Strukturen des Denkens

Kurt Flaschs Standardwerk ist auch in dritter Auflage eine anregende Lektüre

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fast drei Jahrzehnte sind seit der Erstauflage von Kurt Flaschs Studie „Das philosophische Denken im Mittelalter“ verstrichen. „Die Vergangenheit steht nicht still; ihr Bild verändert sich. Auch unsere Kenntnis von der Geschichte der Wissenschaften und des philosophischen Denkens bleibt, wenn es recht zugeht, im Fluss“ – diese Einleitung zum Vorwort der jüngst überarbeitet und erweitert vorgelegten dritten Auflage ist programmatisch. Denn einmal mehr belegt der Autor, warum sein „Lese- und Arbeitsbuch“ auch heute noch den Leser zum Mit- und Weiterdenken inspirieren kann.

Nun ist die Frage ‚Was ist Philosophie?‘ eine Herausforderung für prinzipiell jeden Menschen, der sein Sein in der Welt reflektiert. Halten wir uns an die poetisch-prägnante Formulierung eines der großen Denker unserer Zeit, Karl Jaspers: „Die Philosophie erblickt die höchsten Maßstäbe, den Sternenhimmel der Möglichkeiten und sucht im Licht des scheinbar Unmöglichen den Weg zum Adel des Menschen in der Erscheinung seines Daseins.“ Philosophie erklärte Jaspers zum äußersten, aber gewaltfreien Kampf um die Wahrheit. Sein Nachfolger in Heidelberg, Hans-Georg Gadamer, formulierte diesen Anspruch philosophischer Betätigung so: „Erfahrung von Wahrheit, die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt, überall aufzusuchen, wo sie begegnet und auf die ihr eigene Legitimation zu befragen.“ Damit war das Bewusstwerden der eigenen Bedingtheit und Verantwortung in einem andauernden Prozess des Verstehens zum Kernproblem erklärt.

Zwei aus dem größeren Kontext gelöste Beispiele, die doch zweierlei deutlich machen: 1. Philosophie geht in ihrem Anspruch jeden grundlegend an. 2. Daran anknüpfend: Erst das selbstkritisch reflektierende Auslegen eines (vergangenen) Anderen erlaubt das Sich-Verorten in einer Welt der Gegenwart. Philosophiegeschichte wird damit einerseits zu einem Interessensgebiet besonderen Ranges; andererseits werden Versuche solcher Geschichtsschreibung regelmäßig mit der Kritik konfrontiert, sich in der Jagd nach abstrakten Begrifflichkeiten zu verlieren. Es sei erlaubt, hier noch einmal den sprachgewaltigen Jaspers zu zitieren: „Das Wasser des Wissens wird erst zur geistigen Nahrung, wenn nicht nur der Verstand, sondern der Mensch selber da ist, der jenes Wissen denkend aneignet. Die reine Luft des Philosophierens wird zur Kraft nur durch die Wirklichkeit der Existenz, die in ihr atmend lebt.“

Diesen Anspruch wird man auch hinter Kurt Flaschs Darstellung des philosophischen Denkens im Mittelalter wirksam sehen dürfen: Sein Versuch des expliziten Verzichts auf den „Schulbegriff der Philosophie“ sowie seine methodische Zielsetzung, Denkstrukturen vom frühen bis ins späte Mittelalter anhand ausgewählter Primärtexte zu erhellen, ist in dieser Form grundsätzlich zu begrüßen. Und so wird man auch seiner einleitenden Feststellung zustimmen wollen: „Die Philosophie des Mittelalters war der Versuch Einzelner und ganzer Gruppen, sich in ihrem Leben denkend zu orientieren.“

Der Autor klammert somit das Wissen um eine soziokulturelle Realität der mittelalterlichen Menschen keinesfalls zugunsten einer Theorie mehr oder minder abstrakter Ideen aus, sondern gesteht einem solchen Kontext seinen wesentlichen Platz zu. Gekonnt werden damit – vereinfacht gesagt – Wechselwirkungen von geistiger und materieller Welt vor Augen geführt. Kommt diese Entscheidung auch einem breiteren Publikum fraglos entgegen, so sind die rund 700 Seiten (mit zusätzlich 120 Seiten Endnoten) doch nicht als bloßes Aggregat geschichtswissenschaftlicher Thesen misszuverstehen: „Das Studium der Verflechtungen einer geschichtlichen Welt mit den höchsten Ansprüchen menschlicher Theorie kann, denke ich, nicht ohne Rückwirkung auf unseren Begriff von Theorie überhaupt bleiben. […] Nicht indem wir die Denkoperationen der mittelalterlichen Metaphysiker in der Gegenwart fortzusetzen versuchen, sondern indem wir deren Fortgang historisierend unterbrechen, stellen wir uns der sachlichen Relevanz ihrer Argumente.“

Es geht dem Autor also, so verstehe ich ihn, um den Anstoß jenes wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins im reflektierenden Nachvollzug historischer Bedingtheiten, im Erkennen und Anerkennen des Anderen: „Im Anschluss wird man das Verhältnis von Theorie, Natur und Gesellschaft anders sehen können.“ Flaschs kritische Bemerkung, das Mittelalter sei dabei keinesfalls zum intellektuellen Rückzugsgebiet für Gegenwartskritiker zu stilisieren, weist das rechte Verständnis dieses Anspruchs und ist in solcher Deutlichkeit zu begrüßen.

Drei Großkapitel bietet das Buch – ‚Grundlegung der mittelalterlichen Philosophie‛, ‚Entwicklungsstadien der mittelalterlichen Philosophie‘, ‚Die neue Zeit‘ –, wobei besonders der zweite Teil mit seinem Blick von Karolingerzeit bis ins 15. Jahrhundert vielfach untergliedert ist. Der Anhang mit rund 20-seitiger Zeittafel sowie einem Register gleichen Umfangs erleichtert in Kombination mit dem übersichtlich strukturierten Inhaltsverzeichnis den Zugriff. Flasch motiviert seine Einteilung in Jahrhunderte mit dem Vorzug, „dass sie ohne wertende Ausdrücke wie ‚Hochscholastik‘ und ‚Spätscholastik‘ auskommt und die Gleichzeitigkeit des intellektuellen Lebens […] vor Augen stellt“, auch wenn er zeitgleich die potenzielle Gefahr allzu scharf erscheinender Zäsuren einräumt. Dem Leser kommt diese Strukturierung durchaus zugute, zumal das Sachregister auch ein thematisches Querlesen ermöglicht.

„Eine historisch eingebundene Geistesgeschichte großen Formats.“ Ohne den Begriff der ‚Geistesgeschichte‘ problematisieren zu wollen, darf man festhalten: Dieses auf dem Einband abgedruckte Zitat aus einer Rezension zur zweiten Auflage hat nach wie vor seine Gültigkeit. Die inhaltliche Wiedergabe auch nur der wichtigsten behandelten Stationen von Augustinus bis Luther würde den Rahmen einer Besprechung sprengen. So sei auf einige Charakteristika der Darstellung verwiesen. Da ist zunächst die Sprache: Flasch versteht es, komplexe Sachverhalte in verständliche Worte zu fassen, Fragen zu formulieren, Antworten zu finden und neuerlich zu fragen, getreu seinem Anspruch, das mittelalterliche Leben in seiner erfassbaren Vielfalt nicht aus den Augen zu verlieren – das Offenlegen solcher Bezüge kommt vor allem einer Leserschaft ohne Spezialwissen klar entgegen; zur Jahrtausendwende wurde Flasch für diesen ansprechenden Stil mit dem ‚Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa‘ ausgezeichnet. Im Blick auf ein breiteres Publikum wäre ergänzend allenfalls ein Glossar hilfreich gewesen, in dem Inhalte, Kontinuitäten und Entwicklungen einiger Kerntermini in aller Kürze hätten skizziert werden können.

Doch ist nicht nur erfrischend, wie der Autor vermittelt, sondern auch was er vermittelt. Die Fülle der gelieferten Informationen belegt eindrucksvoll eine profunde Kenntnis der Quellen, aber mehr noch wird in deren Auswahl, Verknüpfung und Bewertung deutlich, dass Flasch sich hier auf einem Gebiet bewegt, das ihn seit Jahrzehnten innig umtreibt. Dabei findet auch manch weniger bekannte mittelalterliche Denker vor Flasch Gehör – und damit hoffentlich verstärkt Eingang in künftige Diskussionen.

Den Disput fordert Flasch auch dann heraus, wenn er von etablierten Forschungsthesen durchaus einmal abweicht, wenn er deren potenzielle Schwachpunkte nicht despektierlich, aber doch pointiert vor Augen stellt. Hier wird nicht allein mittelalterliches Denken historisierend reflektiert, hier werden auch Denkstrukturen heutiger Forschung fruchtbar unterbrochen. Aus mediävistischer Sicht erfreut dabei, dass Flasch nicht müde wird, an geeigneter Stelle die generelle Vielfalt des Mittelalters zu betonen: Wirkt bis auf den heutigen Tag selbst bei manch etabliertem Forscher noch die Überzeugung eines mehr oder minder homogenen ‚Mittelalters‘ nach, so gewinnen demgegenüber doch Konzepte von Individualität und Ambiguität immer mehr an Gewicht. In manchem Fall hätte man sich eine Stellungnahme Flaschs noch kritischer wünschen können, doch stellt das vorliegende Werk nur einen so kleinen Ausschnitt aus dessen wissenschaftlichem Œuvre dar, dass man hier guten Gewissens auf zahlreiche weitere Publikationen zum Themenkomplex verweisen darf. Hervorzuheben ist schließlich auch die nähere Behandlung wichtiger Einflüsse der arabischen Welt auf das abendländische Denken (vor allem über den Anstoß der Aristoteles-Rezeption) – hier scheint es in der Mittelalterforschung bisher noch oftmals an einem konstruktiven Dialog zu mangeln; doch die anhängende Biografie eröffnet mit ihren zahlreichen thematisch anknüpfenden Titeln einen ersten Zugang zur Welt des ‚mittelalterlichen‘ Islam.

Ein kleiner Wermutstropfen zum Schluss: der Preis. Ist die zweite Auflage aus dem Jahr 2000 als Taschenbuch bei Reclam für 20 Euro erhältlich, schlägt die gebundene dritte Edition mit 40 Euro doppelt zu Buche. Zumindest dem studentischen Leser kommt das nicht entgegen. Doch kurzum: Kurt Flaschs eingangs formulierte Hoffnung, mit der dritten Auflage seiner Philosophiegeschichte des Mittelalters auch künftig ein hilfreiches Lese- und Arbeitsbuch vorlegen zu können, hat sich erfüllt. Stilsicher öffnet der Autor den Blick für neue Horizonte, die es für den Rezipienten zu erfahren und zu erweitern gilt. Ob interessierter Laie, Studierender oder Fachmann: Das Buch ist eine Einladung zum Nachdenken und Diskutieren, die niemand ausschlagen sollte.

Titelbild

Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli.
Reclam Verlag, Ditzingen 2013.
880 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783150109199

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