnte. Die tatsächliche Bekanntschaft des Sohnes von Werner Heuser, dem ersten Nachkriegsdirektor der Düsseldorfer Kunstakademie, ging auf einen Sommerurlaub der Familien Heuser und Mann auf Sylt im Jahr 1927 zurück. Bereits im Herbst desselben Jahres verbrachte der damals 17-jährige Heuser zwei Wochen im Haus der Manns in der Münchner Poschingerstraße – zur selben Zeit, da die Geschwister Erika und Klaus Mann zu ihrer ersten Weltreise aufbrachen, die sie später im Büchlein „Rundherum“ (1929 erschienen) schilderten. Die Bedeutung Heusers für die Gefühlswelt Thomas Manns blieb aber nicht auf das Jahr 1927 beschränkt. Am 22. September 1933 notierte er – womöglich voreilig – über Heuser in sein Tagebuch: „Nach menschlichem Ermessen war das meine letzte Leidenschaft, – und es war die glücklichste.“ Und während sich der realweltliche Heuser seiner Bedeutung für Thomas Mann zu dieser Zeit wohl nicht bewusst war, erkannte die Literaturwissenschaft auf Grundlage nicht zuletzt dieser und anderer Tagebuchaufzeichnungen Spuren der Mann’schen „Leidenschaft“ für Heuser etwa in den Josephs-Romanen oder auch im „Felix Krull“. Noch Manns letzte, 1953 erschienene und just in Düsseldorf angesiedelte Erzählung „Die Betrogene“ mag in der Beziehung der Rosalie von Tümmler zum weit jüngeren Ken Keaton Manns Empfindungen Heuser gegenüber auf literarischer Ebene spiegeln.

Pleschinski spielt mit diesen Allusionen. Für jeden Thomas-Mann-Kenner und überhaupt jeden, der an biografischen Zusammenhängen der Familie Mann Interesse findet, ist „Königsallee“ eine Fundgrube an Anspielungen und Wiedererkennbarem. Der Liftboy des Breidenbacher Hofs geht geradezu als eine Kopie des Felix Krull durch, er nennt sich selbst natürlich auch „Armand“. Und Pleschinskis Thomas Mann liegt morgens nach dem Aufwachen sinnierend im Bett wie Thomas Manns Goethe in „Lotte in Weimar“ (und das betreffende Kapitel in „Königsallee“ ist auch noch als „Das siebente Kapitel“ überschrieben). Jeder Satz des Romans scheint so selbst Zitat zu sein.

Thomas Manns Tagebuchaufzeichnungen aus dem August 1954 verraten, dass es das Wiedersehen Manns und Heusers in Düsseldorf nicht gegeben hat. Tatsächlich berichtet das Tagebuch nur, dass Mann auf dem Empfang im Anschluss an seine Düsseldorfer Lesung auf Heusers Eltern getroffen sei, die ihm von einer baldigen Rückkehr ihres Sohnes aus China berichtet hätten. Und: „Was von dieser Liebe unsterblich sind die Anfangssätze des Amphitryon-Aufsatzes.“ [sic] So ist es kaum verwunderlich, dass sich auch Thomas Manns Kleist-Essay aus dem Jahr 1927 im Roman mit seinen Anfangssätzen niederschlägt: „Was ist Treue? Sie ist Liebe, ohne zu sehen, der Sieg über ein verhaßtes Vergessen. Wir begegnen einem Angesicht, das wir lieben, und wir werden nach einiger Anschauung, während welcher unser Gefühl sich befestigt, wieder davon getrennt. Das Vergessen ist sicher, aller Trennungsschmerz ist nur Schmerz über sicheres Vergessen. Unsere sinnliche Einbildungskraft, unser Erinnerungsvermögen ist schwächer, als wir glauben möchten. Wir werden nicht mehr sehen und aufhören zu lieben. Was uns bleibt, ist nichts als die Gewißheit, daß jedes neue Zusammentreffen unserer Natur mit dieser Lebenserscheinung mit Sicherheit unser Gefühl erneuern, uns wieder, oder eigentlich immer noch, sie lieben lassen wird. Dies Wissen um das Gesetz unserer Natur und das Festhalten daran ist Treue. Sie ist Liebe, die vergessen mußte, warum; geglaubte Liebe, die sprechen darf, als sei sie am gewinnen, wenn sie sieht.“

Innerhalb des Romans steht naturgemäß der Besuch Thomas Manns in Düsseldorf im Mittelpunkt aller Aufregung. Für die Mitarbeiter des Hotels bedeutet das einigen Aufwand, denn man will dem berühmten Gast keinerlei Anlass für mögliche Beschwerden geben, renoviert daher aufwändig die Suiten für die Mann-Familie und schlägt sich mit einem prominenten begnadigten Kriegsverbrecher herum, der zur selben Zeit wie Mann im Hotel absteigen will. Auch die Stadtoberen, die dem Autor – nachdem er ausgerechnet in Köln schon groß aufgenommen worden war – einen repräsentativen Empfang bieten wollen, lavieren bei ihrer Begrüßung zwischen Vergangenheitsverdrängung, Vorbehalten gegenüber dem Emigranten und Achtung vor dem Hochberühmten am Rande eines Eklats. Dazwischen finden sich Klaus Heuser und sein Begleiter, die durch ihr bloßes Erscheinen im Umfeld westdeutscher Spießigkeit bereits für Aufsehen sorgen. Noch ehe Heuser selbst bemerkt, dass er sich im selben Hotel wie Mann befindet, geschweige denn, dass er sich über seine Bedeutung für diesen völlig klar wäre, wird er bereits zum Ziel dritter Interessen. Erika Mann bemerkt als erste seine Anwesenheit und bittet ihn bei aller Wiedersehensfreude dringlich, sich von ihrem Vater fernzuhalten. Mit Ernst Bertram und Golo Mann tritt weiteres Personal auf, das sich Heusers im eigenen Interesse bedienen will. Denn ihnen allen scheint das, was sich die Leser Manns und die Wissenschaft über Jahrzehnte erst erschließen mussten, in der Romanwelt des Jahres 1954 bereits vollständig transparent. Aus diesem Grund muss der Leser, mit Heuser leidend, mehrfach wahre Ergüsse an Erinnerungen über sich ergehen lassen. Das nimmt mit einem förmlichen Überfall Erika Manns in Heusers Hotelzimmer nur seinen Anfang, als sie ihn dort in einer langen Rede mit ihrer und der Geschichte ihrer Familie seit der Emigration überfährt.

Pleschinskis Roman ist nicht nur ein Denkmal für Thomas Mann in Düsseldorf, sondern auch eines für Klaus Heuser – sonst eine Randfigur der Mann-Geschichtsschreibung, einer unter mehreren in der Mann’schen „Galerie“ der Leidenschaften. Der Leser wird je nach Geschmack über den Anspielungsreichtum des Romans erfreut oder irritiert sein. Einen angesichts des beanspruchten Realitätsbezugs verblüffenden Fehler wie den, dass Pleschinski die Familie Heuser konsequent in einer Stadt namens Meerbusch ansiedelt, die es im Jahr 1954 noch gar nicht gab, mag man da übergehen. „Königsallee“ ruht auf einer sehr reizvollen Konstellation, die das Buch seinem Leser vor dem Hintergrund eines gelungenen Gemäldes der ebenso verstockten wie im Aufbruch begriffenen 50er-Jahre entwickelt, über denen allerorts noch der Schatten des Krieges und der NS-Verbrechen liegt. Dennoch wirkt der Roman wie überladen, durch Zitate und Anspielungen einerseits, aber auch durch einen damit vermittelten Anspruch, als wolle er sich an Thomas Mann messen. – Im Roman schleppen Golo Mann und Klaus Heuser dessen betrunkenen Begleiter Anwar an die Düsseldorfer Rheinpromenade. Dort bemerkt der sich vom Vater missachtet sehende Mann-Sohn: „In der Literatur […] hasse ich Szenen mit Alkohol. Prosten und Suff suggerieren oft nur eine Stimmung, hinter der sich nichts Nennenswertes verbirgt. Rausch ist der Folklorismus der Belletristik. Das Wesentliche gestaltet sich in einiger Klarheit. Der Rest gerät zu Gedröhn.“ Solcherlei Selbstironie wird im Zitatrausch des Romans nicht jeder Leser zu schätzen wissen.

Titelbild

Hans Pleschinski: Königsallee. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
393 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406653872

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch